Mittwoch, 29. Dezember 2021

 

 

Das Bad Brains Konzert im Metropol

(Mein letzter Berlin-Trip vor der Maueröffnung)

In den Wochen vor der Maueröffnung war ich zum vierten und letzten Mal im alten Ost-Berlin. Wir fuhren mit der Mitfahrzentrale, die sich zu der Zeit noch im Königsweg in der Nähe der Kampfsportschule Tangun befand. Wir konnten da noch nicht ahnen, dass sich drei Wochen später die Welt verändern und die Mauer öffnen würde.


Wir quartierten uns für ein paar Tage bei Zosch ein, der inzwischen in der Utrechterstrada im Wedding wohnte.
Zosch, Steff und ich hatten uns schon wochenlang auf das Bad Brains Konzert gefreut. Zosch hatte bereits Tickets für uns mit bestellt. Sie lagen jetzt in seiner kleinen Wohnung im Wedding für uns bereit.
Wir wollten unbedingt an einem Nachmittag nach Ostberlin rüber um Bücher und Platten zu kaufen. Das war genau an dem Tag als Erich Honnecker zurücktrat. Wir hatten noch am frühen Nachmittag bei der Landesbank B. „illegal“ Geld getauscht. Scheißegal. Der Kurs war an diesem Tag 1 zu 14. Für zehn Westmark gab es 140 Ostmark. Als wir die Landesbankfiliale betraten, sagte Zosch 
      „"Es ist ja nicht mehr erlaubt, in Berlin mit einem Motorradhelm Bankfilialen zu betreten. Da wird neuerdings sofort Alarm ausgelöst.“
      „"Einige nehmen den Helm ja erst während des Gehens ab.“
    Zu dritt nahmen wir den Grenzübergang Bornholmer Straße, wo wir den Zwangsumtausch von 25 DM pro Person bar zahlen mussten im Tausch gegen 25-Ostmark. Dass wir das schwarz getauschte Geld importierten, war eine Straftat. Es hätte deshalb Probleme geben können.
     Wir erlebten hier einen wirklich tollen Nachmittag. Zum Abend hin wurde es feucht-fröhlich.
Als wir durch Ostberlin liefen, hielt plötzlich ein Fahrradfahrer und sprach uns an:
      „"Vielleicht können wir ja bald auch mal zu euch rüber kommen und euch im Westen besuchen?“
Er hatte währenddessen das Fahrrad zwischen seine Beinen geklemmt und wirkte kurz angebunden. Der Mann wurde unruhig, stieg gleich wieder auf um weiter zu fahren, als hätte er plötzlich Verfolgungswahn.
      Wir waren schon ziemlich besoffen als wir uns entschlossen, mit unseren Einkaufstüten den Weg zurück zum Grenzübergang Bornholmer Straße zu bestreiten. Wir hatten uns jede Menge Bücher und Schallplatten in Ostberlin gekauft. Die Schallplatten kaufen wir an einem Plattenladen indirekter Nähe zum Alexanderplatz. Ich kaufte mir unter anderem eine Platte mit sibirische Volksmusik, eine Doppel LP mit Beiträgen für das Festival des politischen Liedes, sowie eine LP mit Vogelstimmen. An Büchern kaufte ich von Marx die „Kritik der politischen Ökonomie“, von Engels „Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen“, ein Buch über die Krakauer Avandgarde mit dem Titel „Der Mensch in den Dingen“ und eine Sammlung mit Stücken von John Paul Satre, erschienen bei Reclam Leipzig. Das restliche Geld brachten wir in einer Kneipe durch.
      Als wir nun stark betrunken am Grenzübergang Bornholmer Straße eintrafen, mussten wir noch über den Mauerstreifen und durch die Grenzkontrolle. Es war längst dunkel zu der Uhrzeit, nach 21 Uhr. Die Scheinwerfer an den Grenzanlagen wirkten wirklich bedrohlich. Das künstliche Licht blendete wie ein Blick ins Flutlicht auf dem heimischen Grandplatz. Von der Farbe Grau-Schwarz passte es auch. Überall hingen Unmengen an nagelneuem Stacheldraht.
      Unter freiem Himmel mit viel Flutlicht mussten wir erst den Fußweg über den Grenzstreifen nehmen. Rechts neben uns stand einer dieser typischen Wachtürme. Plötzlich kam ein uniformierter Grenzsoldat ans Geländer des Wachturms gestürzt, anscheinend ein Offizier in seiner grauen Uniform der Grenzarmee mit einer grauen schachtelartigen Militärmütze. Allein das war schon traumatisch. Jetzt fing dieser wichtige und übergewichtige fleischige Typ mit seinem hochroten Kopf auch noch an uns von oben herab auszuschimpfen:
     „"Wie lauft ihr denn überhaupt herum. Könnt ihr euch keine anständige Kleidung leisten? Und so betretet ihr die Deutsche Demokratische Republik?“
Besoffen wie ich war, gab ich ihm gleich Kontra.
„      "Was beleidigen sie uns denn so? Meinen Sie mit ihrer alten Uniform sehen viel besser aus?“,
schrie ich mutig die zehn Meter zu dem aufgedunsenen Uniformträger hoch. Da packte Zosch mich gleich am Ärmel und zog mich weg vom Ort des Wortgefechts, zog mich weiter in Richtung der anstehenden Grenzkontrolle. Der Wachsoldat auf seinem Betonwachtturm rief uns noch irgendwas hinterher, wahrscheinlich irgendeinen Fluch. Schweigsam und in fast panische Angst gelangten wir zur Grenzkontrolle, die in einem kleinen Pavillon stattfand. Wir hatten panische Angst da wir pro Person Waren im Wert von über 100 DDR-Mark bei uns trugen. Steff sagte noch
     „"Oh Gott, das checken die, dass das mehr als der Zwangsumtausch ist.“
      Wir drei überlegten kurz, die Einkaufstüten einfach irgendwo auf dem Todesstreifen abzustellen. Doch beim Grenzsoldaten mussten wir lediglich unsere Reisepässe vorzeigen. Der junge Uniformierte schien sogar ein wenig erheitert, als hätte er den Terz gerade eben mit seinem Dienstkameraden mitbekommen. Er sah oder roch sicherlich, dass wir betrunken waren, denn wir hatten eine ziemliche Alkoholfahne. Ohne weitere Umstände durften wir passieren, eierten aus dem Kontrollpavillon und befanden uns mit dem nächsten Schritt in Westberlin, im Bezirk Wedding.
      Als wir jetzt durch den Wedding liefen, auch durch die die Müllerstraße, sahen wir in den Schaufenstern der TV-Händler auf den unzähligen Bildschirmen überall das Konterfei von Erich Honecker.
      „"Guck mal, auf allen Bildschirmen ist Honecker zu sehen. Da muss irgendetwas passiert sein.“
      „"Oh, ist Honecker Tod?“
Später checkten wir, dass Honecker an diesem Tag zurückgetreten war.
     Auch in der Folgezeit sammelten wir weitere beklemmende Eindrücke aus der geteilten Stadt. Mit das schrecklichste in Berlin waren die Geisterbahnhöfe, die einige U-Bahnen während der Fahrt immer wieder passierten. Das waren U-Bahnhöfe, die aufgrund der Teilung der Stadt nicht angefahren werden durften. Hier zischte die U-Bahn einfach durch. Diese verlassene Bahnhöfe wirken grau und verstaubt und irgendwie ausgestorben. Sogar die alten Schilder waren abmontiert oder schimmerten durch Dreck. Es brannte aber immer noch so viel Licht, dass du den Bahnhof überblicken konntest.
      Groß waren immer die Momente, wenn vorbestellte Konzert-Tickets aus dem Umschlag geholt wurden und an die anderen verteilt wurden. So war es auch mit unseren Bad Brains -Tickets.
      Das Konzert sollte im Metropol am Nöllendorfplatz stattfinden. Das Konzert fand genau einen Tag nach dem Honnecker-Rücktritt statt, der von seinem Nachfolge Kreuz als DDR-Staatschef abgelöst wurdet. Die Vorband Jingo De Lunch aus Berlin galt zu der Zeit als beste deutsche Punkband. Die Sängerin sang Englisch. Der Saal bebte. Wir kannten die erste LP bereits. Jetzt sahen wir sie live und es haute uns um.
Als plötzlich der Massen-Pogo beim Bad Brains-Konzert losbrach, hatten alle im Pogo-Pulk einen freien Oberkörper. Und das im Oktober. Es ging so krass ab wie wir es von Aufnahmen von den derbsten Hardcore Veranstaltungen aus den USA kannten mit Stagediving, Crowdsurfing und krassen Pogo-Mob. Wir waren halt in Berlin und nicht in Kiel.
Als schließlich der Song “Sailing on“ lief, brachen alle Dämme und der Massen-Pogo eskalierte. Da stürzte auch ich in den Massenpogo und trug dabei noch meine enge Lederjacke. Als ich mich rücksichtslos in den Pogo-Mob stürzte, poste ich wie ein Irrer, wurde mit der Pogo-Meute getrieben, bis ich ein paar Songs später wieder bei meinen zwei Kumpels landete, die auf der linken Seite am Rande des Pulks standen. Das reichte mir auch an Pogo für den Abend. Ich war erschöpft genug und eh nur ein Pseudo. Und ich fühlte mich wie nach einem 500-Meter-Sprint unter Doping-Einfluss. Das Konzert war atemberaubend. Später behauptete ein Berliner Punk mir gegenüber, dass der standardmäßige Sänger der Bad Brains HR an diesem Tag krank war und ein Ersatzsänger einspringen musste. Die Behauptungen konnten wir bis auf den heutigen Tag nicht eindeutig klären.
      Als wir am nächsten Morgen bei Zosch frühstücken, der Rote hatte extra eine große Tüte voll Brötchen besorgt, schalteten wir einen lokalen Fernsehsender ein, sowas wie TV-Berlin oder was auch immer. Plötzlich lief ein Bericht über das Jingo de Lunch und Bad Brains Konzert vom Vorabend. Wir waren schier außer uns, als wir einen Kameraschwenk von schräg oben durch das gesamte Metropol sahen, bis die Kamera  plötzlich das Zentrum des Pogos fokussierte. Genau in diesem Moment sahen wir wie eine Person mit einem kurzen, breiten Iro und einer Lederjacke in den Pogo-Mob stürmte, bei dem alle einen freien Oberkörper trugen. Der Punk in der Lederjacke bockte auf seinen Vordermann auf. Da war uns klar, dass der vereinzelte Lederjackenträger im Pulk nur ich gewesen sein konnte. Ich war mächtig stolz und fühlte mich für ein paar Augenblicke nicht mehr als Pseudo. 
      „"Das in der Lederjacke da ist Shelter. Siehst du ihn?“
      „"Ja, das bin ich. Supergeil.“
Wir freuten uns mal wieder wie die Schneekönige, dass unser Konzertbesuch obendrein im westberliner Regionalfernsehen dokumentiert war, und dass wir mich dort im Pogo-Mob identifizierten.
      Wir soffen bei Zosch die Tage wie die Wahnsinnigen, hatten wie gewohnt Wodka und Bier am Start. Zosch trank auch Cidre. Als wir abends noch los wollten, stellte ich die leere Wodkaflasche auf ein Regal oberhalb seiner Matratze die auf dem Boden lag. Ich stellte die Wodkaflasche so auf den Rand des Regals, dass fast 50% der Standfläche über die Kante des Regals hinausragten, sodass sie sicher bald herunter gepurzelt wäre, wenn wir weiterhin laute Musik gehört hätten. Ich hatte halt zu der Zeit sehr viel Unfug im Kopf. Wir hörten an dem Abend Bands wie Thatcher on Acid und Chumbawamba, aber auch ruhige Sachen wie Nikki Sudden & Rowland S. Howard mit Kiss You Kidnapped Charabanc sowie eine LP der 10,000 Maniacs, auf die Bosch so abfuhr. Er war halt interllecktuell.
      Schließlich wollten wir auf unseren Berlin Trip noch zum Wannsee fahren. Ein Spaziergang im Strandbereich des Sees stand auf dem Plan,  zumal der See im Südwesten Berlins in den 80ern vor allem durch den Kult-Film „Am Wannsee ist der Teufel“ bekannt geworden war. In dem Film spielte sogar ein kleines Grüppchen Punks mit, die in vertrauter Weise punk-style berlinerten. Deshalb wollten wir auch mal zum Wannsee, obwohl wir bereits Oktober hatten.
      Zu der Zeit war das S-Bahn surfen in aller Munde. Es gab wieder und wieder Fernsehberichte über die Waghalsigkeit und Todesfälle durchs S- und U-Bahnsurfen, und es wurde eindringlich davor gewarnt. Es war eine lebensgefährlicher, weltweiter Trend, der in kurzer Zeit unzählige Todesopfer gefordert hatte. Automatisch unterhielten wir uns auf der Fahrt über diesen gefährlichen Trend des S-Bahnsurfens, bis ich plötzlich mal wieder einen Ausraster hatte und zur nächsten Tür des S-Bahnwaggons rannte.
Zosch schrie noch
      „"Hör auf. Bloß nicht!“
Doch da riss ich bereits die Tür auf, während die Bahn mit Hochgeschwindigkeit immer geradeaus fuhr. Ich lehnte mich rückwärts aus dem Wagon und hielt mich an den Außengriffen der zwei Schiebetüren fest. Selbst das hätte schon schlimm enden können, denn ich konnte die Kräfte nicht einschätzen, die dort wirkten. Meine Surfaktion war natürlich nicht so spektakulär und waghalsig, wie man jetzt denken könnte. Ich kletterte natürlich nicht am Außengehäuse der S-Bahn entlang, wie die Hardcore-S-Bahnsurfer es taten, die sich im Extremfall iin gehockter Position am Rahmen eines aufgeklappten Seitenfensters festhielten und so seitlich am Wagon über längere Strecken mitfuhren und im Extremfall auch aufs Dach der S-Bahn kletterten. Sie schlossen auch die Schiebetüren von außen, sodass die beiden Schiebegriffe direkt nebeneinander lagen. Da brauchte nur eine Brücke oder ein Tunnel zu kommen oder eine entgegenkommende Bahn, um das Surfen mit dem Exitus zu beenden. Es wurde immer wieder in kurzen Zeitungsberichten über die vielen Todesfälle berichtet. Es war ein gefährliches Metier, dass den jungen Leuten Spaß brachte. Die Leute kamen teils aus der Hardcore-Szene, teils aus dem Hip-Hop und Grafitti-Bereich. Viele verloren einfach den Halt, überschätzten sich oder rutschten ab. Oder die greifenden Hände hielten die Kräfte nicht aus. Diese Gefahr spürte auch ich, als ich mich die paar Sekunden rückwärts aus der geöffneten Tür des S-Bahnwagon lehnte. Ich stand mit der Sohle der Boots halb auf dem Eingangstrittbrett wie auf einem Kantstein. Doch es gab unkalkulierbare Kräfte, und es bestand die Gefahr, dass sich die Tür während der Fahrt bei einem Ruckeln oder bei plötzlichen Geschwindigkeitsveränderung schloss, während ich draußen baumelte, oder dass ich mit den Boots abrutschte. Außerdem wirkte meine enge Lederjacke für solche Wagnisse ungeeignet, ebenso wie meine schwarzen Doc Martens 8-Loch mit relativ glatter Sohle. Turnschuhe wären einfach das bessere Schuhwerk fürs S-Bahnsurfen.  Das erkannte ich sofort. Aber ich lehnte mich ja lediglich aus der geöffneten Tür und genoss den Fahrtwind und den Kick. Ich bekam eine Sturmfrisur.
Meine zwei Kumpels flippten fast aus und schrien laut
      „"Bist du wahnsinnig? Komm von der Tür weg.“
      „"Komm wieder rein!“
Das beherzigte ich sogleich und hiefte mich wieder in den Wagon, was gar nicht so einfach war. Ich zog die Schiebetür hinter mir zu, was sonst erst nach Verlassen der nächsten Haltestelle automatisch geschehen wäre. Meine zwei Kumpels redeten pädagogisch auf mich ein.
      „"Das machst du aber nie wieder. Das ist einfach zu gefährlich.“
Ich sah ein, dass das vollkommen idiotisch von mir war. Der Vorfall ereignete sich auf der langen Strecke der S-Bahn zwischen Grunewald und Nikolassee, wo die S-Bahn kilometerweit geradeaus durch begrünte Bereiche fuhr. Meine Kumpels waren beunruhigt. Sie sahen sich bestätigt, dass es in mir nicht richtig tickte. Das war auch zu krass von mir. Das muss ich ehrlich zugeben. Ich wusste wieder mal nicht, was mich da geritten hatte. Deshalb an dieser Stelle mein dringlicher Appell an meine Leser*innen, diesen Wahnsinn nicht nachzuahmen.
      Hier im Wedding aß ich zum ersten Mal in meinem Leben eine Falafel, in einem arabischen Imbiss in der Utrechterstrada. Ansonsten tanzten wir die Nächte im Trash in Kreuzberg, wir tanzten im Rocket in Neukölln. Überall wurde der neue Song von Abwärts „Alkohol“ gespielt, ebenso Songs von der zweiten Bad Brains, Sachen von Fugazi, meistens “Waiting Room“ und Bad Religion. Wir tranken Kaffee im Tax Moon und im Schwarzen Café. Wir flipperten irgendwo und spielten Billard. Wir hatten ein paar geile Tage.
Am letzten Abend, bevor Steff und ich wieder mit der Mitfahrzentrale nach Kiel fuhren, nahm ich mit Zoschs Radiorekorder eine Sendung der John Peel Show auf, die in ganz Berlin ohne Rauschen zu empfangen war. Ich weiß bis auf den heutigen Tag nicht, ob die Sendung im Westen ausgestrahlt wurde, also vom BFBS, oder im Osten von Radio DT-64. Ich habe die Aufnahme noch in einem großen Karton voll mit John-Peel Radio-Mitschnitten. Wir kamen komplikationslos durch die Grenzkontrollen und über die Transitstrecke.











 

Mittwoch, 11. August 2021

More PSEUDO - Der pissgelbe Punkroman


Das Warten hat ein Ende.
Der Pissgelbe Punkroman ist da.
Während des ersten Lockdowns
in 2020 angefangen, konnte ich den
Punkroman "More PSEUDO"
jetzt endlich fertigstellen.



 



Hier ein Auszug:



Kapitel: Straight Edge statt Untergang?


"Konzerte die das Leben veränderten“ 


(Die Europa-Tour von Youth of Today und Lethal Aggression; Konzertabend am 9. Februar 1989 in der alten Meierei Kiel) 


Jetzt sollten Youth of Today und Lethal Aggression in der Alten Meierei spielen. Zwar gingen diese zwei US-Bands gemeinsam auf Europatour, doch widersprüchlicher konnte eine Bandzusammensetzung für einen Abend nicht sein. Während Youth of Today als Straight Edge Band galten, also nein zu Alkohol und Drogen sagten, war bei Lethal Aggression das genaue Gegenteil der Fall. Diese Konstellation war anscheinend so gewollt, damit diese Tour möglichst kontrovers diskutiert wurde und größtmögliche Widersprüche aufwarf. So dachten wir. Doch später sollte sich herausstellen, dass da ganz knallhart kommerzielle Gründe dahintersteckten. Auch wir diskutierten intensiv und kamen selbst Jahre später wieder auf diesen Konzertabend zurück. Die Materie Straight Edge beschäftigte uns schon länger, zumal Minor Threat das Thema publik machten und wir in der Vergangenheit alle teils ausufernde Alkoholprobleme hatten, allerdings nur marginale Drogenprobleme. Zwei aus der Clique mussten Alkoholtherapien bestreiten, die nur in einem Fall erfolgreich verliefen, jedoch trotzdem nicht zum erhofften Ziel. Denn was nützt dir eine Alkohol- oder Drogentherapie, wenn du danach arbeitslos oder perspektivlos herum vegetierst. Jetzt hatten die Tour-Veranstalter diese zwei absolut gegensätzlichen Bands zusammengewürfelt. Youth of Today warb mit Straight Edge und propagierte Vegetarismus. Die Band reformierte die Straight Edge Bewe-gung. Lethal Aggression hingegen verstanden ihre Musik nicht als Hardcore sondern als Drug-core. Sie waren von ihrer Lebenseinstellung so ziemlich das Gegenteil von Youth of Today. Die eine Band lebte diszipliniert, die andere ließ die Sau raus mit möglichst viel Party und Drogenexzessen. In der Pause zwischen den beiden Bands standen wir baff draußen. Die Gegensätze wurden uns jetzt erst so richtig klar, sie waren beklemmend und befreiend zugleich. Wir diskutierten ein paar Minuten in der Kälte vor dem Haupteingang der Konzerthalle, aber waren trotzdem aggressiv. Wir fragten uns, weshalb ausgerechnet diese gegensätzlichen Bands in eine Tüte gesteckt wurden. Das Fanzine Trust nannte die Tour der zwei Bands „das unmöglichste Package aller Zeiten“. Im Fanzine Kabeljau hieß es: „Die Zusammenstellung war schon recht dubios.“ Fast jeder sah das Thema Straight Edge anders. Für einige galten Trinkpausen als Straight Edge Phase. Also demnach konnte man zwei Wochen Straight Edge leben, um danach wieder voll durchzustarten. Ich verstand unter Straight Edge Totalverzicht auf Alkohol und Drogen. Rauchen wäre demnach akzeptabel und auch Fleisch. Doch andere definierten Straight Edge sehr viel radikaler, sodass selbst Rauchen und Fleisch inakzeptabel waren. Bloß beim Thema Sex schieden sich die Geister nicht, denn da durften alle Fraktionen voll Gummi geben. Das Thema Straight Edge wurde langsam aber sicher zum Dauerbrenner, und wir waren auf diese Diskussionen angewiesen. Temporär ging es nur noch um Straight Edge-Diskussionen und darum andere zu schelten, die zu viel soffen oder Drogen konsumierten. Einige Fragen standen bei jedem Treffen auf der Tagesordnung: „Bist du jetzt Straight Edge oder was?“ oder „Ist H. noch Straight Edge oder trinkt er wieder?“ Da konnten wir nicht anders als diskutieren. Allerdings konnten auch von der anderen Seite Vorwürfe geäußert werden. Und die Leute, die am meisten soffen, hielten am radikalsten entgegen: „

"Alter, willst du uns bekehren? Hör bloß auf zu predigen.“ „

"Du isolierst dich total, wenn du nicht mehr trinkst.“ „

"Der ist ja bis zur Unkenntlichkeit ausgenüchtert.“ 

Neuerdings fiel es gleich auf, wenn Leute Verzicht übten, doch sie wurden nicht mehr so krass gegängelt und als Schwachmänner bezeichnet, nur weil sie den Alkohol stehen ließen. Denn es existierte jetzt immerhin ein PunkGenre, bei dem Alkohol keine Rolle spielte. Immer, wenn wir über Straight Edge sprachen, war es im Prinzip schon wieder zu spät, denn bald Griff der erste aus Frustration bereits wieder zur Flasche mit der Begründung: „Nüchtern lässt sich das alles sowieso nicht aushalten.“ Das Konzert von Youth of Today und Lethal Aggression war wohl das letzte Konzert, bei dem wir mit unserer kleinen Saufklicke etwas gemeinsam unternahmen. Danach stritten wir immer wieder über Belanglosigkeiten und lebten uns so ziemlich auseinander. Das war zu der Zeit, als Entscheidungen anstanden wie Verweigerung, Zivildienst ja nein, Schule zu Ende bringen, Studieren, einen Beruf ergreifen. Das war eine krasse Umbruchphase. Die einen fingen mit Zivildienst oder Studium an, andere versackten. Als schließlich der letzte mit seinem Zivildienst, Wehrdienst oder was auch immer durch war, hatten wir uns so ziemlich auseinandergelebt, pünktlich zum Ende der 80er. Für die meisten 82er-Punks war Straight Edge kein Thema. Schon eher für Leute aus der Peripherie der Punkszene, die etwas Kreatives machten oder Sport trieben. Das Konzert war der Untergang des Hardcore, wie wir ihn kannten. Es war nicht nur eine Kopfnuss, es war sogar eine Bombe, die hochging. Der Auftritt dieser beiden Bands war mein bis dato härtestes Meierei-Konzert, obwohl wir dort schon so einiges erlebt hatten. Auch in Hamburg in Läden wie Fabrik, Markthalle, Molotow oder Knopf‘s Music Hall wurde uns nichts geschenkt. Wir sollten nie wieder so intensiv im Vorfeld und in der Folgezeit eines Konzertes über einen Konzertabend diskutieren. Denn endlich standen die Themen Alkoholverzicht, Drogenverzicht, Straight Edge, Fasten, Vegetarismus und gesundes Leben auf der Agenda, was für uns zuvor nahezu eine Terra incognita war. Klar gab es viele Konzerte, die unvergessen blieben. Doch bei diesem Konzert ging es um die Lebenseinstellung und das Pro und Contra zu Drogen und das Ja oder Nein zu Straight Edge und ein gesünderes Leben als das bisherige, das ohnehin nicht so weitergehen konnte. Allerdings klingelte es beim Tour-Veranstalter und den Platten-Labels ordentlich in der Kasse. Das war der Widerspruch. Zum Glück wurde den meisten aus meinem direkten Umfeld die Gnade der ausgebliebenen schweren Drogensucht zuteil. Wir sahen die Junkies wie die Fliegen sterben. Wir sahen die Drunkies verrohen und in Schieflage geraten. Wir sahen Leute nach Suchtproblemen rechtsradikal werden. Wir sahen die Superkriminellen durchstarten und größtenteils auf die Fresse fallen. Wir lernten die skrupellosen Dealer hassen. Wir lernten die Brutalos stilvoll zu meiden. Bald erkannten die ersten, dass die Helden auf Drogen gar keine Helden waren. Fast jeder versuchte mal eine Zeit lang Straight Edge zu leben. Einige waren „hier mal ‘n beten Straight Edge“ und „da mal ‘n beten Straight Edge“. Das brachte gar nichts, ganz im Gegenteil, es konnte zermürben. Wieder andere befürchteten, Straight Edge hätte etwas mit sozialer Isolation und Vereinsamung zu tun und führe in Trinker-Domänen nur zu unnötigem Streit. Glücklich schienen die, die einen Mittelweg fanden, also bei wenig Alkohol blieben und ihre Grenzen kannten. Das schien ein guter Kompromiss zu sein. Doch das war fast unmöglich und pendelte sich erst ein, wenn genug Negativerfahrungen gesammelt waren – oder auch nicht – und die Lebensumstände stabil waren. Leute aus der Punkszene, die langfristig auf Straight Edge blieben, waren uns zu der Zeit nicht bekannt. Aber das Genre war ja noch vergleichsweise jung. Später kam ein Video zu dieser Tour raus, auf dem mysteriöserweise nur Konzertausschnitte von Youth of Today zu sehen waren, aber nicht von Lethal Aggression. Dabei waren doch beide Bands gleichrangig auf Tour gegangen. Das war weiterer Sprengstoff.



Freitag, 26. März 2021


MORE PSEUDO 


Das Razzia-Konzert in Kiel? 

(Gegendarstellung zum Kapitel aus PSEUDO 1: „Ein Punkkonzert zur Kieler Woche“) 




Ich dachte ja viele Jahre, mein erstes Punkkonzert sei Beton Combo in einer leergeräumten Privatwohnung in der Harmsstraße gewesen. Das stellte sich später als Trugschluss heraus. Mein erstes Konzert war Razzia. Es fand nicht in der Harmsstraße statt, wie ich es jahrelang  dachte, sondern in der Straße Fleethörn zwischen Hiroshimapark und Knooper Weg in einem Hinterhaus auf dem Hinterhof. Ich war zu dem Konzertabend sturzbetrunken erschienen und weiß nicht mehr wer mich zu der Veranstaltung mitgenommen hat. Ich bin mir aber sicher, dass ich nicht alleine zu dem Konzert ging, sondern dass wir mit einem Grüppchen Teenage Punks dort aufschlugen, wahrscheinlich mit den Wiker Punks. Entweder hatte mir jemand absichtlich einen falschen Bandnamen genannt, oder die anderen Punks wussten es selbst nicht, oder waren zu besoffen, oder wurden selbst abgelinkt oder falsch informiert, was den Bandnamen betraf. Vielleicht dachte wieder jemand: „Dem Pseudo erzählen wir mal sonst was, damit er denkt er ist auf dem falschen Konzert.“ Viele Jahre des Alkoholmissbrauchs und weitere Undiszipliniertheit sowie eine ungeordnete Lebenshaltung und Scheißegalmentalität ließen mich über viele Jahre felsenfest glauben, dass mein erstes Live-Konzert der Auftritt der Westberliner Punkband Beton Combo war. Als ich später die Chance erhielt ein Bandmitglied von Beton Combo nach dem Konzert in Kiel zu fragen, sagte der Mann mir: „Kann mich nur noch dunkel erinnern.“ Daraus schloss ich wiederum, dass ich auf dem falschen Dampfer war. Deshalb entstand der Verdacht, dass Beton Combo nie in Kiel gespielt haben. Ich rätselte weiter, wie dieser Irrtum zustande kommen konnte und fragte nach all den Jahren ein paar Leute von früher in Kiel. „Sag mal, weißt du welche Band damals zur Kieler Woche in Kiel in der Harmstraße gespielt hat? Ich dachte immer, das waren Beton Combo.“ Da behauptete einer der alten Punks felsenfest, „Das muss hundertpro Hass gewesen sein.“ Ein anderer Punk behauptete, „Das waren Blut + Eisen aus Hannover!“ Es herrschte stärkste Verwirrung unter den Ex-Punks und den ehemaligen Nachwuchspunks, die inzwischen ihrerseits zu Altpunks herangealtert oder vollkommen aus der Punkszene ausgestiegen waren. Einige der alten Punks waren bereits tot und konnten kein besseres Zeugnis mehr ablegen. Schließlich bestätigte mir Goldie neulich, als ich ihn am Falkensteiner Strand an der Gastronomie traf, mit dem ich damals united im Damper Club Hausverbot erhielt, dass es nicht Beton Combo war. Ich schilderte dem Kieler Altpunk die näheren Umstände des Abends, Details wie die Tatsache, dass von den Nachwuchspunks fairerweise 2 D-Mark Eintritt genommen wurden und dass wir nach dem Konzert einen Fischstand ausraubten: „Der Auftrittsort war eine leer geräumte Wohnung in der Harmstraße. Und an der Kasse an der Wohnungstür saßen tätowierte Alt-Punks in Muskelshirts. Einer von denen sah aus wie Zico.“ Da schrie Goldie wie aus der Pistole geschossen: „Razzia!“ Schlussendlich zauberte der Ex-Punk Rensing, der inzwischen bös gealtert war, einen alten, vergilbten Flyer hervor, der das besagte Konzert  ankündigte, und siehe da, der Name Beton Combo stand tatsächlich nicht auf dem Flugblatt, wie wir früher sagten. Stattdessen stand Razzia als Top-Act auf dem Flugblatt, sowie die Vorband Blut + Eisen und die Kieler Schüler-Punkband Scapegoats, bei der Rensing selbst spielte, zusammen mit Ralle und Gulp. Doch dieser Konzertabend fand nicht in der Harmstraße statt, sondern im gut zwei Kilometer entfernten Fleethörn 59, rechts vom Rathaus im Künstlerhaus Fleethörn. Auf dem Flyer ist ein kleiner Punk-Comic zu sehen,  bei dem sechs kleine gezeichnete Punk-Figuren wie bei einem Panoramabild nebeneinander stehen und typische Punk Gesten vollführen: Posen, Saufen, Rumprollen. Unter diesem Punk Comic stehen die drei Bandnamen in der folgenden Reihenfolge: Razzia Scapegoats Blut + Eisen Der Flyer sah sehr dilettantisch aus, so dass er, wenn überhaupt, nur „von Punks für Punks“ entworfen sein konnte. In einem Interview mit dem Punkzine Der Rammelnde Hase beteuerte der Sänger Reiher der Politpunk-Band Razzia später, dass das Konzert in Kiel unter denkbar schlechten Bedingungen stattfand mit schlechter Akustik, schlechter Bühne, schlechter Bühnenanlage und mieser Organisation: „"Es war das Schlechteste, was ich je gesehen habe.“ Die Band musste sogar den eigenen Amp aus dem Kofferraum holen. Reiher bezeichnete die Veranstalter gegenüber dem Rammelnden Hasen als „"besoffene Hohlköppe“. Die 40 D-Mark Gage für zwei Autos, die aus Münster anreisten, waren inakzeptabel. Die Band sollte sogar für verzehrtes Bier aufkommen, dass sie gar nicht getrunken hatte. Bei vielen Teenage Punks ging an diesem Abend die zerebrale Kontrolle verloren. Und nach wie vor bleibt eine Restunsicherheit wegen des Datums, das gar nicht in die Kieler Woche fiel und wegen der räumlichen Distanz zwischen der Harmstraße und dem Fleethörn. Denn dazwischen liegen bestimmt zwei Kilometer. Auf der anderen Seite spricht für das Konzert im Fleethörn, dass wir nach dem Konzert ja mit einer Gruppe Punks den Fischbrötchenstand erfolgreich angegriffen und ausraubten. Denn ich bin mir mittlerweile sicher, dass der Fischbrötchenstand sich auf dem Asmus-Bremer-Platz befunden haben muss mit dem Rücken zum KN-Gebäude und der großen, roten Dioden-Laufschrift auf einer schwarzen, elektronischen Werbebande kurz unterhalb des Dachgeschosses. Wahrscheinlich dachte ich deshalb, es Kieler Woche sei, weil auf dem Asmus-Bremer-Platz außerplanmäßig eine Fischbrötchenbude platziert war. Ich gehe davon aus, dass die Fischfrikadellen damals, anders als heute, noch mehr als 30 Prozent Fisch beinhalteten. Wenn nicht, war der Überfall auf die dicke Fischbrötchenverkäuferin umso berechtigter.