Sonntag, 26. Juni 2022

English version "PSEUDO - a punk novel"

 

The English version is available since the beginning of July 2020. That are roundabout two years now. Cheers !


 

 

Donnerstag, 2. Juni 2022

PSEUDO 3 - Sylt Muss Sterben

 


               PSEUDO 3  -  Sylt Muss Sterben 









 PSEUDO Testament



„Sylt Muss Sterben“

Der dritte Teil des Kieler Punkromans







Kapitelliste PSEUDO 3

I. Punk Phase

1. Und wieder auf der Müllkippe
2. Wir onanieren gemeinsam auf dem Rückweg vom Schrottplatz
3. Hundescheiße über all(es)
4. Großmutters Handtasche
5. Tony der Assi-Rocker
6. Die Exploited Message
7. Ami-Hardcore für alle
8. Die pissgelbe Leuchtreklame
9. Der Trümmerberg
10. Die Telefonzelle in der Gustav-Falke-Straße
11. Ferienlager Falckenhorst
12. Die Sinnlosaktion am Flutlichtkasten
13. Bullen in die Leine
14. Punx gegen Atomkraft






II. Skinhead Phase

15. Der Kondomautomat
16. Noch mehr Clockwork Orange
17. Das Skinhead-Trendgetränk Moscato
18. Alle kennen SKINHEAD von Richard Allen
19. Saufen an der Tankstelle
20. Ich, Skinhead und Schiri
21. Mad Boys versuchen einem Waver die Schuhe abzunehmen
22. Generation Bierautomat
23. Quadrophenia
24. Nachts auf Tour in Friedrichsort
25. Bomberjacke Nein Danke?







III. Post-Skinhead Phase

26. Die Schulfreizeit an der Gesamtschule
27. Der stärkste Kaffee aller Zeiten?
28. Gestern Single, morgen Single und CDU-Mitglied
29. Saufen auf dem Rohbau
30. Zwillingskapitel (Der Teakwondo-Freak vertickt mir seinen Röhrenverstärker & Die F*cking Heavy Metal Gitarre vom Ober-F*cking Hehler)
31. Ich drifte taumelnd in die Linke Szene ab
32. Die Politrockerin nach dem Bad Religion Konzert
33. Drohender Punktabzug
34. Die Friedenswerkstatt am Exer
35. Horrortrip nach Berlin
36. Stress in der Schilkseer Schwimmhalle
37. Mannschaftsfahrt in die F*cking DDR
38. Das Bad Brains-Konzert im Metropol
39. Das Konken
40. Die Sorgen-Weg-Puppe
41. Trampen mit Helicoptereinsatz
42. Hausverbot in der Madonna Bar
43. Das Varukers-Konzert
44. Mein Weg zu den Misfits im SO36


PSEUDO+
(Fragmente)








I. Punk Phase



Schon wieder auf der Müllkippe

Das war Ende der 70er. Als in UK die großen 77er-Punkbands für Furore sorgten, spielten wir als Kinder auf der Mülldeponie, auf den Bahngleisen neben der Deponie, an der Mole Stickenhörn und auf dem Abbi Abenteuerspielplatz. Wir brauchten Abwechslung.
Wir liefen teils Hunderte von Metern die Gleise entlang von der Fördestraßenbrücke bis zum Müllplatz Schusterkrug, manchmal auch in die andere Richtung bis zum Reitparkur Dreikronen. Mal liefen wir wie auf einem Schwebebalken balancierend auf den Schienen, mal Schritt für Schritt von Holzschwelle zu Holzschwelle springend. Irgendwann checkten wir, dass wir mit unseren Bonanzarädern zwischen den Schienen fahren konnten. Das brachte 10 bis 20 Meter Spaß. Danach wurde es langweilig.
Wir planten Mutproben, die wir nie umsetzten, uns längs zwischen die Schienen zu legen und den Zug über uns fahren zu lassen. Oder jemand legte sich auf die Gleise und durfte erst weglaufen, wenn der Zug nahte. Wir legten das Ohr aufs Gleis, da jemand erzählte, wir könnten am leisen Vibrieren einen nahenden Zug erkennen, bevor er zu sehen oder zu hören war. Wir versuchten wieder auf die langsam fahrenden Züge aufzuspringen. Danach ging es auf den Schrottplatz. Auf dem Rückweg waren wir meistens ausgetobt.
Sobald wir auf dem Schrotter eintrafen, suchten wir uns erstmal einen Ramscherhaken. Das war unser täglich Werkzeug. Da Malereibetriebe offensichtlich ihren Dreck hier wegkippten, waren immer reichlich Farbrollen zu finden. Das waren ursprünglich kleine lange Farbwalzen, von denen die Rolle abgenommen wurde. Sie hatten einen Plastikgriff, einer dünnen Stange, die aus dem Griff ragte, sowie ein winklig abgebogene Achse, auf die normalerweise die kleine Farbrolle aufgesetzt wurde. Mit dem Bramscherhaken konnten wir in den Müll stechen und hacken und so die Oberfläche abtragen, um an tiefer gelegenen Stellen im Müllberg nach Fundstücken zu suchen. Wenn ein Müllhaufen an der Oberfläche ein paar interessante Fundstücke preisgab, so konnte es sich lohnen, mit dem Ramscherhaken etwas tiefer in den Müllberg vorzudringen. Denn mit dem bloßen Händen wühlten wir nur sehr ungern in den Müllbergen herum. Das sahen selbst wir als Kinder ein, dass das zu dreckig und deshalb ungesund war. Es sei denn, wir mussten größere Objekte bewegen, an denen die zweckentfremdeten Farbwalzen scheiterten. Manchmal gab es Streit wenn wir unsere Ramscherhaken verlegten oder wenn dir der Ramscher von einem anderen Kind abgenommen wurde.
      „Das ist meiner!“
lautete dann häufig die Ausrede.
Nach ein paar Minuten auf dem Schrottplatz hatten wir uns an den Gestank weitestgehend gewöhnt. Wir nahmen erst wieder üble Gerüche wahr, wenn sie wirklich extrem waren und akut an bestimmten Stellen auftraten, wie bei ätzenden Chemikalien oder verwesten Tieren.
Manchmal, wenn wir den Müllplatz wieder verließen, versteckten wir unsere Ramscherhaken im Gebüsch nahe der Zuggleise, bevor wir diese überquerten.







Wir Onanieren gemeinsam auf dem Rückweg vom Schrottplatz

Wir waren an diesem Nachmittag nach der Schule wieder auf der Mülldeponie Schusterkrug. Wie gewohnt trafen wir Kids aus dem gesamten Stadtteil, die den Müllplatz united wie einen Freizeitpark nutzten und nach Schätzen „ramschten“.
Auf dem Rückweg gingen wir den Trampelpfad in Richtung Roter Spielplatz, der ein paar Hundert Meter weiter in die Weststraße führte. Wir blieben kurz stehen und gingen nach links durch ein Gebüsch. Einer von uns musste pinkeln, was eine Gruppendynamik auslöste. Jetzt standen mehrere Kids an einem Strauch und pinkelten. Doch Raller fing direkt nach dem Pinkeln an zu onanieren. Er sagte
      „Ich wichs mir jetzt einen. Macht doch mit!“
Da gingen die anderen nach Abschluss des Pissens ebenso direkt zum Onanieren über. Jetzt standen mehrere Kids am Strauch und wixxten. Auch Kids, die ein paar Meter dahinter warteten, gingen jetzt zum Strauch und fingen ebenso an sich einen zu keulen. Da sagte Raller
      „Du musst immer weiter reiben, bis da etwas Weißes kommt.“
      „Bei mir kommen nur Körner!“
rief Maurice.
Raller entjungferte damals auch die Schwester des Pfefferminz-Türstehers im Keller des Wohnblocks. Später war sie mit einem Speedway-Weltmeister liiert. Raller gewann damals jedes Weitpinkeln, es sei denn, dass A.K. nach seiner Prostata-OP dabei war. Ich hingegen hatte keine Chance.
Jetzt standen wir da ein paar Minuten und schrubbten um die Wette an unseren Penissen, lachten sogar, weil es ein verbindendes Gruppenerlebnis war. Wir hatten dabei noch Dreck an den Händen und unter den Fingernägeln vom Besuch auf der Mülldeponie. Jeder schaute mal ruckartig zur Seite zum Wichsnachbarn, was der so anstellte. Einige tauschten sich über ihre Onaniertechniken aus, mit links wichsen, mit beiden Händen, Handrücken nach oben, nur mit Daumen und Zeigefinger. Einer griff sich mit dem rechten Arm hinten um den Oberschenkel, um nach vorne gebeugt den Penis zu wienern.
Der eine ging etwas in die Rückenlage, hockte dabei leicht und brachte die Knie nach vorn. Der nächste beugte sich mit Rundrücken weit nach vorne. Ein anderer zug die Schultern hoch und knickte den Kopf ganz nach vorn. Vorsichtig linste der ein oder andere nach hinten über die Schulter, ob ein Spaziergänger oder Spanner vorbei lief. Plötzlich schrie einer
      „Da kommt einer!“
Alle drehten sich erschrocken um, onanierten aber vorsichtig weiter. Niemand war zu sehen. Es war also nur eine Verarschung. Schließlich packte der erste ein. Es war erneut Raller.
      „Normal spritzt das. Hat mein Bruder erzählt.“
      „Bei mir ist überall Eichelkäse.“
      „Bei mir sind richtig kleine Flocken.“
      „Kuck mal, bei mir kommen Körner.“
      „Äh, das stinkt.“
Die Finger waren ohnehin dreckig nach unserem Besuch auf dem Müllplatz. In dem Alter rauchte noch niemand von uns.


Wir tauschten uns immer wieder gerne über die unterschiedlichsten Begriffe fürs Onanieren aus, als da wären:

beflecken
in die Hand fröscheln
einen runterholen
abwanken (von to wank)
wanken
sich (selbst) befriedigen
yockeln
einen juckeln
wichsen
abwichsen
wixxen
abonanieren
masturbieren
Hand anlegen
Handmaschine
sich einen von der Palme wedeln
die Palme wedeln
die Palme schrubben
selbst beglücken
sich einen ziehen
sich einen striegeln
kleine Sünde begehen
fünf gegen Willi
abkolben
sich ablaichen
einen abmelken
einen schütteln
sich einen keulen
Keulemanns machen
den Ast hacken
sich den Ast reiben
den Delfin lackieren
den Dolch schärfen
den Hahn würgen
den Willi würgen
den Lurch würgen
die Nudel würgen
einen wienern
einen schleudern
einen rubbeln
einen schrubben
den Aal abziehen
den Kaspar schnäutzen
die Wurst pellen
sich einen schlackern
es sich besorgen
sich selbst machen
den Kochen häuten
den Lachs buttern
die Banane schwingen
die Glatze mit der Mütze polieren
Mütze-Glatze machen
das Rohr freipumpen
Eigenhandentspannung machen
einhandsegeln
selbsthandbefummeln
sich entsamen
sich einen eumeln
sich einen hobeln
fappieren
in die Faust jauchen
die Gurke schälen
den Lümmel auskneten
sich die Flinte polieren







Hundescheiße über all(es)

(Ein Mini-Böller in der Hundekacke)

„Mein Cousin (R.i.p.) war ein Paradebeispiel für notorischen „Punker-Hass“ bei Rockern. Das legte sich erst Mitte der 80er mit zunehmender Drogensucht. Dabei fing alles so peacig an.“

Das war ein wirklich krasses Silvester 1980/81. Zu der Zeit war gerade die Leuchtmunition in Mode, mit der kleine Geschosse in die Luft geschossen wurden, sodass ein hellrot-glühender Leuchtstoff an einem Fallschirm langsam zu Boden segelte. Wir waren scharf auf diese kleinen seidenen Fallschirme, die überall herum lagen mit dem runtergebrannten Rest der Leuchtmunition. Manchmal konnten wir das restliche Pulver extrahieren und entzünden. Wer aus wenigen Metern in die Stichflamme schaute, war minutenlang geblendet und hatte dunkle Flecken auf der Netzhaut. Wir wussten gar nicht, wie diese Munition abgeschossen wurde, ob mit einer Pistole oder wie auch immer. Jedenfalls war der Nachthimmel von diesem Leuchtstoff hellrot erleuchtet. Wir fragten uns, wie die an diese Leuchtmunition ran kamen, und ob es die zu Silvester in den Kasernen gratis gab. Wir fragten uns, ob auch wir Kids an diese Munition herankommen könnten, und was die wohl kosten würde. Nach Silvester hatte jeder von uns bestimmt 5 bis 10 dieser Mini-Fallschirme, die wir aufbewahrten und mit denen wir auf dem Abbi spielten. Wir tauschten sie untereinander, banden daran Gegenstände fest, warfen sie in die Luft und ließen sie zu Boden segeln.
      Das Geknalle ging auch dies Jahr zu Silvester früh los. Wir hatten uns rechtzeitig mit Unmengen an Böllern eingedeckt, um das alte Jahr gebührend zu verabschieden und das neue angemessen zu begrüßen. Wir waren alle recht jung, kauften trotzdem Knaller, die nur an Volljährige herausgegeben werden durften. Neben Knall-Fröschen und besonders den China-Böllern waren Matten sehr beliebt, die es in drei unterschiedlichen Größen gab. Mit den Matten konnten wir richtig rumaasen, sie als Ganzes anzünden oder die einzelnen Mini-Böller auseinanderknoten. Es tat kaum weh, einen einzelnen Matten-Böller zwischen den Fingerspitzen zu zünden, zumindest bei den kleinen Matten. Wir konnten uns damit bewerfen oder sogar kleine Sprengungen vornehmen, sie in leere Dosen werfen, in Gullys, die Fußsohle auf die Knaller stellen und viele weitere leichtsinnige Mutproben veranstalten. Wir lernten einzelne Matten und Böller so ins Wasser zu werfen, dass sie direkt auf der Oberfläche explodierten, damit Wasser durch die Gegend spritzte. Die kleinen Matten knallten nicht wirklich laut. Sie gaben eher ein Peng oder Puff von sich.
      Am Silvestertag traf ich mich schon früh mit meinem Cousin Schurre, um gemeinsam zu knallen. Ich war gerade mal 13, mein Cousin vier Jahre älter als ich. Wir trafen uns mit den Pöhl-Brüdern, die schräg gegenüber von Schurre wohnten, um auf dem Bürgersteig die ersten Knaller zu zünden. Ich stand hier als Punk in Spe zwischen den Rockern. Wir waren mit Feuerzeugen ausgestattet und hatten die Taschen voll mit Böllern, Fröschen, Heulern und Matten. Jeder war mit den eigenen Knallern beschäftigt. Jeder musste aufpassen, dass in seinem Umkreis nichts explodierte. Die Häuser hier an der Straße der Pöhls, von A.K. und von Krischner hatten alle Mauern zum Bürgersteig hin, etwa einen Meter hoch, auf deren Oberkante die Rasenfläche anschloss. Vor der Mauer der Pöhls lag frische Hundekacke, die nicht fest und dunkelbraun war, sondern hellbraun und matschig. Es war wahrscheinlich der Angstschiss eines verängstigten Hundes, dem das Knallen auf die Nerven ging. Wir standen hier zu viert: die beiden Pöhls, Schurre und ich. Ich war mit Abstand der Jüngste. Wir warfen fleißig mit Knallern herum. Ich war hauptsächlich beschäftigt mit den einzelnen kleinen Matten-Mini-Böllern. Die anderen zündeten kleine und mittelgroße Matten-Böller.
      „Oh, du hast ja die mittleren Matten?“
Manchmal wurde auch ein China-Böller aus der Jackentasche gekramt,  gezündet und erst im letzten Augenblick bei heruntergebrannter Lunte weggeworfen, was von den anderen Dreien aufmerksam beobachtet und mit Applaus quittiert wurde. Wenn der Böller erst auf dem Boden explodierte und nicht in der Luft, warst du ein Diletant.
Jetzt standen wir in der Straße und knallten mit diesen roten Matten, die wir in verschiedenen Größen bei uns hatten und auseinander puhlten.
Plötzlich entdeckte Schurre den frischen Hundehaufen, der wohl erst am Morgen dieses Tages von einem Hund abgelassen wurde. Er griff sogleich in seine Jackentasche und holte eine Matte mit mittleren Mini-Böllern hervor. Er löste einen Knaller aus der Matte, steckte die restliche Matte wieder in die Jacke und ging zielstrebig zum Hundehaufen. Dort steckte er den roten Knaller vorsichtig mit Zeigefinger und Daumen in den Haufen, ohne mit den Fingern die Scheiße zu berühren, während die anderen drei anfingen zu kichern und blöde Kommentare abzugeben. Ganz vorsichtig wurde der rote Knaller mit dem Zeigefinger mehrmals angetippt, bis er fast ganz in der Scheiße steckte.
      „Da musst du aber schnell weglaufen!“
rief einer der Pöhl-Brüder.
      „Pass bloß auf!“
rief ich Schurre zu.
Schurre nahm sein Feuerzeug, entzündete die kleine Lunte des Knallers und eilte ein paar Meter weg vom Haufen, der unmittelbar vor der kleinen Mauer stinkend vor sich hin dümpelte. Alle glotzten den Haufen an, bis er plötzlich mit einem platzpatronenähnlichen Peng explodierte. Wir hatten nicht mit einer solchen Sprengkraft gerechnet, versuchten uns im Moment der Explosion wegzuducken und zu schützen. Doch die Fetzen der Scheiße flogen in alle Richtungen. Wir schrieen
      „Äääh!“
und
      „Iiih!“
und
      „Scheiße!“
und
      „Igitt!“
Jeder von uns hatte kleine Scheißepartikel abbekommen. Wir liefen aufgeschreckt und überrascht umher, betrachteten uns gegenseitig um zu sehen, wer an welchen Stellen Scheißepartikel hängen hatte. Der jüngere Pöhl hatte ein Stück Scheiße an der Wange. Der ältere Pöhl hatte Scheiße in der blonden Vokuhila. Ich hatte Scheiße an der Jeanshose. Nur Schurre hoffte zunächst, nichts abbekommen zu haben. Wir suchten nach weiteren Fetzen an unserer Kleidung und am Rücken der anderen, an Stellen, die sie selbst nicht überblicken konnten. Plötzlich fand jemand an Schurres Kapuze ein hellbraunes Stück Scheiße.
      „Äääh, an der Kapuze hängt Scheiße.“
Er zog sofort die Jacke aus und brachte sie zu seiner Mutter in die Wäsche. Ich wischte die Scheiße mit einem Tempo von der Jeans, wechselte später dennoch die Hose. Wir hatten noch nie so gelacht wie an diesem Silvesternachmittag.
In der Silvesternacht wurde weiter Leuchtmunition verschossen, die wieder rot glühend langsam an kleinen Fallschirmen zur Erde schwebte. Phasenweise war der ganze Nachthimmel rot erleuchtet, wenn mehrere Leuchtgranaten nach Vollendung des Bogenweges langsam mit einem roten Lichthof herab segelten. Am Neujahrstag sammelten wir wieder die kleinen, seidenen Fallschirme, die wir in unserer Nähe auf Wiesen, an Straßen, auf fremden Grundstücken und in Vorgärten finden konnten.
      „Die müssen ja vor Silvester ein ganzes Waffenarsenal mit Leuchtmunition leergeräumt haben.“
      Schurre hasste Punks, oder Punker, wie er sagte. Bloß bei mir wollte er nicht wahrhaben, dass ich etwas mit der Punkszene zu tun hatte, auch wenn er mich wahrscheinlich nie in meiner Nietenjacke sah, und wenn doch, vielleicht einmal zufällig in der Bergstraße oder in der Innenstadt, beide voll betrunken. Ausschließen kann ich das nicht. Mein Cousin gab sich nur mit Rockern ab. Später kamen ein paar komische Gestalten dazu, Mütze, Ziege und Dick. Das war sein Ende.
Die Nachbarn meines Cousins auf der anderen Straßenseite waren ebenfalls  Rocker und fuhren leichte Motorräder. Aufgrund meines Alters und der Verwandschaft zu Schurre akzeptierten sie meine langsam aufkommenden Punk-Eskapaden.
      „Das wird sich schon geben.“
Nach diesem Silvester wurde mir langsam klar, dass ich mich ausklinken musste aus diesem Rockerwohnumfeld, da die Leute offensichtlich Scheiße am und im Kopf hatten.
Doch zu allem Überdruss schenkte unser Großvater uns eines Tages zwei Motorradhelme. Einmal nahm mein Cousin mich mit diesen Helmen mit dem Motorrad mit um sie mal zu testen. Es kam mir gar nicht Spanisch vor, dass er ja gar keinen Führerschein hatte, denn er hatte seit seinem 17. Lebensjahr eine Führerscheinsperre, da er als Jugendlicher ohne Führerschein erwischt wurde - und das als KFZ-Mechaniker.
      Nicht unerwähnt bleiben soll hier Schurres Schlägerei mit den Punks auf der Kieler Woche ’81. Bereits am Samstagnachmittag der Kieler Woche ‘81 sah ich vom parkenden Passat meines Vaters vom Schwanenweg aus eine ganze Reihe Punks, circa 15 Personen, vom Düsternbroker Weg den Fußweg runter zur Kiellinie gehen, schlacksig, aber schnellen Schrittes. Das sah wirklich bedrohlich aus. Ich bin mir sicher, dass einer der größtenteils  Schwarz gekleideten Punks eine schwere Eisenkette in den Händen trug. Im Nachhinein sah der aus wie Gonnrad, obwohl ich Gonnrad da noch nicht persönlich kannte.
Am Abend des besagten Tages zog Schurre mit seinen Rockerkumpels vom Motorradclub Toxavit zur Kieler Woche. Sie trafen auf eine Gruppe Punks. Ich weiß nicht, ob das die Punks waren, die ich am Nachmittag zur Kiellinie habe runtergehen sehen. Es kam zum Streit zwischen den Punks und den Rockern. Darum ging es damals und um nichts anderes: Punks gegen Rocker. Es kommt zu einer Schlägerei, bei der mein Cousin eine Eisenkette über den Kopf gezogen bekam. Ich erfuhr das später von meiner Tante, dass es da einen Vorfall gegeben hat. Er landete an besagtem Abend schlussendlich stark betrunken auf der Falckwache in der Nähe des Alten Marktes. Ich weiß nicht, ob die Polizei bei der Schlägerei zwischen Rockern und Punks an der Kiellinie intervenierte und diese abbrach, und ob mein Cousin hierbei verhaftet wurde, oder ob die Polizei ihn später an anderer Stelle festnahm. Jedenfalls kam es auf der Wache zum Streit mit Polizisten. Im weiteren Verlauf wurde er von einem Polizisten die Treppenstufen runtergeschubst. Das sollte er der Polizei bis an sein Lebensende nicht verzeihen. Dieser Konflikt wurde deshalb später so brisant, da meine Schwester mit einem Polizisten zusammenkam, der zu der Zeit des Vorfalls mit hoher Wahrscheinlichkeit auf der besagten Falckwache beschäftigt war.
      Mein Cousin war 1981 auf dem berüchtigten AC/DC-Konzert, oder Atze-Datze, wie Hecker sagte, in der Ostseehalle. Bei dem Mammuth-Konzert wurde ein Rocker auf den Rängen erstochen. Mein Cousin erzählte selbst Jahre später von diesem Konzert der Hell’s Bells Tour, von der großen Glocke auf der Bühne, die in ohrenbetäubender Lautstärke angeschlagen wurde.
Vom Bandnamen AC/DC leiteten wir auch die Bezeichnung Acer ab. Acer war, ich wiederhole mich nur ungerne, ein abwertender Begriff für Leute, die AC/DC hörten. Die waren im Prinzip wie Teds, die Hardrock und Metal hörten, bloß mit Acer-Matten oder Neudeutsch Vokuhila. Das Wort Acer ließ sich beliebig komponieren: Acer-Tucke für dicke Acer, Acer-Musik für Hardrock und Metal, Acer-Kneipe, Acer-Disco, Acer-Schweine, Fascho-Acer oder Acer-Faschos, Acer-Treffen, Acer-Methoden, Bullen-Acer, Acer-Braut. Schließlich gab es die Acer-Bank oder Acer-Reihe, womit die letzte Reihe im Bus bezeichnet wurde.
      Als ich Jahre später Schurre wegen des Vorfalls mit den Punks zur Kieler Woche befragte, war ich bereits selbst in der Punk-Szene. Er erzählte einmal in seiner Wohnung traumatisiert und voller Hass von der Schlägerei mit dem „Pack“ auf der Kieler Woche, wie ihm einer der Punks die Eisenkette über den Kopf zog. Da war ich tief in meinem Inneren für die Punks. Für mich war das ein unglaublicher Konflikt, da ich selbst inzwischen bei den Punks war und mit der Rockerszene permanent Ärger hatte.
Ich erhielt später einen weiteren Bericht aus der Szene über ein Silvester Anfang der 80er, bin mir nicht sicher, ob es die Kieler Woche mit der Eisenkette war.

„1980 hatten wir ein großes Treffen zur Kieler Woche. Das Ganze endete im Chaos, so wie es enden musste. Ein Großaufgebot an Polizei, Steine,  Flaschenwürfe, Plündern eines Ladens, und ich bin mit einem anderen Punk, es war ein Wiker, in einen Keller geflüchtet. Viele Punks wurden festgenommen, kamen abends wieder raus. Zum Abschluss noch einmal Stress und Randale am Bahnhof, die Hamburger mussten schließlich nach Hause, den letzten Zug bekommen. Ich beobachtete das aus der Ferne und war doch ziemlich geschockt. Danach ab durch die Nacht und nach Hause.“
(Augenzeugenbericht von Uwe S., ehem. Schlagzeuger der Kieler Punkband Plüschtierf*cker)

Bei einigen Rockern rettete es mich, wenn sie wussten, dass Schurre mit mir verwandt war. Im Fußballverein schadete es mir eher seit dem Zeitpunkt, als bekannt wurde, dass Schurre auf Eitsch war. Ich schaffte es, ihn zu reaktivieren, und wir spielten eine Saison zusammen in der Dritten. Bis der Betreuer der Zweiten, Herr Heiltmann, ihn verunglimpfte:
      „Was los Schurre, willst Du hier im Verein Deine Heroinspritzen verteilen?“
Da war der Frieden im Verein vorüber.
Mein Cousin arbeitete kurz an der Kasse des Pfefferminz als Vertretung für den anderen Rocker aus Friedrichsort. Vielleicht war es nur einmalig an diesem Abend. Er gab mir jedenfalls gratis einen Stempel auf den Handrücken. Bier konnte er nicht locker machen.
Mein Vater ließ sich mehrmals von meinem Cousin den grünen Passat reparieren und speiste ihn mit ein paar Holsten Edel ab. Als er schließlich im Rockermilieu heiratete, sagte mein Vater zu ihm:
      „Dein Hochzeitsgeschenk bekommst Du erst zur Scheidung.“
Das fand ich zu hart und verurteilte es.
Trotzdem waren einige Aktionen, die mein Cousin brachte, zwar lustig, aber nicht tolerierbar und keineswegs zur Nachahmung geeignet. So beobachtete ich, wie er einen Nachwuchs-Rocker auf der Liliencronstraße direkt vor der Backstube der Bäckerei Pupa auf einer Enduro stoppte. Er schubste ihn von der Maschine und stellte sich rechts neben den Lenker. Er gab Gas, ließ die Kupplung kommen, hielt aber die Bremse blockiert. Als er die Bremse losließ, hielt er für Bruchteile von Sekunden den Lenker fest, sodass das Hinterrad unter dem Vorderrad hindurchfuhr, die ganze Maschine abhob, sich spiralförmig drehte wie ein Windrad und meterweit durch die Luft kreiste, bis sie schließlich krachend auf die Straße klatschte. Das wirkte wie ein Evil Knevel-Stunt, bloß ohne Fahrer. Der junge Rocker weinte, richtete seine beschädigte Maschine auf und schob sie zurück nach Hause. So hoch legte mein Cousin die Messlatte für Rockertum in Friedrichsort, vielleicht zu hoch.   








Großmutters Handtasche

Meine Großmutter war inzwischen das sechste oder siebte Mal bei ihrer Führerscheinprüfung durchgefallen. Wir dachten schon, ihr Fahrlehrer ließ sie mit Absicht zappeln, um sie zu schröpfen. Jedenfalls war meine Großmutter sehr häufig zu Besuch bei meiner Mutter, wo sie gemeinsam, manchmal auch mit meiner Tante, in der Wohnstube saßen. Währenddessen stellte sie ihre Handtasche immer im Flur des Hauses meiner Eltern ab. Mal stand die Handtasche vorne am Metallgitter, wo die Jacken aufgehängt wurden, mal stand sie auf der gegenüberliegenden Seite an der Wand. Meistens lag sie auf dem Weg in Richtung Schlafzimmer zwischen Kellertreppe und dem Badezimmer.
      Da ich immer häufiger mit der Punkszene trinken ging, auch unter der Woche, brauchte ich als Schüler das nötige Kleingeld für Alkohol und Zigaretten. Beim ersten Mal brauchte ich wirklich nur ein klein wenig Patte, vielleicht nur 50 Pfennige, um genug Geld für eine Schachtel Zippen zu haben. Also schlich ich zu Omas Handtasche, während sie sich mit meiner Mutter in der Wohnstube unterhielt. Ich ging in die Hocke, öffnete die Handtasche, nahm Omas Geldbörse heraus, öffnete sie und schaute, wie viele Münzen darin waren. Ich nahm mir etwas Geld heraus. Da sich darin viele unterschiedliche Münzen befanden, achtete ich darauf, dass ich von jeder Münzsorte etwas nahm, vor allem Pfennige, Fünfpfennigstücke und Groschen, sodass es nicht auffallen würde. Es war wirklich nicht viel Geld, und es sollte eine einmalige Aktion bleiben. Ich war halt jung und brauchte das Geld zum Saufen.
Mein Taschengeld reichte hinten und vorne nicht. Doch jetzt, wo ich  regelmäßig mit den Punks trinken ging, brauchte ich deutlich mehr für Sprit, trotz der Tatsache, dass ich manchmal Getränke aus dem Schnappskeller meines Vaters entwendete.
Außerdem lag wieder eine Bestellung bei Vinyl Boogie an, wo ich ein paar Pogo-Platten ordern wollte. Auch dafür brauchte ich etwas Kleingeld. Nach der Bestellung bei Vinyl Boogie war vor der Bestellung. Die nächste Pissgelbe Punkliste kam bestimmt. Der Kaufdruck war hoch.
      Scheine nahm ich ihr nie aus ihrem Portmonnee, wirklich immer nur Münzen. Es waren selten mehr als zwei Mark, die ich entwendete. Das tat mir auch gar nicht leid, da mir klar war, dass diese fehlenden Minimalbeträge gar nicht ins Gewicht fallen würden. Sonst wäre es familienintern verfolgt und geahndet worden. Oder sie hätten mich im Kinderheim Hof Hammer abgeliefert. Doch auf Dauer lepperten sich die Beträge.
Ich erzählte bis auf den heutigen Tag niemandem von diesen kleinen Diebstahlaktionen, nicht einmal meinem Cousin, dem anderen Enkel, der sicher auch so manch Schattenseite hatte. Dies Schilderung hier ist deshalb mein Coming Out als Pseudo-Krimineller.
Ich frage mich, weshalb sie die Handtasche nicht mit in die Stube auf die Couch nahm. War es Absicht, dass sie ihre Handtasche im Flur liegen ließ? Wollte sie ihren Enkel prüfen? Doch meiner Großmutter musste längst klar gewesen sein, dass der perfide Enkel inzwischen Punk war. Das erkannte ich an ihren misstrauischen Blicken. Meine Tante muss es ihr erzählt haben.
Als Großmutter schließlich die Führerscheinprüfung schaffte, pendelte sie fortan im Schneckentempo zwischen Dorf Pries und Friedrichsort-Pries. Sie  baute jedoch nie einen Unfall.
      Bei anderen Personen als meiner Großmutter rührte ich sonst nie Handtaschen an, vielleicht noch mal die von meiner Mutter, wenn es gar nicht mehr anders ging und ich mich mit den anderen Punks oder Pseudos zum Saufen treffen wollte. Allerdings war Handtaschendiebstahl sehr populär zu der Zeit, vielleicht sogar populärer als der Enkeltrick heutzutage. Es war fast schon Volkssport. Immer wieder stand etwas darüber in der Zeitung. Doch nie erfuhren wir eine Schätzung über die Dunkelziffer beim Handtaschenraub und ebensowenig die erbeutete Geldsumme. Es war nicht einmal ein Fall für Eduart Zimmermann, dem Moderator von Aktenzeichen XY … ungelöst. In der Zeitung hingegen hieß es ständig, dass es Jugendliche waren. Seltsamerweise hieß es in der Täterbeschreibung eher „dunkle, kurze Jacke“, als das Wörter wie Bomberjacke oder Lederjacke ausgesprochen wurde, was vielerorts höhnisches Gelächter ausgelöst hätte. Bei den Täterbeschreibungen wurden letztendlich sogar Markennamen wie Adidas und Puma ausgespart, um diese Firmen nicht in Verruf zu bringen.
Ich versuchte zwar einmal mit meinem Kumpel Günner aus Dorf Pries eine Handtasche zu rauben, doch wir stellten uns dermaßen dumm an, dass es fehlschlagen musste. Uns wurde erzählt, dass einige Omas mit horrenden Geldsummen in der Handtasche durch den Ort liefen, speziell die Nazi-Witwen. Deshalb legten wir uns am Strandweg Brauner Berg direkt hinter der Pistolen-Fabrik Sieg-Sau-und-Söhne auf der Pferdekoppel auf die Lauer direkt hinter einer kleinen Erdwelle. Hier warteten wir, bis schlussendlich eine ältere Dame mit Handtasche und dem gewünschten Opferprofil einer Nazi-Witwe vorbeikommen würde. Das geschah auch bald. Wir wollten gerade los hechten, um die Handtasche zu erbeuten, als sie wie von Geisterhand gesteuert eine Kehrtwendung um 180° machte und wieder zurück in Richtung Friedrichsorter Straße ging. Wir hatten den besten Moment verpasst, ihr die Handtasche wegzureißen. Weil das missglückte, klaute ich bis auf den heutigen Tag nie eine Handtasche. Dafür hätte ich wohl Drogen nehmen müssen, Drogen die herzlos machen. Ergo blieb meine Großmutter das einzige Opfer, und es war nicht mal ein Handtaschenraub, sondern ein „aus-der-Handtasche-Raub“.
Auf diese Weise stahl ich Omi im Laufe meiner Punk-Zeit bestimmt 10 bis 20 Mark aus dem Portemonnee. Auch wenn dies eine Schätzung ist, waren es auf keinen Fall mehr als 30 Mark insgesamt, das kann ich schwören. Mein Großvater hingegen musste mehr erleiden. Einmal stahl ich ihm eine ganze Stange Stuyvesant-Zigaretten aus dem massiven Wohnzimmerschrank, der von einem ausgestopften Eichelhäher und einer Eule bewacht wurde. Doch das war nur eine einzige Aktion. Bei meiner Großmutter waren es eine ganze Reihe von Delikten.  
Die Momente, in denen ich Oma in die Geldbörse griff, waren mit äußerster nervlicher Anspannung verbunden, als würde ich eine Bombe entschärfen oder mit entflammbaren Material hantieren. Ich musste zu jeder Zeit die Geldbörse blitzschnell schließen und in der Handtasche verschwinden lassen können, falls Großmutter oder Mutter aus der Stube kamen. Ich bekam zwar regelmäßig von Großmutter ein geringes Taschengeld zugesteckt
      „Dankeschön Oma heißt das!"
      „Danke!"
      „So, jetzt gibst du Oma noch einen Kuss auf die Wange!"
Nur mit Widerwillen küsste ich ihr die Wange, denn sie hatte einen feinen Frauenbart und hielt mir die Wange übertrieben entgegen. Außerdem fand ich die Kluncker in ihren Ohrläppchen aufdringlich, die mich eher an Queen Elisabeth erinnerten. Zu diesem Zeitpunkt muss meiner Großmutter klar gewesen sein, dass ich ausschließlich Punk hörte und eine Nietenjacke in meinem Kleiderschrank versteckte. Sie wusste wie Punks aussehen, denn auch die Älteren hatten Fernseher und Illustrierte sowie Fernsehzeitschriften wie Hörzu und Quick im Wohnzimmer liegen. Es gab es durchaus mal den ein oder anderen Bericht über Punks und Warnungen über diese neue Subkultur.
      Als meine Großmutter später an ALS erkrankte, wurde ihr feuerroter Golf noch zu Lebzeiten sofort verkauft. Wir vier Enkelkinder erhielten je ein Viertel des Verkaufserlöses. Ich sollte mir das Geld auf ein Sparbuch legen. Das tat ich auch und war unheimlich stolz auf die Summe von 1400 Mark. Doch ich gab das Geld später in Rekordzeit für Drogen aus und verkiffte meinen Anteil an Omas rotem VW-Golf, inhalierte jedoch nicht. Mit Paul übrigens.
Ich fragte mich manchmal, ob es solch subtiles Verhalten wie Verwandte beklauen oder Ladendiebstahl in der Form auch in der F*cking DDR gegeben hat, zumal es dort weniger Reichtum und vermutlich weniger Handtaschen gab. Denn eins sollte sowohl in der BRD als auch in der DDR klar gewesen sein:
      „Beklauen unter Verwandten geht gar nicht.“
Deshalb möchte ich den folgenden Appell an meine tote Oma richten:

„Oma, Du bist zwar schon viele Jahre tot, aber ich will mich an dieser Stelle bei Dir dafür entschuldigen, dass ich Dir mehrmals geringe Mengen Kleingeld aus der Handtasche genommen habe. Sorry Oma! Ich weiß, Du und Opa musstet viel durchmachen und mitmachen im Dritten Reich, als Du ’39 als 16-jährige von Oberösterreich nach Porta Westfalica verschickt wurdest in ein Lager für junge Frauen, von wo Du mit Opa zwangsverheiratet wurdest, um ihm zu Kriegszeiten zwei Mädchen zu gebären. Und dann stielt Dein Enkel Dir auch noch etwas von Deiner Rente. Das geht gar nicht.“








Ein Assi-Rocker will mich zu einer Straftat animieren

Sowohl Punks als auch Pseudo-Punks, im Normalfall auch richtige Skinheads, empfanden die Bandnamen von Hardrock und Metal-Bands als peinlich und störend, ja in einigen Fällen sogar als lächerlich. Dabei war Metal in Rockerhochburgen wie Kiel meistens die größere Nummer. Wir machten uns lustig über Bandnamen wie Saxon, Judas Priest, Iron Maiden, und es krachte deshalb unaufhörlich. Ich wusste, dass einer der Wiker Punks heimlich Hardrock hörte. Deshalb empfand ich diesen Punk zunehmend als einen Pseudo, obwohl er mit seinem breiten, grünen Iro inklusive über die Stirn fallende Koreapeitsche noch so furchteinflößend aussah. Er war in meinen Augen kein Vollpunk. Er war irgendwie ein Hardrock-Punk, und das geht gar nicht.
Im NDK war bekannt, dass ich jetzt in der Punkszene war. Es gab trotzdem frühzeitige, jedoch vergebliche Rettungsversuche seitens der Assi-Rocker, mich aus der Punkszene wieder rauszuholen. Ich besaß bereits meine ersten Pogo-Platten, The Great Rock ’n' Roll Swindle, Punks Not Dead und die City Baby attacked by Rats, als ich mit einem der Assi-Rocker trinken musste. Tony (Name geändert) war ein Suffschläger vor dem Herrn. Seine Faustschläge ins Gesicht kamen wie aus dem Nichts. Er war bekannt für schwere Raubdelikte in jungen Jahren und landete bald das erste Mal im Knast, Drehtüreffekt inklusive. Er nahm mich einmal mit in die Schanze, eine Kneipe im Herzen Friedrichsorts, wo ich mit ihm Unmengen an Rum saufen musste. Wenn er Anfang des Monats Geld hatte oder durch seine Raubüberfälle in Geld schwamm, warf er mit den Scheinen nur so um sich, als gäbe es kein Morgen. Ergo bestellte er in der Schanze gleich eine ganze Flasche Rum auf einmal, die er mit mir am Tresen trank. An diesem Abend tauchte auch Vielmanns Schwester mit „50-Pfennig“ in der Schanze auf. Vielmanns Schwester war nicht mein Typ. Trotzdem sagte Tony, der Assi-Rocker, ich solle mit Vielmanns Schwester mal rummachen. Er versuchte also mich mit ihr zu verkuppeln. Dabei war ich eher scharf auf ihre blonde Freundin „50-Pfennig“. Wir waren alle sehr voll. Plötzlich flüsterte mir Tony, ich solle mit Vielmanns Schwester auf die Toilette gehen. Das tat ich auch. Ich machte mit ihr auf der Toilette rum, und ich weiß nicht mehr, ob es die Herrentoilette oder die Damentoilette war. Ich weiß nur, dass ich mich mit ihrer Oberweite beschäftigte und dabei etwas überfordert war, denn ihre Brüste waren wie abgeschnürrt, als hätte sie drei enge BHs übereinander getragen. Sie wirkten deshalb wie Kanonenkugeln. Wir kamen nicht sehr weit. Es kam gerade zum Knutschen und ersten Fummeleien, als plötzlich die jugoslawische Wirtin vor der Toilettenzelle stand und mit geballten Fäusten unaufhörlich gegen die Tür hämmerte.
      „Was macht ihr da? Kommt da sofort raus.“
Wir hörten auf zu knutschen und verstummten in Schockstarre. Jemand musste uns verpfiffen haben. Die Wirtin hämmerte weiter gegen die Toilette, bis Vielmann Schwester flüsterte
      „Lass uns rausgehen.“
Wir gingen an der schimpfenden Wirtin vorbei die Treppe hoch, und sie ging uns schimpfend hinterher hoch zum Tresen. Auch hinterm Tresen fluchte sie fortwährend.
      „Das will ich hier nicht haben. Das ist eine anständige Kneipe.“
Da lachten sogar die Assi-Rocker am Tresen und die Minipli-Acer. Ich wäre sicher sofort rausgeflogen und hätte wieder Hausverbot bekommen, wenn Tony nicht dabei gewesen wäre. Denn er hatte seine Spendierhosen an und setzte sich als Schlichter für mich ein. Er bestellte währenddessen die nächste Flasche Rum. Er arrangierte mit der Wirtin, dass ich mich wieder zu ihm an den Tresen setzen durfte, um mit ihm die nächste Flasche Rum zu köpfen, denn er brauchte schließlich einen Trinkpartner. Ich weiß nicht mehr wie der Abend enden würde.
Tony plante jetzt schon den nächsten Einbruch. Ein paar Tage später würde er kein Geld mehr haben. Dummerweise erzählte ich ihm, dass mein Vater im Keller ein regelrechtes Alkoholarsenal stehen hatte. Als ich erwähnte, dass jede Menge Rum im Keller stand, sagte Tony:
      „So, wir gehen jetzt zu dir und du holst eine Flasche Rum aus dem Keller.“
Da war Widerrede kaum mehr möglich. Tony wusste, dass ich inzwischen auf Punk war, und er versuchte mich umzupolen. Also trug er mir auf, eine Flasche Rum aus dem Keller zu besorgen, während er kurz zu sich nach Hause ging um eine Hardrock-LP zu holen. Es war eine LP einer Band namens Jane. Tony wollte nicht, dass ich weiterhin Punk hörte. Er wollte mich zum Metal bekehren. Für ihn war das eine Selbstverständlichkeit. Für mich war Hardrock die Hölle.
      Tony wohnte gleich in der Nähe im Händlerweg, ging kurz nach Hause und kam wenige Minuten später mit der Jane-LP wieder, als ich ihn ins Haus ließ. Ich hatte da die Flasche Rum noch nicht aus dem Keller meines Vaters geholt. Deshalb forderte er mich erneut auf, sofort die Flasche Rum hochzuholen. Also ging ich in den Keller und holte eine Flasche Hansen Präsident, die mit dem roten Etikett. Ich wollte sofort GBH oder Exploited auflegen, doch Tony wollte solche Punkerscheiße nicht hören und sagte
      „Leg mal meine Jane auf.“
Er sagte erneut, dass Punk nicht gut für mich sei, ich solle besser Jane und andere Hardrock-Bands hören. Ich wusste nicht was da auf mich zukam, denn ich kannte Jane nicht. Ich wusste nur, dass ich Bands wie AC/DC, Saxon und Judas Priest hasste, und dass sowas nicht auf meinem Plattenteller kam. Wir waren schon sehr voll. Ich hatte auch eine Flasche Cola aus dem Keller holen müssen, dazu zwei Gläser für die Mische. Ich war an diesem Abend so voll wie nie zuvor in meinem Leben. Wir dösten regelrecht in meinem Zimmer, saßen auf dem Boden in einer Ecke als Jane gegen meinen Willen auf dem Plattenspieler lief. Ich mochte die Musik sichtlich nicht. Trotzdem sagte Tony
      „Schließ einfach die Augen und genieße die Musik zu!“
Mir waren ohnehin die Augenlider vom Saufen schon ganz schwer, sodass meine Augen fast wie automatisch zufielen. Jetzt saßen wir beide da mit geschlossenen Augen, ich mit Widerwillen und Tony in Cola-Rum-Trance, und hörten die Hardrock Band Jane. Mir gingen meine paar Punkplatten durch den Kopf, die unten neben dem Plattenspieler standen. Ich sehnte mich auch nach meinen Sampler-Tapes, auch nach dem Tape, das Brandy mir mal aufgenommen hatte, denn ich hätte jetzt lieber “Suspect Devive“ (live), “I’m the Hunted“ und “Fuck the Army“ gehört als diesen anstrengenden Hardrock-Scheiß, auf den ich gar keinen Bock hatte. Doch Tony hatte in meinem Zimmer längst das Sagen.
      „Geil, hörst du die Gitarre?“
Ich sagte
      „Ja!“
Da sagte Tony
      „Geil, hörst du jetzt diese Stelle? Geil, die Gitarre, ach wie geil. Ich sagte
      „Ja!“,
obwohl mir die Musik missfiel. Wir hatten die Rumflasche nicht ganz geschafft, als plötzlich meine Mutter ins Zimmer kam und sagte
      „Rollant ihr müsst das hier jetzt abbrechen. Es ist schon spät.“ Da bekam Tony Respekt und ging gleich nach Hause, nachdem wir ein letztes Glas Rum Mischung getrunken hatten. Es kann sein, dass er mir die Platte von Jane ein zwei Tage da ließ, doch ich legte am nächsten Morgen gleich wieder Exploited auf, hörte “Barmy Army“, hörte “Army Life“, hörte “Sex & Violence“, hörte "I believe in anarchy" und sang bei den Refrains laut mit. Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob ich in der Nacht die Kloschüssel umarmte und kübelte Das kam zu der Zeit unfassbar häufig vor.
      Die Sache mit Tony war jetzt keineswegs ausgestanden. Jetzt wollte mein Freund wider Willen einen Jeansladen ausrauben, und ich sollte ihm dabei helfen. Ich dachte mir, das gehört so und das sei etwas ganz Normales in Friedrichsort. Tony hatte schon einen Plan ausgeheckt, und sich einen Jeansladen in der Stadt ausgesucht. Er erklärte mir seinen Plan. Er würde den Laden zur normalen Öffnungszeit betreten, direkt zur Kasse gehen, die Verkäuferin bei Seite schubsen und entweder das Geld aus der Kasse nehmen oder gleich die ganze Registrierkasse unter den Arm klemmen und weglaufen. Ich sollte direkt vor der Eingangstür warten und ihm Bescheid sagen für den Fall, dass Gefahr drohte und andere Kunden nicht in den Laden lassen. Wir einigten uns darauf, dass ich sagte:
      „Sie können den Laden jetzt nicht betreten, da ist heute Inventur.“
Ich sollte dafür einen Anteil an der Beute erhalten.
Tony trug mir ferner auf, ich soll an dem Tag keine Boots sondern Turnschuhe tragen. Also fuhren wir mit der Linie 44 in die Stadt. Ich war sehr aufgeregt, denn es war das erste Ding, bei dem ich mitwirken sollte. Auf der einen Seite fühle ich mich irgendwie geehrt, als würde ich jetzt in einer höheren Liga spielen. Auf der anderen Seite fühlte ich mich wie ein willenloser Spielball, der in etwas hinein gerissen wurde. Es war ein beklemmender Zwiespalt. Jetzt saßen wir im Bus hinten in der Acer-Reihe. Es war ein Samstagmorgen und es ging auf die Mittagszeit zu. Tony sagte
      „Zu der Zeit ist die Kasse randvoll. Ich habe den Laden schon ein paar mal ausspioniert.“
Ich war mir sicher in nur 20-30 Minuten gemeinsam mit Tony „das Ding“ hinter mich gebracht zu haben. Mir war wirklich mulmig im Bauch, und ich traute mich nicht Tony zu widersprechen. Station für Station ging die Busfahrt weiter. Als der Bus jedoch die Bushaltestelle Belvedere anfuhr, schrie Tony plötzlich
      „Die Kontros kommen!“,
stand auf und lief zur hinteren Tür, drückte auf den Türöffner, als du Kontros ihm schon mit geballten Fäusten entgegen traten. Die Kontros hatten sogleich erkannt, dass da ein Schwarzfahrer türmen wollte. Tony schlug mit den Armen windmühlenartig wild um sich, sodass die Kontros ihn nicht festhalten konnten. Einem fiel die Brille vom Kopf. Es waren nur zwei Kontros, weiter vorne stand ein dritter, der mit geballten Fäusten hinzueilte und vergeblich versuchte einzugreifen. Einer hielt Tony zwar am Ärmel fest, sodass er seine Jacke verlor. Doch es half nichts. Tony lief jetzt blitzschnell entgegen der Fahrtrichtung weg. Einer der Kontros versuchte die Verfolgung aufzunehmen, doch Tony war einfach zu schnell. Er hatte ja auch lange Zeit Fußball gespielt, und war erst vor kurzem aus dem Verein geflogen, als er mit anderen Assi Rockern beim Diebstahl in der Umkleidekabine erwischt wurde. Er war auch kein schlechter Fußballer, durfte bloß seit dem Tag nicht mehr weiterspielen.
Die Kontros durchwühlten gemeinsam die Jacke und fanden keinen Identitätsnachweis. Ich saß hinten im Bus und drehte mich kurz um, sah aus dem Rückfenster Tony weiter bis zur Ecke sprinten und nach links einbiegen. Es sah wirklich kriminell aus. Natürlich wurde gleich ein Anruf an die Polizei abgelassen, die die Verfolgung aufnehmen sollte. Aber Tonys Komplize, ich, saß ja noch im Bus hinten in der Acer-Reihe, und der Bus war gut besetzt. Zum Glück verriet mich niemand. Die Fahrgäste, die um uns herum saßen, teilten den Kontros nicht mit, dass ich ja zuvor bei dem Schwarzfahrer saß und mich mit ihm sporadisch unterhielt. Da bin ich wirklich wieder mal mit einem blauen Auge davongekommen. Denn sonst hätten sie mich drängen können, den Namen preiszugeben. Ich konnte wie gewohnt mein Monatsticket vorzeigen, und die Fahrt ging weiter ohne Tony. Also war ich aus dem Schneider. Obwohl Tony nur Hardrock hörte und eine tätowierte Träne unter dem Auge trug, hätte ich ihn nie verraten, auch wenn sie mich gefoltert hätten. Ich fuhr in die Stadt und wusste nicht mal, welchen Jeansladen Tony für uns ausgesucht hatte, streunte etwas durch die Innenstadt, traf vielleicht  ein paar Gleichgesinnte oder ging zum Membran oder Tutti Frutti.
Jedenfalls landete Tony wenig später sowieso im Knast, in der JVA, nachdem er nachts in den Minimal Markt in Friedrichsort eingebrochen war. Vermutlich rammte er nicht nur einen, sondern mehrere zusammengesteckte Einkaufswagen mit voller Wucht in die Eingangstür aus Glas. Er schob sie nicht vorwärts, sondern rückwärts mit der Kante des Griffs voran, bis der Weg frei war und er den Laden betreten konnte. Er fuhr mit einem der Einkaufswagen durch den stockdusteren Laden, fuhr zum Spirituosenregal und packte den Wagen voll mit Spirituosen, fuhr zur Kasse und riss den Zigarettenkäfig auf, um stangenweise Zigaretten oben auf die Schnapsflaschen zu legen. Etwas anderes brauchte er nicht. Als er mit dem randvollen Einkaufswagen kurz darauf den Supermarkt durch die zerschlagene Eingangstür verlassen wollte, kamen die Cops bereits auf den Kundenparkplatz gefahren und nahmen ihn in Empfang. Er war sehr besoffen zu dem Zeitpunkt, versuchte zwar zu türmen, doch sie catchten ihn nach wenigen Metern. Schade, von der Beute hätte der halbe Stadtteil profitiert. Danach verschwand er erstmal für eine Zeit in der JVA. Daraufhin begann seine Suffschläger- und Raubkarriere erst richtig.
Im Nachhinein vermute ich, dass Tony mich nur deshalb verschonte, weil er ein Auge auf meine Schwester geworfen hatte. Er war auch der Typ, der später vom Acer vor dem Jugendtreff mit einem Schlag zu Boden gestreckt wurde. Droogs Don’t Run.







Die Exploited Message

Wir hörten extrem viel Exploited zu der Zeit, sangen im Suff "Exploited Barmy Army. Exploited Barmy Army. Exploited Barmy Army.“ Vielmann hatte die “Troops of Tomorrow“, ich die “Punks Not Dead“. Zudem besaß ich die Exploited/ Anti-Pasti Split-EP von Tutti Frutti, Vielmann besaß sein Exploited Army Life T-Shirt und die “Dead Cites EP“. Wir waren also gut ausgestattet. Ich bestellte mir bald sogar die Exploited live “On Stage“ mit rotem Vinyl bei Malibu, die sogar vorrätig war und vom Paketwagen an die Haustür geliefert wurde. Außerdem waren The Exploited auf mehreren beliebten Punk-Samplern vertreten, so auch auf Oi! The Album (“Daily News“, “I Still Believe in Anarchy“), dem Back-Stage Pass Sampler (“Crashed Out“), Burning Ambitions: A History Of Punk (“Dead Cities“), dem Punk & Disorderly 3 (“Computers Don’t Blunder“) und The Secret Life of Punks (“Dogs Of War“, “Army Life“). Wir konnten aber trotzdem nicht behaupten, dass wir Exploited-Hörer der ersten Stunde waren. Dafür fehlten uns noch ein bis zwei Jahre.
      Wir lernten schnell, was Exploited bedeutete, dass Exploited von dem englischen Verb “to exploit“ stammte, das auf Deutsch so viel wie ausbeuten heißt. Und genauso fühlten wir uns auch: ausgebeutet. Auch wir waren exploited. Ausgebeutet in der Schule, ausgebeutet von Ausbildern und Arbeitgebern, ausgebeutet von den Politikern, von der Werbeindustrie, von den Geschäftemachern und Trickbetrügern, ausgebeutet von der Propaganda.
Wir wussten, dass zu viel Exploited nicht gut für uns war. Hecker legte nie Exploited auf. Das war unter seiner Würde. Aber heimlich hat er bestimmt doch Exploited gehört. Ich fertigte mir in jungen Punk-Jahren sogar eine Exploited-Schablone an. Den Schriftzug muss ich von der „On Stage“ live LP abgepaust haben. Anders kann ich mir das nicht erklären, denn The Exploited hatten auf fast jeder LP einen anderen Schriftzug. Auch für diese Schablone verwendete ich die Papprückseite eines DinA3 Malblocks und ein Skalpell aus dem Keller meines Vaters, das noch in Alufolie eingeschweißt war. Es muss sogar meine allererste Schablone gewesen sein. Das war ein ziemliches Geritze und Geratsche. Ich nahm eine blaue kurze Arbeitsjacke meines Vaters mit dem Logo seines Arbeitgebers aus dem Keller, trug auf dem Rücken auf Schulterblatthöhe mit weißer Lackfarbe und einem Pinsel einen dicken Balken auf, ließ das Ganze trocknen, legte die Exploited-Schablone darauf und stellte noch ein paar kleine Gegenstände zum Beschweren und Fixieren der Schablone auf deren Ränder. Jetzt drückte ich ein paar Mal mit der schwarzen Spraydose ab, bis der Schriftzug „EXPLOITED“ in Großbuchstaben sauber aufgetragen war. Die Jacke hing die meiste Zeit in der hintersten Ecke meines Jugendschrankes. Diese Exploited-Jacke trug ich ein paar Mal auf unseren Pseudo-Strandpartys. Ich gehe davon aus, dass meine Mutter die Jacke in ihre Obhut nahm, um sie in die Mülltonne zu stopfen. Seltsamerweise war die labberige Exploited-Schablone bald ebenso unauffindbar. Aber wahrscheinlich hatte ich sie in Friedrichsort intern weitergereicht, wahrscheinlich an die Kids aus der Stromeyerallee.








Ami-Hardcore für alle

„Das nächste ist eine wunderbare Geschichte, wie sie der Punk zu schreiben vermag, die in meinem alten Kinderzimmer im Alter von 16 seinen Ursprung nahm.“

Nichts gab mehr Aufschluss über die Psyche eines aufstrebenden Teenage Punks oder eines Punk-Girls, als deren 7-inch Single-Sammlung. Jeder und jede besaß Raritäten die andere zum Staunen brachten. Jeder und jede besaß Perlen, für die andere im Extremfall hätten killen können.
Es gab schon seit den 70ern einen richtigen Hype auf Singles. Einige verschenken Singles an Freunde und wir kamen ihrerseits Singles geschenkt. Mit Pogo-Singles ließ sich tauschen und handeln. Sie galten als begehrte Sammlerobjekte, die die Augen zum Funkeln und zum Leuchten brachten. Bei Pogo-Singles von spannenden Bands solltest du grundsätzlich sofort zugreifen. Richtig neidisch wurde niemand, denn die anderen wussten, die befand sich im Besitz eines guten Freundes. Wir gönnten es uns gegenseitig, bloß mit dem Verleihen musste man vorsichtig sein denn 7-inches konnten schnell verschwinden. Ami-Hardcore-Platten waren inzwischen das Non-Plus-Ultra und sprengten musikalisch jede Kategorie. Aber nicht für jeden waren sie erschwinglich oder in Reichweite.
Selbst später populäre Bands wie Black Flag, Circle Jerks und Bad Religion waren teils nicht einfach zu beschaffen, oftmals erst, wenn sie als Europa-Pressung rauskamen.
Es sprach sich schnell rum, dass Leute sich mit Bargeld per Post Pogo-Platten aus den USA oder Kanada bestellten. Dazu gehörte auch Tonn und seine Sister $abrina. Das fanden wir mutig, denn viele hatten Angst, dass das im Kuvert versendete Geld verschwinden könnte. Dazu wurden entweder die Bands, Kontaktpersonen oder die Plattenlabels direkt angeschrieben, wenn die Plattenfirmen nicht zu groß waren wie SST, Dischord oder Alternative Tentacles mit ihren Ziehpferden Hüsker Dü, Black Flag, Minor Threat und Dead Kennedys. So wurden nicht nur Platten, sondern auch US-Punkzines, T-Shirts oder gar Skateboards bestellt. Das dauerte zwar gefühlte Ewigkeiten, aber es funktionierte. Es war teuer, aber die Sachen hatten einen andauernden ideellen Wert.
Wer es schaffte, US-Punkzines zu organisieren, hatte ohnehin jede Menge Kontaktadressen zur Verfügung. Du musstest im Prinzip nur bei einer Bank Dollar-Scheine bestellen. Das war mir persönlich schon zu viel Kapitalismus auf einmal. Da ich das nicht wollte, blieb mir fast gar nichts anderes übrig, als bei Vinyl Boogie zu bestellen. Denn Vinyl Boogie hatte regelmäßig US-Hardcore im Angebot, für den Standardpreis von sechs D-Mark, vielleicht waren es auch mal acht D-Mark, weil es eine Importscheibe aus den USA war.
Jetzt wollte auch ich unbedingt ein paar US-Raritäten einheimsen, die später mitunter einen hohen Sammlerwert abwerfen könnten. Allerdings traute ich mich nicht, in den USA zu bestellen. Ich hatte ja inzwischen ein Postsparbuch, aber kein Konto bei einer richtigen Bank über das ich an Dollarscheine hätte kommen können. Dabei hätte ich nur den älteren Bruder von Schrullenhuber Fragen müssen, denn der hatte stets einen Dollarschein dabei, wenn er abends am Wochenende in Kneipen wie das Einstein am Jägersberg oder in die Disco, meistens die Buddha-Disco, ging. Der Dollarschein befand sich in der Brusttasche seines Jackets, und schaute oben ein paar Zentimeter heraus. Allerdings nicht, um damit zu zahlen, sondern um damit zu blenden. Irgendwo sahen wir ihn immer, lachten schallend hinterher und riefen
      „Alter, hast du mal ein Dollar für uns?“
Ich bestellte schlussendlich bei Vinyl Boogie, was meinen Pseudo-Status weiter bestätigte. Für Direktbestellung aus Amiland war ich einfach zu schlecht informiert. Stattdessen bestellte ich bei Vinyl zwei Pogo-EPs von US-Hardcore-Bands. Es dauerte wie gewohnt zehn bis 14 Tage, bis das Paket aus Berlin in Kiel eintraf. Der pissgelbe Paketwagen fuhr in aller Seelenruhe durch Pries-Friedrichsort, und ich fuhr ihm manchmal mit dem Fahrrad hinterher, wenn ich ihn an der Haustür verpasst hatte, weil ich zu laut Punk hörte. Bloß nicht wieder nach Gaarden zur Postfiliale Karlstal. Da ging einfach zu viel Zeit drauf. Und Krake hätte uns erwischen und wegklatschen können. Oder Hotten und die anderen Urgesteine, bei den ganzen Horror-Geschichten, die Brandy uns erzählt hatte. Und es war sogar noch schlimmer.
      In dem Paket befanden sich die zwei besagten US-Hardcore Pogo-EPs, eben Anti-Hippie Musik. Die Freude war groß. Als ich sie in den Händen hielt, konnte ich nicht beurteilen, ob es ein typisches Punk-Erzeugnis der USA war und musste mich damit zufrieden geben. Es gab immer wieder mal Nepp, auf den die jungen Punks hereinfielen, gerne auch mit leiernden Bootlegs. Doch diese zwei Pogo-EPs waren astrein.
      Ich sah mich inzwischen mit 16 selbst schon als Schwergewicht der Punkszene. Doch die Freude währte nicht lange. Die erste EP kam innerhalb Rekordzeit abhanden. Ich kann mich nicht mal mehr an den Namen dieser US-Pogo-Band erinnern. Ich weiß nicht wie, ich weiß nicht wer zugriff. Wahrscheinlich war es wieder eine Plattenaufteil-, Verteil- oder eine unübersichtliche Verleihaktion. Es kotzte mich an. Ich hatte die EP erst zwei oder dreimal gehört, als sie plötzlich in meinem Zimmer unauffindbar war. Die andere blieb in meinem kleinen aber feinen Single- und EP-Stapel. Die verbliebene EP war von der Band Sick Pleasure aus San Francisco. Anfangs wirkte das Cover von Sick Pleasure extrem pervers. Die Zeichnung auf dem Cover hätte ich mit meiner vier in Kunst auch hingekriegt, so mein erster Eindruck. Darauf war ein gezeichneter Punk abgebildet, der einen Knoten im Pimmel und Stoppeln auf dem Sack hatte. Das sah ich genau, es waren eher Stoppeln als Haare. Der Punk auf dem Cover schien Pogo zu tanzen und trug Nietenfußschellen oder Fußfesseln. Am rechten Oberschenkel war eine Batterie von Spritzen befestigt. Der Pogo-Punk trug ein Armband und eine E-Gitarre in der rechten Hand, die nur drei Seiten besaß und bei der das Gitarrenkabel nach rund 20 Zentimetern abgerissen war. Der Kopf des Pogo-Punks der keine Haare hatte, war mit einem Gürtel abgeschnürt, so dass der Schädel sich verformte. Der Punk hatte ein paar Stoppel auf dem Kopf, einen Riss im Schädel, trug ein weißes Muskelshirt mit dem Bandnamen Sick Pleasure und einen Totenkopf auf gekreuzten Knochen. Das rechte Auge fehlt, bei dem linken war die Pupille stechend schwarz und stecknadelgroß, der Rest des Auges war weiß. Er hatte eine Oink-Nase, die lange Zunge hing ihm aus dem Mund, aus der sogar Killernieten hervorragten. Der Punk trug keine Hose, hatte eine lange Narbe auf der linken Fußsohle mit sieben Stichen. Hinter dem Punk der offensichtlich in der Luft schwebte, befanden sich Hochhäuser, die krumm und schief standen, als kippten oder bebten sie. Im Hintergrund links stieg ein Atompilz auf. Auf meiner Sick Pleasure EP befanden sich sieben Pogo-Songs: Speed Rules, I Wanna Burn My Parents, Love Song, B.N.S., Disintegration, Try To Break Me, Time To Change.
      Der Song Disintegration gefiel mir davon am besten. Mir war gleich klar, was mit Disintegration gemeint war, denn bei uns gab es ja immerhin die Integrierte Gesamtschule. Rein intuitiv konnte ich den Begriff jetzt einordnen. Ich kombinierte. Disintegration musste das Gegenteil von Integration sein, ein Begriff der im Deutschen nicht existierte. Das gab mir zu denken. Hätte ich trotzdem den Begriff Disintegration - oder eingedeutscht Desintegration - in meinem Umfeld verwendet oder sogar am Mittagstisch, hätte ich mich verdächtig gemacht. Inzwischen fand ich das Cover schwach und krickelig, hätte es aber selbst nicht besser hinkriegen können. Auch die sieben Songs fand ich zunächst nicht gerade überragend. Es war aber trotzdem meine erste US-Hardcore Single, abgesehen von der zweiten Single, die mir mit hoher Wahrscheinlichkeit von ****** gezockt wurde. Und ich hütete die Sick Pleasure wie eine junge Japanerin ein Tamagotchi.
Ich hatte die Single nie jemandem vorgespielt und niemandem ausgeliehen, sah bereits wieder die Glotzis der anderen und behielt die EP einfach für mich. Ich hatte auch nie vor, sie jemandem offensiv auszuleihen oder wenn jemand danach fragte, wenn er sie in meinem Single Stapel entdeckte. Hatte sie auch nie auf ein Sampler-Tape kopiert, um sie anderen auf einer Zelt-Tour, beim einem Picknick oder in der Straßenbahn nach Wellingdorf vorzustellen. Sicher fragte mal jemand beim Stöbern in meinen Platten bei einer Ausleihaktion:
      „Was ist das denn?“
      „Habe ich schon länger.“
      „Und passabel?“
      „Nja, nicht dein Ding.“
      „Lohnt nicht?“
      „Näh.“
Rückblickend verbinde ich mit dieser Single mein Elternhaus, eine anscheinend heile Welt, Gewalt sowie Brutalität, den Blick aus meinem Jugendzimmer auf den Abbi, wo wir soffen, und ein Stück weit Lebenseinstellung. Fazit: Ohne Sick Pleasure keine NDK-Kids. Es dürfte schwierig sein mir die EP noch einmal zu besorgen, denn sowas findest du hier nicht so einfach auf dem nächsten Flohmarkt. Vielleicht in den USA auf dem Flohmarkt in der Stadt aus der die Band stammte. Also in San Francisco.
Obwohl die EP so abgefuckt und kopfkrank war, ja regelrecht subversiv, vermittelte sie mir Vertrautheit, Geborgenheit und eine heile Welt. Ich hangelte mich immer wieder an der Sick Pleasure EP hoch und konnte mich an ihr festhalten. Wahrscheinlich erweckte gerade das Subversive daran mein Interesse. So mussten typische amerikanische Jugendliche gewesen sein wie die auf der Cover-Rückseite.
      Bei jedem Plattenspieler wurde das Vinyl auf der Plattentellerachse fixiert, mit einem kleinen Metallstift von rund sieben Millimetern Durchmesser. Dieses Loch im Vinyl besaß abgesehen von der praktischen Funktion auch eine semantische, zumeist eine sexuelle. Laut Lehrertum ist das Mittelloch im Zentrum einer Platte, ob LPs, ob Single oder 12-inch, weiblich, während die Tellerachse männlich war. Oder ist das Quatsch? Die knapp 7-mm-Plattentellerachse konnte aber auch als Auge oder Zunge oder Ähnliches fungieren, je nachdem, was auf dem Labelaufdruck abgedruckt war. Der Trend wurde von den Finnen gepuscht, die allerdings mit dem Löchle eher Genitalien und sekundäre Geschlechtsmerkmale versteckten und so zu zensieren versuchten. Das beeinträchtigte nicht die Laufruhe des Plattentellers. Es war eben nur ein optischer Gag im Zentrum der Platte. Und wenn eine neue Platte mit ihrem Plattenloch für die Achse des Plattentellers tatsächlich mal zu eng war, was bei schlechten Pressungen hin und wieder vorkam, reichte es das Plattenloch mit Kugelschreiber etwas zu erweitern.
     Auf dem Label-Aufdruck der Sick Pleasure EP direkt auf dem Vinyl befand sich auf einer der Seiten der Totenkopf auf gekreuzten Knochen, der auch auf dem Muskel-Shirt der kaputten Punk-Comicfigur auf dem Cover zu sehen war. Der Achsenstift des Plattenspielers stach genau dort durchs Vinyl und dem Label-Aufdruck, wo sich der Mund des Totenkopfes auf gekreuzten Knochen befand. So drehte sich der Totenkopf in 45 rpm im Kreis. Das wirkt hypnotisch-subversiv. Das hat was. Das mag jeder Punk und jedes Punk-Girl.
Doch bald hörte ich die EP eine Weile nicht mehr. Als ich sie schließlich erneut auflegte, gefiel sie mir bestialisch gut, auch das Cover, dass ich anfangs ablehnte, gefiel mir immer besser. Es erinnerte mich jetzt an die U-Comix, die man Großvater immer von seinem Arbeitsplatz am Fliegerhorst mitbrachte. Ebenso wie Das Phantom, Hulk, Gespenstergeschichten, St. Pauli-Nachrichten, Schlüsselloch und leider auch Landser.
Plötzlich fand ich die ganze EP von Sick Pleasure obergeil, ich war jetzt sogar noch stolzer auf die EP, als zu der Zeit als sie frisch war. Doch leider Gottes brauchte ich irgendwann wieder Geld. Schweren Herzens gab ich die EP weg. Da verkaufte ich sie in einem Moment der geistigen Umnachtung an Ralle, den Hai, zusammen mit weiteren Punk Singles, ohne besonders viel Gewinn rauszuschlagen. Das passierte immer wieder mal.
Schnell bereute ich den Deal. Es war als hätte ich etwas Vertrautes und Eingefleischtes weggegeben. Später wog der Verlust schwerer. Es war als hätte mir jemand ein Stück Fleisch aus dem Leib geschnitten, als hätte mir ein Hai etwas aus der Flanke gebissen. Zum Glück hatte ich die EP zusammen mit anderen vertickten Singles zuvor auf ein beständiges TDK-SA90 Tape überspielt.








Die pissgelbe Leuchtreklame

„Ich frage mich bis auf den heutigen Tag, wie ein Jugendlicher nach dem Abbruch seiner Elektrikerausbildung dermaßen tief abstürzen konnte. Das sollte uns allen zu denken geben.“

An diesem Tag war ich mit Vielmann in der Stadt unterwegs. Vielmann hatte in den Wochen seinen Ausbildungsplatz als Elektriker verloren und stand auf der Straße.
      Wir gingen gerade die Holtenauer hoch zwischen Gneisenau- und Esmarchstraße, an deren Häuserfront sich sowohl das Metro-Kino befand und bis vor Kurzem das Tutti Frutti.
Es war an einem frühen Samstagnachmittag, und wir waren bereits so besoffen, dass wir nicht mehr gerade laufen konnten. Ich weiß gar nicht, wo wir hin wollten.
Wir waren dermaßen knülle, dass wir für diesen Straßenabschnitt eine gute halbe Stunde brauchten. Doch was war geschehen? Wir hatten dermaßen gesoffen, dass wir uns gegenseitig stützen und mitziehen mussten? Das allein war schon Skandal genug. Noch vor dem Metro gingen wir an mehreren pissgelben Ziegelsteinen vorbei, die dort einfach so auf dem Bürgersteig lagen, bis wir rechts neben uns einen Juwelierladen erblickten. Wir schauten kurz ins Schaufenster.
      „Ist das ein Amethyst?“
      „Guck mal die Rolex.“
Zu dieser Zeit waren viele Geschäfte mit Sicherheitsglas ausgestattet, das im Zentrum der Scheibe ein kleines Stahlnetz eingelassen hatte, um die Gefahr des Glasbruchs zu minimieren. Das war auch bei dieser Scheibe der Fall.
Plötzlich ging Vielmann zurück zu den paar Ziegelsteinen, griff sich einen der Steine, taumelte in Richtung Juwelierladen und stellte sich im Abstand von weniger als drei Metern vor die Fensterscheibe. Er holte aus. Ich rief noch
      „Oh Alter, spinnst Du?“
und versuchte ihn abzuhalten. Doch er ging in die Wurfbewegung über und schleuderte taumelnd den Stein in Richtung Juwelierscheibe. Ich sah den schweren Stein wie in Zeitlupe durch die Luft fliegen. Mein Atem stockte. Es machte laut Bums. Der Ziegelstein knallte direkt an den feinen Mauervorsprung an der unteren Fensterkante, traf aber auch die Scheibe. Vielmann dachte wohl, das sei nicht so schlimm, zumal sich innerhalb des Fensters das Drahtnetz befand.
Vielmann taumelte nach dem Wurf immer noch und drohte das Gleichgewicht zu verlieren, bis er sich wieder stabilisierte. Ich blickte mit weit aufgerissenen Augen zur Scheibe.
Wir begutachteten den Schaden. Zwar war an der Kante des Mauerwerks unterhalb der Scheibe etwas Abrieb zu erkennen, doch die Fensterscheibe war bis auf klitzekleine Aufschlagsspuren intakt.
      „Bist du wahnsinnig?“
Vielmann schnaubte vor Wut.
      „Lass uns bloß abhauen!“
Solche Aktionen waren deshalb möglich, weil der Einzelhandel in der Holtenauer am Samstagnachmittag bereits geschlossen hatte.
Wir versuchten schnell wegzukommen, doch wir waren einfach zu besoffen, sodass wir bereits nach wenigen Metern wieder in den alten Trott verfielen und uns gegenseitig stützen und ziehen mussten. Obwohl wir bergauf gingen, waren wir am Tiefpunkt.
Ein paar Meter weiter blieben wir mit aufgerissenen Augen vor dem Metro stehen, um die Plakate mit den Filmangeboten zu studieren.
      „Läuft wieder ‘Im Foltercamp der Liebeshexen‘?“
      „Lass uns bloß weiter.“
Mir schauten im Vorbeigehen immer, was im Metro lief. Manchmal zahlten wir Eintritt für Filme mit Altersbeschränkung ab 12, gingen ins Kino, verließen es jedoch noch während der Werbung durch den Notausgang, um uns in einen der anderen Kinosäle zu setzen, in dem ein Film ab 18 lief. So zahlten wir einmal für den Teenager Liebesfilm „Blaue Lagune“ (FSK 12) in Kino 1, um uns auf Anraten von Schrullenhuber illegal in den Sexploitation-Film „Das Foltercamp der Liebeshexen“ in Kino 2 zu begeben. Das war der schlechteste Film, den ich in meinem Leben gesehen habe.
Zurück zum besagten Samstagnachmittag. Fast an der Ecke oben kamen wir an einem kleinen Optikerladen vorbei, der sich direkt an dem ehemaligen Tutti Frutti Laden befunden haben musste. Oben am Geschäft war eine Leuchtreklame in Brillenform angebracht, die im rechten Winkel vom Mauerwerk abstand. Obwohl wir gerade mal 50 bis 100 Meter nach dem Vorfall beim Juwelierladen getaumelt waren, schien der Vorfall von eben und die Angst vor den Cops wie weggeblasen. Wir konzentrierten uns jetzt voll und ganz auf unser neues Zielobjekt, die pissgelbe, brillenförmige Leuchtreklame.
      „Gib mal Feuerleiter!“
sagte Vielmann.
      „Was hast Du vor?“
fragte ich. Vielmann antwortete nicht. Jedoch peilte ich intuitiv, was er plante.
      „Lass uns die Brille klauen.“
      „Ey, hier laufen doch Leute rum.“
Also stellte ich mich neben Vielmann unterhalb der Leuchtreklame und bildete mit beiden Händen eine Feuerleiter. Vielmann setzte seinen rechten Fuß in meine Hände und drückte sich nach oben. Er ruderte ein wenig mit den Armen, schaffte es jedoch den Unterteil des Brillengestells zu greifen, erst mit der rechten, schließlich auch mit der linken Hand. Doch ich verlor das Gleichgewicht, taumelte zur Seite, sodass Vielmann zwar noch den Bruchteil einer Sekunde an der Leuchtreklame hing, jedoch unmittelbar darauf abstürtzte und auf dem Bürgersteig knallte. Die Brille wackelte und machte leichte Knartschgeräusche im Mauerwerk. Etwas Putz rieselte zu Boden. Er saß jetzt auf dem Hosenboden. Wir bekamen einen Lachkrampf und gackerten laut los bis zur Atemnot.
Ich musste mich vorne übergebeugt mit den Händen auf den Knien abstützen, da ich mich vor Lachen nicht mehr halten konnte.
      „Lass uns abhauen.“
      „Wir holen die Brille noch!“
schwor Vielmann.
    „Lass uns erstmal weg hier. Die Brille reißen wir nachher noch runter.“
Wir bogen sicherheitshalber an der nächsten Ecke in die Esmarchstraße ein und schmiedeten weiter Pläne, wie wir uns die Brille holen könnten.
      „Wenn wir uns zu zweit an das Gestell hängen, kracht das Ding runter.“
Keine Ahnung wie der Abend noch endete. Die Sache war jedenfalls ganz schön verboten.  









Der Trümmerberg

In der Schule plätscherte die Zeit so vor sich hin, und als ich eines Nachmittags in die Stadt fuhr, Alter, da waren die f*cking besetzten Häuser nicht mehr da. Das war die Hölle. Ich, alleine in der Stadt, kriege erstmal einen mega Schock. Statt der alten Häuser befanden sich da überall riesige Trümmerberge. Alle fragten sich,
      „Was geht denn hier ab?“
Überall liefen Leute rum, blieben stehen, guckten auf die Trümmer, gingen weiter, verharrten erneut und glotzen wieder wie Autos. Einige sahen so aus als ständen Sie an einem Grab oder gingen über einen Friedhof um wieder und wieder stehenzubleiben und zu schauen. Und Cops waren zu sehen, als drohe eine Straftat oder als gelte es Präsenz zu zeigen. Die Passanten und Schaulustigen wirkten alle völlig entgeistert und betroffen. Auch viele alte Leute liefen in ihren grauen Mänteln umher, mit Hüten, einige mit Einkaufstaschen und bunten Tüten von Karstadt, C&A, Hertie und Weipert und blieben teils minutenlang stehen und starrten kommentarlos auf die Trümmer. Die C&A Tüten gefielen mir am besten. Viele kleine Punkte, wie die bunten Bildpunkte bei einem Fernsehbildschirm mit Kathodenstrahlröhre. Die waren wichtig beim Entleihen von Platten.
      „Geile Tüte!“
      „Das ist meine, die gibst du mir wieder!“
Besonders die älteren Kieler starrten fassungslos auf die Schotterhaufen wie nach einer Katastrophe, nach einem Meteoriteneinschlag. Einige schüttelten den Kopf. Ground Zero an der Förde ’83, abgesperrt und bewacht. Grau und geplant.
Auch ich musste mich erstmal am Kopf kratzen, als ich sah was da abgegangen war. Das Unheil war angerichtet. Kiel war um mindestens zwei Häuserblöcke ärmer. Da wurde erst das Ausmaß so richtig deutlich, dass die Stadt und ihre Strippenzieher ernst machen würden. Wir hatten alle nicht wirklich realisiert, was den Hippies und der Punkszene da blühte, als wir plötzlich diese riesen Schneise in der Innenstadt sahen, eine riesengroße Lichtung, ein Kahlschlag, und du konntest hunderte von Metern weit sehen, ohne dass da überhaupt ein Haus stand. Das sah im Prinzip aus wie im Krieg, wie nach einem Bombenangriff.
      „Sophienblatt ausgebombt.“
      „Hausbesetzer in Not.“
      „Nichts als Trümmer.“
      Die Leute waren alle wirklich baff, und so langsam verbreitete sich die Hiobsbotschaft bis in den letzten Winkel der Stadt, dass die besetzten Häuser jetzt tatsächlich abgerissen waren. Jetzt wurde uns der ganze Frevel erst so richtig klar, dass die Machthaber für eine Handvoll Dollar einige der schönsten Häuser Kiels plattgemacht hatten inklusive seltenen Stuckaturen, richtig hübschen Treppenhäusern, seltene Kacheln und tollen Fenstereinfassungen, weil die Häuser plötzlich ohne Denkmalschutz da standen. Viele Kieler fühlten sich persönlich verletzt, als sie checkten, wie radikal die Stadt ihre Hirngespinste durchzusetzten bereit war. Wir sahen das ja immer wie im Zeitraffer in großen Schritten. Erst gab‘s Proteste, danach wurden die Häuser geräumt, später standen sie leer. Beamte glotzten, schätzten ein und vollzogen den Willen der bundesverdienstkreuzverdächtigen Baumafia Neue Heimat und ihre United Mafia-GmbH in Politik und Wirtschaft. Zufriedene Altnazis. Flächen wurden umzäunt. Plötzlich tauchten Baufahrzeuge, Abrisstechniker, Bauarbeiter und Schergen auf, anschließend wurden die Häuser abgerissen, hinterher lagen da die ganzen Trümmerteile, bewacht von Schergen. Nach und nach wurden die Trümmerberge immer weiter abgetragen, später war da wirklich Brachland im Stadtzentrum. Und es gab temporär jede Menge Parkplätze. Auf einmal ging das wie bei einer Kommandoaktion mit dem Bauen los, und später eröffneten die doch tatsächlich diesen f*cking Einkaufskomplex, den keiner brauchte und niemand wollte, vis-à-vis zum Hauptbahnhof. Und dazu Lügen in der Zeitung? Es solle „Parkraum“ geschaffen werden, die Neue Heimat plane hier die „Zukunft“, ein 100 Millionen-DM-Bauvorhaben der Neuen Heimat, die Fußgängerströme sollen in die erste Etage des Einkaufskomplexes „umgeleitet“ werden, heute titelten sie „Rollerdisco - Hotel - attraktive Geschäfte“, morgen „Geschäfte, Büros und 207 Sozialwohnungen“. Oder wurde die Zeitung überlistet, geprellt oder gar angewiesen?
Und schlussendlich wundern sich die Lehrer*innen in den Schulen, dass die Schüler*innen immer radikaler werden, immer abgefuckter wurden, sich die Haare schwarz, blond oder sogar bunt färbten.
      „Ist Anke jetzt Gruftie?“
Und der Mathelehrer aka Kon-Rektor schlug wieder zu, ohrfeigte Schüler rechtskonform mit rechts, die sich Namen von Punkbands und Slogans auf die Lederjacke malten. Plötzlich gab es immer mehr Drogentote in Kiel, darunter sogar die Tochter des Rektors, viele aus gutem Hause.  
Die Kinder hofften auf die versprochene Rollerdisco, obwohl doch inzwischen Skateboard angesagt war und zum Glück die ersten Skatepunkbands existierten. Die Punks, teils selbst noch halbe Kinder, soffen in der Waschhalle, auf dem Spielplatz oder am Asmus-Bremer-Platz. Die Hertie-Gang starb langsam aus. Erste Grufties wüteten auf den Friedhöfen. Eine Flasche Wein wurde zerschlagen. Zigarettenkippen. Gebrauchte Kondome in dunklen Ecken. Mehr Kotze, mehr Blut, mehr Kiel. Heroin marsch! U-Bootdeals. Mehr Abziehdelikte. Und da, eine Heroinspritze. Scherben. Leichen. Psychos. Popper. Bomberjacken. Tote Tramperinnen. Ermordete Prostituierte. Kiel lebt! This is … usw. Punk.








Die Telefonzelle in der Gustav-Falke-Straße

Der letzte reguläre Bus aus der Stadt fuhr um drei nach halb eins. Dieser Bus der Linie 64 fuhr durch den Ort und nicht „obenrum“ über Hohenleuchte. Das bedeutete, dass alle Fahrgäste, die in der nordwestlichen Hälfte von Pries-Friedrichsort wohnten, an der Haltestelle Grüffkamp aussteigen und weiter in Richtung Neue Heimat gehen mussten. Wir liefen in Scharen von besagter Haltestelle Grüffkamp in unsere Wohnbereiche, bölkten, stritten, verbrüderten uns. Manchmal wurde randaliert. Manchmal gab es Drohgebärden und Pseudo-Schlägereien. Manchmal zog sich der Strom der jungen Leute immer weiter in die Länge, wenn über 20 Personen am Grüffkamp den Bus verließen. Und alle kannten sich aus dem Treff, vom Abbi, vom Sportverein oder aus der Schule. In der Gustav-Falke-Straße stand zu der Uhrzeit immer ein Macker am Fenster im Feinrippunterhemd. Er rauchte im Hochparterre eine Zippe und musterte uns. Danach konntest du die Uhr stellen. Wir bekamen jedes Mal einen Lachflash, wenn wir ihn in seinem Unterhemd seine Zigarette durchziehen sahen. Er wirkte wie ein lebendiges Porträtbild im Fensterrahmen. 50 Meter weiter stand eine Plastik namens Windharfe auf einer Wiese, die eine Figur darstellte, die im Sitzen mit überschlagenen Beinen Harfe spielte. Ein Stück weiter direkt am Bürgersteig stand eine pissgelbe Telefonzelle, daneben ein pissgelber Postkasten. Hier wurde fast jedes Wochenende randaliert, wenn die Masse dort gegen ein Uhr nachts vorbeiströmte.
      Einmal ging ich mit meinem Halbcousin, mit dem ich meistens Stress hatte, nachts an besagter Stelle vorbei. Das muss kurz nach den Chaostagen 1983 gewesen sein, als ich nicht nur im Suff wie ein schnaubender Stier durch die Gegend lief. Zu der Zeit sah ich einfach nur rot und scherte mich weder um meine Zukunft noch um meine Gesundheit. Ich wollte einfach nur kaputt machen und zerstören. DESTROY. SMASH. CHAOS !
An diesem Abend hatte bereits jemand versucht den Telefonhörer vom Kabel zu reißen. Diese Kabel mit Metallmantel sahen so aus wie die Wasserleitungen zum Duschkopf einer Einbaudusche.
Ich war in der Stadt mit den Punks trinken, torkelte in voller Punkmontur von der Haltestelle Grüffkamp, ja taumelte regelrecht, durch die Straße Achterwurth am Zigarettenladen vorbei die Gustav-Falke-Straße entlang. Auf halber Strecke schloss mein Halbcousin, Maschine genannt, zu mir auf. Vor und hinter uns liefern weitere Nachtschwärmer. Cousinchen nahm mich gleich verbal in die Mangel:
      „Was sollen deine Eltern denken, wenn die dich in der Nietenjacke und mit der Punkfrisur sehen?“
      „Ist mir egal!“
Seine Moralpredigt ging weiter.
      „Ich glaube ich muss mal wieder mit deinem Vater sprechen.“
      „Tu, was du für richtig hältst.“
So ging das die ganze Zeit, und so war ich es von meinem Halbcousin gewohnt, der sich eher der Rockerszene zurechnete und etwas bräsig in der Birne war. Allerdings hörte er neben all dem Hardrock die zweite Toy Dolls LP “A Far Out Disc“, was ich ihm hoch anrechnete.
      Als ich jetzt auf die Telefonzelle zusteuerte, mein Halbcousin lamentierte wieder pseudo-pädagogisch über irgendein Thema, stoppte ich, visierte das Telefonhäuschen an und trat energisch mit meinen bemalten Bundeswehr-Boots gegen die Glasscheibe der rechten Außenwand. Mit einem lauten Klirren zersprang die Scheibe in Tausend Teile. Spitze große Scherben flogen durch die Luft. Es schepperte fürchterlich, als das Glas an der Einfassung und auf dem Boden zerbarst. Das war pure Gewalt. Es schepperte mit nur einem Tritt bestimmt zwei bis drei Sekunden, bis das Glas von der Einschlagstelle bis zu dem Aufprallort auf dem Boden in und neben der Telefonzelle niederkrachte. Einige Nachtschwärmer jubelten. Andere riefen
      „Was soll das?“
      „Ey!“
      „Scherben bringen Glück!“
      „Idioten!“
      „Randale!“
Teilweise gingen Lichter in den Wohnblocks an. Wir wussten, dass die Friedrichsorter Schergen bei solchen nächtlichen Vorfällen mit vielen Beteiligten sehr lahmarschig sein konnten, zumal unser weiterer Weg durch ein Nadelöhr zwischen den Häusern führte, durch das kein Auto passte.
      Mir war im Suff gar nicht so richtig klar, wie gefährlich ein Fußtritt durch eine dicke Glasscheibe war. Ich hätte mir den ganzen Unterschenkel aufschneiden, oder die Scherben hätten sich durch die Boots bohren können. Ebenso könnte die Wade in die langen Splittern hängen bleiben. Das war tatsächlich schon mehreren jugendlichen Randalieren in meinem Umfeld passiert, die nach solchen Aktionen sofort ins Krankenhaus mussten, um nicht zu verbluten. So geschah es übrigens dem Azubi Trabbel, der vor der großen Spielhalle in seiner Blutlache lag. Doch aufgrund des Alkoholkonsums und der blinden Wut, die wir entwickelten, war uns die Gefahr nicht so ganz bewusst. Der Tritt in die Telefonzelle war für mich ein Ventil, da mir die belehrenden Worte des Halbcousins zusätzlich zu all meinem Privat- und Schulstress auf die Nerven gingen. Ich wollte mich so abreagieren und verdeutlichen, dass ich alles nur noch Scheiße fand. Diese Randale-Aktion brachte jedoch den Halbcousin erst richtig auf die Palme. Er sagte
      „Das finde ich nicht gut von dir. Das werde ich deinem Vater erzählen.“ 
Der Tritt durchs Glas war fast genauso dumm wie mit der bloßen Faust eine Fensterscheibe oder einen Spiegel an der Wand zu zertrümmern, was in der Szene auch immer häufiger geschah, seitdem die Black Flag LP Damaged auf dem Markt war. Auf dem Cover der LP ist ein Skinhead abgebildet, der mit seiner Faust einen Spiegel zertrümmert. Unter uns Punks gab es diverse Nachahmer.
Zu der Zeit soff ich regelmäßig am Freitagabend mit Kumpels in meinem Zimmer. Wir hörten lauten Punk, vor allem Black Flag, Infa Riot, Toy Dolls, Dead Kennedys, Business oder Peter and the Test Tube Babies, und soffen das Bier aus dem Vorratskeller meines Vaters.
      Es passierte immer häufiger, dass mein Halbcousin am frühen Abend meinen Vater aufsuchte, ihn Mike nannte, mit ihm Bierchen trank, während ich mit meinen Kumpels oben soff. Es war schon ein beklemmendes Gefühl zu wissen, dass die zwei unten in der Wohnstube saßen und fast ausschließlich über mich und meine Kumpels herzogen. Mein Vater war bestens informiert, wenn mein Halbcousin freitags aufkreuzte und Bericht erstattete, was ich für ein Schurke sei. Schlussendlich wurde die zerschlagene Telefonzelle thematisiert. Mein Vater nahm das zur Kenntnis.
Maschine lehnte Punk striktweg ab. Der Stil war ihm zu rüde. Außerdem fand er Punkmusik und Punks unerträglich. Er mied Punk, wo es nur ging und ergriff teils die Flucht, wenn Pogo-Musik lief. Das war sein Feindbild Nummer 1, und deshalb sollte ich auch abschwören von diesem „Irrweg namens Punk“.
      Später war die Schadenfreude sehr groß, als sich herumsprach, dass ein anderer Friedrichsorter meinem Halbcousin Maschine einen Dartpfeil in die Kniescheibe warf, der richtig fest steckte und nur mit größter Kraftanstrengung von Ersthelfern aus der Kniescheibe herausgezogen werden konnte. Der Täter wurde im ganzen Stadtteil abgefeiert.







Ferienlager Falkenhorst

Im Hochsommer ging es gut ab im Ferienlager Falkenhorst am Falckensteiner Strand. Ich fragte mich übrigens immer wieder, weshalb  Falkenhorst mit K und Falckenstein mit CK geschrieben wurde und wechwechselte es trotzdem. Es war ganz sicher kein Überfall, als welches es Polizei oder Presse in vergleichbaren Fällen allzu gerne ausdrückten. Solche Desaster ergaben sich automatisch aus dem Chaos, wenn alle beschmettert durch die Gegend eierten und keinen Check mehr hatten. Leute stolperten, taumelten in Ferienhäuser, witterten fette Beute in Zelten, Abstellkammern und Kellern, randalierten, legten sich pennen oder mit Urlaubsgästen an, und schon war das Massenchaos da mit Tumulten, Alarm, Gekreische, „der-kann-nichts“- und „Hau-ihm-eine-rein“-Rufen, Verletzten und Cops.
     Es machten immer wieder Gruppen von Jugendlichen Stress in diesen Breiten. Auch Straßenclubs trieben sich hier im Sommer rum, machten Party bis der Stress automatisch startete, Mad Fighters oder Living Deads und garantiert auch Mad Boys. Die Tigers blieben ja eher auf dem Ostufer. An der Feuerstelle trafen sich gerne mal Motorradclubs, die den Platz gemietet hatten. Ebenso am alten Schießstand Kahlenberg, wo die SDAJ jedes Jahr ein Festival veranstaltete, bei dem die Musik bei entsprechender Wetterlage über die Förde bis nach Laboe zu hören war. Die Leute von der SDAJ wollten immer diskutieren. Solche Partys checkten wir grundsätzlich ab. Als Einheimische konnten wir uns das erlauben. Und wenn wir den Rockern sagten, dass wir aus Friedrichsort kamen, wurden wir als Ureinwohner toleriert oder weggescheucht. Aber selbst bei Motorradclubs konntest du mit viel Geschick ein Bier schnorren.
Auch am Lagerfeuerplatz und am Platz Kahlenberg vermochte die Stimmung zu kippen, und es konnte zu Schlägereien oder gar zu Jagdszenen kommen. Wenn Motorräder in Reihen geparkt waren oder identische Kutten gesichtet wurden, war etwas Größeres im Gange und wir mussten uns zurücknehmen. Unterschiedliche Jugendgruppen zogen sich im Vollsuff instinktiv an. Schließlich gab es nur drei Optionen: aus dem Weg gehen, verbrüdern oder Kriegsfuß. Wenn Jugendliche aus unterschiedlichen Subkulturen und Stadtteilen zusammen mit Kasi-Rekorder feierten, musste bei der Musik ein Kompromiss gefunden werden. Es gab diese Bands, die von beiden Seiten akzeptiert wurden, es gab den Crossover, es gab Hardrockbands, die bei beiden Seiten ankamen, so auch Motörhead. Auch die ersten Hosen-LPs wurden bejaht, vor allem die „Ein kleines bisschen Horrorshow“. Und mit dem Frieden konnte es irgendwann vorbei sein, wenn die falsche Musik lief.
Hier und da kreisten Joints. Hier und da f*ckten Pärchen an den Sanddünen. Sink with California.
Punk-, Skinhead- und Rockerterror im Ferienlager Falkenhorst ließ sich nicht vermeiden. Hier herrschte chaosgewordener Alkoholkonsum.
Es war auch besser so, wenn wir oben im Ferienlager Stress machten und uns an Land abreagierten, als dass wir im Vollsuff im Dunkeln ins Wasser gingen, von der Dampferbrücke sprangen oder sogar von der Leuchtturminsel hinten raus ins Tiefe einen Köpper machten.
      „Los spring!“
      „Ich seh nichts!“
      „Spring endlich!“
Klatsch.
Die meisten Verletzungen, zumeist Schürfwunden, gab es beim „Anlandklettern“ an der alten Dampferbrücke oder an der Leuchtturminsel, wenn du die festgewachsenen Muscheln oder rostige Metallspitzen, Schrauben oder Holzsplitter nicht sehen konntest oder wenn du über die Betonklamotten schrammtest.
Nachts war das alles brandgefährlich, besonders das Springen. Es ersoffen immer wieder mal Leute, nicht nur Besoffene. Der Badestrand war nachts grundsätzlich unbewacht, auch wenn zur Hochsaison die DLRG aus dem Süden angereist im Strandpavillon pennte. Doch die waren nachts ohnehin durchweg stramm und im Urlaubsmodus. Die ließen häufig ihre Kameraausrüstung und Getränke draußen auf den Partytischen stehen.
Ich hatte beim Nachtbaden mehrmals Krämpfe. Du siehst die Steine nicht, du siehst die Sandbank nicht, du siehst keine scharfen Muscheln, keine Feuerquallen und keine Scherben. Die Leute überschätzten sich und wurden lebensmüde. Du konntest die Leute vom Ufer aus im Wasser zwar hören, aber nicht sehen, es sei denn, dass Vollmond war oder der Mond zumindest ausreichend schien und keine Wolken davor hingen, jedoch kam Vollmond im Sommer vielleicht drei bis viermal vor.
Du sahst nachts nicht, wenn Rußpartikel auf der wasseroberflöche schwammen. Öl oder Schiffsdiesel sahst du nur bei Gegenlicht. Aber das war uns sogar tagsüber relativ egal, wenn wir den blauen und bunten Schimmer an den Schlieren erkannten. Da schwammen wir einfach durch, auch wenn später Haut und Haare ölig waren, stanken und juckten. Bloß bei gelbem Schaum war ich vorsichtig, weil ich nicht wollte, dass meine Neurodermitis weiter eskalierte. Jedoch konntest du den gelben Schaum nachts nicht erkennen, der von durchgerosteten versenkten Giftgasgranaten stammte, auch wenn die Tauchfirma das dementierte. Zu viel weißer Schaum war auch nicht gut, denn es war ein Hinweis auf seifige und schäumende Chemikalien. Aber ob weiß oder gelb konntest du nachts ohnehin nicht unterscheiden, selbst wenn Vollmond gewesen wäre.
Manchmal klebten kleine schwarze Partikel Dreck auf der Haut, bei denen wir erkannten, dass sie nicht organisch und keine Reste von Seepflanzen waren. Wahrscheinlich hatten einige Schiffe nachts unbemerkt verklappt, oder der Dreck war aus verdreckten Schornsteinen ausgeblasen worden. Vielleicht waren es winzige, trockene Farbpartikel und Rostreste und andere undefinierbare Partikel, die bei Schiffssanierungen anfielen.
Die winzigen Plastik-Reiskörner, von denen niemand wusste, woher sie stammten, fandest du hingegen nur im hellen Strandsand, wenn du etwas buddeltest.
Der Mini-Mal Markt oben am Braunen Berg war taktisch gut gelegen. Dort gab es immer Bier. Viele fuhren mit dem Einkaufswagen runter zum Strand und ließen ihn dort stehen. Wenn wir keinen Kasirekorder als Ruhepol am Strand hatten, verlief sich jede Strandparty in Kürze. Als Einheimische waren wir stets abgelenkt und rastlos. Am Strand verlief alles ohnehin chaotisch, sodass es schwer war, eine Strandparty beisammen zu halten. Das gelang im Prinzip nur bei Geburtstagspartys oder Partys mit Einladung. Später bei der Gesamtschul-Abi-Party funktionierte das hervorragend. Wir waren alt genug und feierten drei Tage lang am Strand hinter Alt-Bülk, exakt an der Stelle, wo die Steilküste zur Eckernförder Bucht anfängt.
      Wenn im Ferienlager Falkenhorst etwas abging oder vorfiel oder sich etwas ankündigte, verbreitete es sich bei den jungen Leuten in Friedrichsort in Windeseile.
      „An der Feuerstelle feiert ein Motorradclub.“
      „MC Werner oder was?“
      „Keine Ahnung, bin gleich weitergegangen.“
Aufgeputscht durch den härtesten Punkrock und harten Alkohol fanden wir im Hochsommer automatisch unseren Weg zum Falckensteiner Strand. Wir streunten rastlos umher und suchten nach Partys, um uns entweder dazu zu setzen oder Stress anzuzetteln und sie „zu sprengen“. Zumindest ein Bierchen zu schnorren ging bei den großen Strandpartys fast immer. Wie von Geisterhand gesteuert landeten wir früher oder später idiotisch-chaotisch oben im Ferienlager Falkenhorst, besonders wenn gleichaltrige Jugendliche in den Hütten campierten. Vandalismus inklusive.
      Hier verletzte sich Oli B. eines Abends am Hals an einem Volleyballnetz, das er im Dunkeln beim Weglaufen nicht erkannte. Der kräftige Azubi Mannek warf zuvor jemandem im Dunkeln eine leere Plastikmülltonne an den Kopf. Wahrscheinlich hatten wir wieder Bier geklaut oder es gab eine Boilerei mit Jugendlichen aus anderen Bundesländern. Oder die Schergen wurden gerufen oder fuhren gerade vor. Jedenfalls rannten wir wie von der Tarantel gestochen chaotisch-idiotisch kreuz und quer über das Gelände des Ferienlagers in Richtung Strand, wo die Cops es immer schwer hatten. Doch da hörten wir halt schon den lauten Schrei und die Würge- und Gurgelgeräusche. Olli B. hatte eine große Schürfwunde am Hals und litt unter Atemproblemen. Er überschlug sich durch den Schwung des Netzes, machte eine Flugreise entgegen der ursprünglichen Laufrichtung und landete auf dem Rücken. Wir bekamen leichte Panik. Er war benommen, und wir versuchten ihn wieder aufzupäppeln. Wir alle waren natürlich stark betrunken. Die Verletzung am Hals wirkten wie Würgemale oder wie Kratzer und Spuren einer Strangulation. Er hatte das Volleyballnetz im Dunkeln einfach übersehen. Seine Stimme war weg, da der Kehlkopf in Mitleidenschaft gezogen war. Er atmete schwer. Doch wir mussten hier weg. Wenn wir als Gruppe wegliefen, war schon etwas Gravierendes vorgefallen. Das geschah nicht alle Tage. Und niemand wollte vor den Jugendrichter. Als Olli B. wieder stehen und laufen konnte, zerrten wir ihn mit und hechelten runter zum Strand. Ich kann mich jedenfalls nicht an blaues Alarmlicht erinnern. Du, die Cops durften hier auch nicht einfach aufs Gelände fahren, sondern mussten stets das Auto am Haupteingang parken. Da hat es wohl schon so einige Beschwerden gegeben, denn ein solch belebter Ort wie das Ferienlager Falkenhorst mit teils extremsten Trinkgelagen und unterschiedlichen Jugendgruppierungen erzeugte automatisch Spannungen und Reibungen. Wir mieteten hier mehrmals vom Sportverein aus eine Hütte bzw. Leute die ich über den Sportverein kannte, sodass fast nur Leute aus dem Sportverein anwesend waren. Trotzdem kam es nachts wieder zu Vandalismus.
Einmal stürmten wir hier eine Party von Teds. Ringo fragte:
      „Seid Ihr Teds oder was?“
Mit Stolz antwortete einer der Teds:
      „Wir hören Eddie Cochran, Gene Vincent und Bill Haley.“
Wir bedienten uns an deren Bier, lästerten über die Musik, und benahmen uns herrlich daneben. Die meisten Teds waren Studenten. Die Ted-Musik, die sie hörten war nicht wirklich unsere Welt. Das war nicht mal Rockabilly-Style wie die Stray Cats. Deshalb warfen wir schnell eine Kassette mit Oi!-Musik in deren Kasi-Rekorder, was sich die Teds sich gefallen lassen wollten. Wir hatten die Party jetzt übernommen und tranken deren Bier. Die Teds mussten der Oi!-Musik lauschen und kommentierten wohlwollend die Refrains. Sie versuchten zwar mehrmals wieder Tapes mit Ted-Musik einzulegen, doch das wusste vor allem Ringo zu verhindern. Das Bier der Teds schmeckte gut. Ich kann mich erinnern, dass einige der Schmalztollen sich bald rechts äußerten. Ein langer, dünner Ted, wahrscheinlich der Ober-Ted, sang mehrmals
      „Wir wollen unseren alten Kaiser Wilhelm wieder haben, aber nur mit Bart".
Als wollte er etwas anzetteln. Das fanden wir lächerlich.
      „Was singt der Macker da?“
Er wirkte dabei wie ein Lateinlehrer, der seinen Schüler*innen eine  lateinische Grammatik parolenhaft einzuhämmern versuchte. Wir lachten ihn aus.
      „Das ist ja total lächerlich!“
rief Ringo, zeigte mit dem Finger auf den Ted, lachte und fasste sich an den Kopf.
       Auch alle weiteren Indoktrinierungsversuche blockten wir mit höhnischen Kommentaren und verstörenden Grimassen. Langsam schaukelte sich die Aggression hoch. Da wurde es Ringo zu bunt. Es kam zu Wortgefechten und zu Handgemengen, bis der rechte Schwachsinn wieder verstummt war. Damit hatten wir nun wirklich nicht gerechnet, dass die Teds rechte Sprüche bringen würden. Doch wir blieben souverän.
Plötzlich verschüttete Ringo sein Bier auf einem Ecktisch an einem Sitzelement, als er bereits sehr besoffen war. Er nahm daraufhin einen Küchenschwamm, wischte das verschüttete Bier auf. Zu unserem Entsetzen wringte er den Schwamm über seinem Bierglas aus, sodass das Glas wieder halbvoll war. Er soff das Bier, als sei nichts gewesen. Das fand ich pervers, denn es muss doch nach irgendwelchen Chemikalienrückständen oder Küchenresten geschmeckt haben. Für die Teds war das der Beweis, dass wir asozial sind. Ringo war einfach zu voll. Jetzt schaukelte sich die Sache weiter hoch. Ich weiß nicht, ob Ringo sich mit einem Ted geboxt hat. Das fing ja meistens mit Ohrfeigen an. Er war unser Leader in dem Sommer, nachdem er dem Rocker am Strand Schilksee brutalerweise die Lagerfeuerglut ins Gesicht getreten hatte. Er sang immer wieder den Song von Peter:
      „Cumon, cumon. Cumon, cumon. Cumon, cumon, cumon. I say!“
Vorsichtshalber griffen wir unser Pensum an Ted-Bier als Party-Steuer oder Wegeszoll und zogen weiter.
      Hier im Ferienlager wurde viel geklaut, es wurde randaliert, Feriengäste wurden nachts aufgeweckt und belästigt. Es wurden Frauen angebaggert, es wurde gesoffen, Stress gemacht, HiFi-Anlagen gekapert, Jacken geklaut und vieles mehr. Wir Einheimischen waren manchmal eine Plage und ein Problem für die Tourismusbranche. Diese Unruhen und Übergriffe verursacht durch Einheimische hätten auf der Werbebroschüre des Ferienlagers vermerkt sein müssen:

„Sie müssen sich leider auf Übergriffe durch einheimische Jugendliche gefasst machen. Auch mit nächtlichen Diebstahlsdelikten durch ortsansässige Eindringlinge muss während der Hochsaison gerechnet werden. Bitte verstecken Sie ihre Wertgegenstände und ihre Alkoholvorräte gut. Die örtliche Polizei fährt regelmäßig Streife.“

Das hätte harmoniebedürftige Urlauber abschrecken können. Auch friedrichsorter Rocker machten hier temporär Stress, besonders die Asi-Rocker der Flying Pissers und des SC Fiedler, die teils später durch psycho Polizeiverhöre und Knastaufenthalte von den Schergen „unschädlich“ gemacht wurden. Dito. Mit friedrichsorter Rockern konnten wir uns manchmal gerade so arrangieren, aber gegen die Asi-Rocker war kein Kraut gewachsen, denn die waren deutlich älter als wir und schrecklich tätowiert. Sie tranken Schnaps statt Bier, und sie kippten den Schnaps wie Erfrischungsgetränke beim Sport. Diese friedrichsorter Asi-Rocker erinnerten mich manchmal an die Hertie-Gang, so kaputt waren die mit tätowierten Tränen, drei tätowierten Punkten neben dem Daumen, gepikerten Penissen, AC/DC-Kreuze mit dem Namen Bon Scott in Blockbuchstaben darunter, vereinzelt Hakenkreuze und gestochene Stinkefinger. Skriptol war Trumpf. Bei den Leuten war es besser, das Weite zu suchen. Da hätten auch Kammkatz und Rochen ihre Probleme gehabt. Von diesen Asi-Rockern schaffte es niemand in die Bikerszene. Für die war es das höchste der Gefühle, wenn sie ab Monatsmitte in der Schanze anschreiben lassen durften.
      Fünf KIlometer weiter nördlich am Strand in Schilksee hingegen wurde es zunehmend gefährlich, da sich dort die Fascho-Skins mehr und mehr breit machten. Die organisierten sogar einmal ein Skinheadtreffen mit rechten Skins am Ankerplatz und gingen von dort über die nahe Treppe an der Steilküste runter zum Strand. Das erfuhren wir leider zu spät. Sonst hätten wir was auf die Beine gestellt. Doch bei denen mussten wir vorsichtig sein. Bei dem Fascho-Pack wäre es ganz sicher nicht nur bei Drohgebärden geblieben.







Die Sinnlosaktion am Flutlichtkasten

Es geschah lange, bevor Bleiche nach Friedrichsort zog. Er kann es also nicht gewesen sein. Zosch nahm uns mit seinem Hitachi-Tapedeck die Diminished Responsibility auf. Du brauchtest ihm nur ein Leer-Tape zu geben. Er war deshalb Multiplikator in Sachen Punk. Das Tapedeck war extrem geil und erzeugte in uns Kaufdruck, nachzuziehen. Wenn die Leuchtdioden der Aussteuerung im roten Bereich waren, blieb die höchste Diode stehen und brannte ein bis zwei Sekunden, bis sie erlosch oder vom nächsten Peak getoppt wurde. Das gleiche passierte bei Untersteuerung, sodass die unterste grüne Diode länger leuchtete.
Wer ein solches Tape Deck besaß, genoss in der Szene höchstes Ansehen und Respekt, selbst bei den härtesten und fertigsten zeitgenössischen Punks. Nur so wurde Geld richtig investiert, in Anlagenbausteine und in Platten.
Wir hörten zu der Zeit fast ausschließlich U.K. Subs. Die Live Kicks Live-LP hatte jeder, zumindest auf Kassette. Die Live Kicks war sogar Steffs allererste Punk-Platte. Wir fanden es so geil, dass der Song Stranglehold zweimal auf der Live Kicks vorhanden war, jeweils als letzter Song auf der Seite, in der zweiten Version sogar noch schneller.
Einprägsam war die Ansage vor dem ersten Mal Stranglehold:
      “Cheers. There's no rules about dancing in this place. So feel free. This one's called Stranglehold.“
Wir checkten an der Live-Aufnahme, dass nicht viele Besucher auf dem Konzert waren. Wir fanden es geil, das es keine wirklichen Zwischenrufe gab, sondern nur bejahende, einsilbige Laute und Zwischenrufe der Punks im Auditorium. Bei Stranglehold sangen wir gerne lautstark mit. Das langgezogene -hold am Ende des Refrains sangen wir in Gruppenstärke übertrieben laut und hoch.
Die nächste U.K. Subs LP, die ich nach der Live Kicks kennenlernte, war die Diminished Responsibility, obwohl das bereits die insgesamt fünfte offizielle U.K. Subs-LP war. Ich sollte am Ende schlussendlich sage und schreibe zwölf U.K. Subs-Scheiben mein Eigen nennen können.
      Wenn wir nachts unterwegs waren, hatten wir im Extremfall einen Kuhfuß dabei, ohne zu wissen, was wir damit anfangen wollten. So konnten wir vieles ausprobieren wie Materialtester. Es war eine Form des Posens. Vielleicht taten wir es auch nur der Show wegen. An Automaten wurde der Kuhfuss grundsätzlich immer angesetzt, um die Schwachstellen zu erkunden. Eines Nachts endeten wir besoffen am Sportheim. Es ging auf 3 Uhr nachts zu, und es war stockdunkel. Nicht mal mehr auf der Lindenau Werft wurde gearbeitet 300 Meter weiter in Richtung Wasser. Plötzlich kam jemand auf die irrwitzige Idee, den Flutlicht-Kasten auf dem Grandplatz aufzubrechen. Das ging fix. Die gerade Seite des Kuhfußes wurde in der Nähe des Schlosses angesetzt. Es wurde ein paarmal gehebelt bis es knackte, und schon sprang die Tür des Flutlichtkastens auf. Bloß die vielen Knöpfe und Schalter sorgten für Verwirrung.
      „Das muss der Hauptschalter sein."
      „Einfach alles mal ausprobieren."
Wir checkten alle Schalterkombinationen
      „Klack!“
bis das Flutlicht in voller Power erstrahlte. Jetzt gingen wir wie die vier Droogs über den Platz und reckten den Kuhfuß jubelnd in den erleuchteten Himmel. Es ging gar nicht darum, Beute zu machen, sondern darum, sich tot zu lachen. Wir wollten unseren Verein nicht schädigen, wir wollten ihn ärgern. In einer Siegerpose reckte ich den Kuhfuß in den erleuchteten Nachthimmel. Größer konnte die Schadenfreude nicht sein. Kaputter ging unsere Generation nimmer. Wir schrien
      „Jiaaa!“
Kann sein, dass wir ein paar Minuten im Flutlicht im Anstoßkreis saßen, bis wir uns allmählich wieder vom Acker machten. Auf dem Weg diskutierten wir über die drohenden Stromkosten. Uns wurde klar, dass die Kosten nicht besonders hoch sein konnten, denn nicht mal im normalen Trainingsbetrieb im Winter würde mehr Strom verbraucht. Das Flutlicht brannte die ganze Nacht über. Auf dem Weg drehten wir uns immer wieder um und blicken zurück zu der hell erleuchteten Lichtkuppel über den sechs Flutlichtmasten. Nie wieder brannte das Flutlicht so lange wie in dieser Nacht.







Unser Lieblingslied „Bullen in die Leine“

Es ist eine gute Tradition sich über die Polizei zu mokieren, sie als Cops, als Bullen und Schergen zu bezeichnen und sich wie bei einem Psychodrama Luft zu verschaffen, indem man sie beleidigte, auch wenn sie nicht anwesend waren. Das musste sein. Das war absolut notwendig, um nicht unterzugehen bei all den Polizeimaßnahmen und dem hartem Durchgreifen. Die Songs, die die Polizeiproblematik thematisierten und auf Begriffe wie Bullenschweine zurückgriffen, hatten den größten therapeutischen Effekt auf die geschundenen Jugendlichen, die in der Schule und auf der Straße und bei Behörden unter dem Druck der Alt-Nazi-Generation immer noch zu leiden hatten.
Wir therapierten uns, indem wir schrien „Bullen in die Leine“ und Bullenschweine und 1, 2, 3, 4 und „Ab geht er!“ und „Jiaaaa!“. Das war wie ein neuer Energieschub für all die Kids, die unter willkürlichen mir-nichts-dir-nichts-Festnahmen zu leiden hatten.
Wenn wir besoffen waren, war „Bullen in die Leine“ für uns ein wahrer Zungenbrecher. Mitunter hörten wir den Song 3-, 4-mal hintereinander, um ihn später am Abend erneut aufzulegen. Wenn wir richtig besoffen waren, wurde „Bullen in die Leine“ deshalb zum Zungenbrecher, weil unsere Zungen vom Alkohol recht schwer waren. Der Song war sehr schnell und enthielt mehrere Zäsuren, in denen laut 1, 2, 3, 4 geschrien wurde. Da der Live-Punk-Sampler „Korn live“, auf dem sich der Song befand, den Untertitel „Ab geht er!“ trug, schrien wir während des Songs mehrmals laut und unmotiviert „Ab geht er!“, was wir auch manchmal auf der Straße taten, wenn der Adrenalinpegel hoch war und es eskalierte oder jemand anfing zu randalieren. Das riss die anderen mit. Wer bei dem Song mitsingen wollte, scheiterte irgendwann an der Geschwindigkeit des Gesangs, auch wenn der Text recht einfach zu behalten war, da er nur sehr kurz war. Ich hatte mir den Sampler, auf dem sich „Bullen in die Leine“ befand, damals vergünstigt bei Membran gekauft. Wir entdeckten den Song als Juwel, als drittes Lied auf der B-Seite. Da er sehr kurz war, kürzer als eine Minute, passte er auf jedes Sampler-Tape. Die Band, die „Bullen in die Leine“ sang, nannte sich Aristocats. Wir hatten den Sampler jedoch erst unmittelbar nach den Chaostagen '83 zur Verfügung, und der Sampler vermochte in uns Gefühle und die Erinnerung an die Chaostage immer wieder wach zu rufen, sobald wir ihn spielten, oder sobald der Slogan „Bullen in die Leine“ skandiert wurde - wo auch immer. Wir waren außer uns. Für Außenstehende war schwer zu begreifen, was sich hinter dem Slogan „Bullen in die Leine“ verbarg, denn nicht jeder assoziierte mit dem Wort Leine den Hannoveraner Fluss Leine sondern vielmehr eine Hundeleine. Einige behaupteten sogar, es müsste „Bullen an die Leine“ heißen, woraufhin wir den Hintergrund des Songs erklären mussten, bis es keine Unstimmigkeiten mehr gab, bis allen einleuchtete, es müsse „Bullen in die Leine“ heißen. 
Jahre später kam eine Neuauflage des Songs von der Band Boskops auf den Markt, der härter und schneller war als das Original von den Aristocats. Allerdings hieß der Song jetzt nicht mehr „Bullen in die Leine“, sondern „Können Schweine schwimmen“. Jetzt wurde es erst so richtig schön in Heckers Keller mit den allumfassenden Betonwänden und der Stahltür, auf der Couch und unter dem Dead Kennedys Arschf*ckposter, wenn „Bullen in die Leine“, jetzt von den Boskops, neuerdings noch lauter und noch härter, auf der Anlage lief.
Wieder schrien wir 1, 2, 3, 4, wieder schrien wir „Bullen in die Leine“, wieder schrien wir Bullenschweine und „können Schweine schwimmen“. Würde man uns auf dem Sterbebett ein letztes Mal „Bullen in die Leine“ vorspielen, egal ob von den Aristocats oder von den Boskops, würden wir mit letzter Kraft singen „1, 2, 3, 4, Bullen in die Leine, Bullenschweine, ab geht er!“ -  bis zum bitteren Ende.







Punx gegen Atomkraft

Die Atomproblematik wurde immer gravierender in der Punkszene. Immer mehr Bands nahmen Songs gegen Atomkraft auf, gegen Atombomben, Atomkrieg und Atommüll und gegen Atomtransporte (Атомная энергия? Спасибо Нет).
      Das Logo mit der roten, faustschwingenden Sonne auf rapsgelbem Hintergrund und dem kreisförmigen Logotext wurde 1975 in Dänemark erfunden. Ursprünglich lautete der Text „Atomkraft? Nej tak“, bis er in 44 weitere Sprachen übersetzt wurde. Das Logo gab es auf Buttons und Aufklebern. Die sammelte fast jeder. Wir waren schon als Kinder scharf drauf.
Allerdings stammte der Button und der Aufkleber „Atomkraft? Nein Danke“ eindeutig aus der Hippie-Szene, und die Punkszene tat sich schwer, das Logo kritiklos zu adaptieren. Die Punks brauchten ihre eigene Machart. Deshalb wurde das Strahlenzeichen zweckentfremdet, sodass das schwarze und pissgelbe Atomflügelrad jetzt immer häufiger auf Plattencovern, in Fanzines, in Collagen und auf Lederjacken erschien.
Den Punks war frühzeitig klar, dass wir immer mit einem Atomkrieg rechnen mussten, im Kalten Krieg, die ganzen f*cking 80er über und über den Fall des Eisernen Vorhangs hinaus.
Fast jede zeitgenössische Punkband nahm sich dem Thema an, wenn es nicht gerade Fun-Punk-Bands waren. Deshalb gab es unzählige Songs, die sich mit der Atomproblematik auseinandersetzten, so auch “Nagasaki Nightmare“ von Crass, “4 Minute Warning“ von Chaos U.K., “Hell on Earth“ und “Cries of Help“ von Discharge, “One Nation Under The Bomb“ von Conflict oder sogar “Radioactive Kid“ der Psychobilly-Band The Meteors.
      Die f*cking Atomlobby (Forsa Tomica? No Grassie) war ohnehin getrieben von Alt-Nazis, die am liebsten die BRD schnellstmöglich zur Atommacht ausstaffiert hätten - nicht nur von Nazi-Oberleutnant Franz-Josef Strauß.
      Die ergebnislosen Diskussionen in der Schule, das unüberschaubare Info-Material, die unzähligen Demos, die Atomtreiberei in der Politik und die verstörenden Fernsehbilder aus Brockdorf, Gorleben und Wackersdorf machten mich zum Polit-Weichei. Hinzu kamen die größeren Atomkatastrophen (Urani? Naamik) von Harrisburg, Sellafield und schlussendlich Tschernobyl. Diese ökologischen und ideellen Fiaskos jagten mir dermaßen f*cking Angst ein, dass mich keine zehn Pferde zu einer Protestveranstaltung in der Nähe eines Atomwerkes hätten bringen können. Ich bekom schon schiss, wenn wir in der Entfernung von zehn Kilometern an einem Atomkraftwerk vorbei fuhren, oder wenn wir von der Autobahn oder vom Zug so etwas wie den Meiler eines Kraftwerks sahen. Ich war ganz sicher mal auf Anti-Atom Demos und kann mich lediglich erinnern, dass es mir auf diesen Demos sehr schlecht ging. Diese Demos wirkten unfassbar emotional und machten mich krank, als würde ich dort eine Strahlendosis abbekommen. Es waren Psycho-Trips. Das liegt wohl daran, dass ich seit frühester Kindheit unter der harschen Kernenergie-Diskussion gelitten habe, die von beiden Seiten rücksichtslos geführ wurde. Die f*cking Atomlobby war ohnehin getrieben von Alt-Nazis, die am liebsten die BRD schnellstmöglich zur Atommacht ausstaffiert hätten. Da wirkten alle Punk-Songs über die Materie wie Atemtherapie.
      Es war ja von Anfang an bekannt, dass der f*cking Atommüll (Nuklearrik? Ez eskerrik asko) ein langanhaltendes Problem darstellte. Das wussten alle Alt-Punks lange vor den Politikern, da sie die Plakate der Hippies auf den Demos lasen und bei Kurzeinblendungen in den Heute-Nachrichten und der f*cking Tagesschau sowie in Zeitungen und Zeitschriften. Bloß die Nachwuchspunks hatten das P im Auge.
      Auf einem meiner Berlin-Trips erzählte in einer Kneipe in Kreuzberg eine Tresenfrau, die aus Schottland stammte, dass sie in der Nähe des Atomkraftwerkes Dounreay (Energia Nucleare? No Grazie) aufgewachsen sei. Die Ortschaft, aus der sie stammte, heißt Wick. Ich fand das so lustig, da wir in f*cking Kiel auch einen Stadtteil namens Wik hatten, da wo die Wiker Punks herkamen, jedoch mit k am Ende geschrieben und nicht mit ck. Die Schottin bezeichnete sich als radikale Atomkraftgegnerin (Nuclear Power? No Thanks). Ich las in einem Buch, dass Wik so viel wie Marktplatz bedeutet. Ich weiß jedoch nicht, ob das für das schottische Wort Wick zutrifft.
      Eines Tages offenbarte mir ein Alt-Hippie aus Kiel, dass in Schwedeneck nördlich von Kiel an der Eckernförder Bucht ebenfalls ein f*cking Atomkraftwerk (Nucléaire? Non merci !) gebaut werden sollte. Deshalb wäre beinahe aus f*cking Eckernförde Bloody Finsterförde geworden. Das Projekt wurde auf Druck der Bevölkerung gekippt, speziell als eine Hippie-Kommune einen Kieler Staatssekretär bedrängte, der schließlich im Angesicht der f*cking Anti-Atom-Hippies abschwören musste. Das Abschwören des Bauvorhabens fiel den f*cking Verantwortlichen deshalb leicht, da f*cking Kiel den Zuschlag für die Ausrichtung der f*cking Segelwettbewerbe der f*cking Olympischen Spiele 1972 erhalten hatte. Das hätte bedeutet, dass zwei f*cking Großprojekte in der Region innerhalb kürzester Zeit f*cking hätten umgesetzt werden müssen. Also kippten die Verantwortlichen den Bau des f*cking Atomkraftwerkes Schwedeneck (¿Nuclear? No gracias), denn Olympia und die Errichtung des Olympiazentrums hatten Vorrang. Allerdings war die Zubringerstraße zum f*cking Atomkraftwerk (Nükleer Enerji? Hayir teşekkürler), die B503, bereits fertiggestellt. Auf der f*cking B503 sollten ursprünglich die Atomtransporte (스마일링 선) verlaufen, das hatte die Atomindustrie so von der Politik gefordert. Stattdessen konnten jetzt noch mehr f*cking Strandurlauber nach Schwedeneck durchpreschen.
      Wenn ich Frauen aus der Region Gorleben kennenlernte, waren diese stets sehr aufgeschlossen und rührseelig. Mit einer, die als Putzfrau in einer Kieler Kneipe arbeitete, hatte ich sogar eine Affäre. Früher als Mädchen, in f*cking Gorleben, hatte ihr als 13-Jährige ein Bloody Cop auf einer Anti-Atom-Demo (原子力? おことわり) mit dem Stiefel in den Unterleib getreten,
      „Rollant, seitdem mag ich keine Bullen mehr. Kannst Du das verstehen?“
Ich sagte
      „Ja, klar verstehe ich das“
und gab ihr einen Kuss.








II. Skinhead Phase




Der Kondomautomat im Pissoir Brauner Berg

Diese Geschichte ist ein weiterer Beleg, wie sinnlos Jugendkriminalität sein kann, besonders wenn zu viel Alkohol im Spiel ist. Die Story ist exemplarisch für die vielen Sinnlosaktionen, bei denen sie alles riskierten und wenn überhaupt Minimalerträge generierten. Diverse Leute aus der Punk- und Skinheadszene landeten sogar im Knast.

In Friedrichsort befand sich eine der widerlichsten öffentlichen Toiletten Kiels. Die war fast ekelhafter als die am Dreiecksplatz oder die am ZOB, wo es noch perverser stank, auch wenn es ähnlich nach alter ranziger und gegorener Pisse roch. Krass war natürlich auch das Pissoir am Belvedere nahe dem Punktreff am Pennyspielplatz, in das später trotz der pissgelben Vorgeschichte ein Juwelierladen einzog. Auf das Pissoir gingen nicht mal Punks.
Unser Pissoir befand sich nahe der Kreuzung Friedrichsorter Straße Brauner Berg kurz vor dem Parkplatz des Mini-Mal Supermarktes. Dort stank es dermaßen unerträglich, dass sie sich die Nase zuhielten oder das T-Shirt, Pullover oder Jacke über die Nase zogen. Hier sahen sie sogar mehrmals ehemalige Weltkriegsteilnehmer am helllichten Tag mit Hüten und dunklen Mänteln onanierend stehen. Das Pissoir war in einer Art Pavillon untergebracht. Das Gebäude hatte keine andere Funktion, als die besagte öffentliche Toilette anzubieten. Der Herrenbereich stand immer offen, während es für den Frauenbereich eines Schlüssels bedurfte, von dem niemand wusste, wo der auslag. Doch es gab ein erhebliches Problem mit der Hygiene. Vielleicht wurde das Gebäude nicht regelmäßig gereinigt, vielleicht lag es an der architektonischen Beschaffenheit, weil die Pisse im Raum stand und nicht abfließen konnte? Wer weiß das schon? Jedenfalls befand sich in dem Pissoir auf Kopfhöhe ein schmaler Kondomautomat, der vier Marken von Kondomen jeweils in einer Spalte angeordnet für zwei, drei D-Mark bereitstellte. Es waren sogar Kondome mit Noppen dabei. Hier gab es Kondome der Marken Fromms, London gefühlsecht, Blausiegel und Ritex.
Viele trauten sich nicht, diesen Ort der Übelkeit zu betreten. Ich sah in dem Pissoir einmal einen Mann stehen und onanieren, ebenso mit dunklem Hut und dunklem Mantel, der mich vom Alter und den Umrissen stark an den Rektor der Grundschule erinnerte, der mir mal mit der flachen Hand eine klatschte und Rallers Bruder sogar während des Musikunterrichts einen Schlüsselbund mit voller Wucht ins Gesicht warf. Wir versuchten das damals zur Anzeige zu bringen, doch die Cops wollten nicht so recht gegen den Rektor ermitteln, wahrscheinlich aus falscher Loyalität gegenüber ehemaligen Kriegskammeraden.
      Die zwei NDK-Kids (Nördlich Des Kanals) hatten sich gerade eine Glatze rasiert, hörten 4Skins, Oi4 und “A Country Fit for Heroes“ und wollten mal wieder ein Ding drehen. Einer von ihnen trug ein Peter and The Test Tube Babies T-Shirt und war verdammt stolz darauf. Der andere trug ein besprühtes weißes T-Shirt mit der Schablone der NDK-Kids.
Sie zelteten mal wieder. Ohne kleinere Straftaten waren diese Zeltaktionen gar nicht mehr denkbar, denn nur Besäufnisse und Punk- und Oi!-Musik hören war ihnen entschieden zu wenig. Sie brauchten diesen Kick während der Adoleszenzphase. Vielleicht wäre es besser gewesen, Komasaufen zu betreiben, denn dann wären sie zu Straftaten nicht mehr im Stande gewesen.       Kondomautomaten waren immer schon spannend. Sie beinhalteten sowohl Kondompackungen als auch Geld. Diese Objekte waren eine Nummer größer als Kaugummiautomaten und eine Nummer kleiner als Zigaretten- oder Bierautomaten. Klar, am meisten brachten die Zigarettenautomaten, besonders wenn wieder eine Preiserhöhung anstand und jeder Schachtel zusätzlich eine 50-Pfennig-Münze angeheftet war.
Viele holten sich Rat bei den Azubis aus dem Panzerbau, wenn es um technisches Equipment ging. Zu der Zeit war der Zweimeter Kuhfuß von Nitzer B. noch nicht gefertigt und deshalb nicht im Einsatz – die Geheimwaffe der kriminellen Friedrichsorter Jugendlichen.
Objekte der Begierde waren nicht nur Kondom-, Zigaretten- und Bierautomaten, sondern auch Alkoholtester, Bezahlföhne, Flipper, Videospiele und Geldspielautomaten und früher sogar die Kaugummiautomaten, deren Plexiglasscheiben einige Hartgesottene ohne Rücksicht auf Verluste mit Wunderkerzen aufschweißten. Er selbst hatte erst vor ein paar Wochen bei einem Auswärtsspiel beim TSV Lüthjenburg vor versammelter Mannschaft einen Föhn an der Wand in der Umkleidekabine geknackt und die Kasse geleert.
Nachts war das Pissoir von innen ständig beleuchtet. Vor allem nachts im Sommer sammelten sich ioben am künstlichen Deckenlicht alle erdenklichen Arten von Insekten, vor allem Mücken, Schuster und Falter. Die zwei Skins betraten die öffentliche Toilette mit Werkzeug und guter Laune. Sie waren weitaus mehr als angeheitert. Vom Pissoir aus konnten sie durch eine schmale Ritze auf das gegenüberliegende Haus auf der anderen Straßenseite blicken. Da tat sich nichts. Dort brannte kein Licht, nur das Licht der Straßenlaterne. Es war kein Geräusch zu hören.
      Zunächst standen sie zu zweit im übel riechenden Pissoir und checkten die Lage. Sie wollten den Automaten zu zweit von der Wand reißen und wegtragen. Hatten sie die Situation richtig eingeschätzt? Sie setzten den Kuhfuß an verschiedenen Stellen an und waren sich sicher, dass Ding losreißen zu können. Doch der Automat war auf Metallschienen an der Kachelwand befestigt. Ergo setzten sie die Spitze der runden Seite des Kuhfußes zunächst hinten an der Wand unter der Automatenkante an, was beim Hebeln leichte Knarr- und Wippgeräusche erzeugte, ohne dass sich der Automat auch nur ein Stück löste. Als nächstes versuchten sie das Prozedere erneut vorne an den Scharnieren.
      „Das Ding bewegt sich keinen Millimeter. Lass uns mal tauschen!“
Sie kicherten und rissen Flüsterwitze. Langsam wurden sie lauter. Sie setzten den Kuhfuß auch vorne und an allen Rändern an, natürlich auch an den Ausgabeschubladen der Kondompackungen. Doch außer Lackkratzer, kleine Verformungen im Gehäuse und Dellen konnten sie bisher nichts erreichen. Aus Frust schlugen sie mehrmals mit dem Kuhfuß gegen das Metallgehäuse, was in den Fingern pierte, als dass es den scheiß Kondomautomaten auch nur ein Stück weit öffnete.
      „Dieses scheiß Ding.“
      „KLONG!“
Bei stärkerem Zuschlagen mit dem Brecheisen gegen Metall waren die Erschütterungen so immens, dass die Vibrationen mit voller Wucht auf die Hände übertragen wurden, dass dir der Kuhfuß fast aus den Händen fiel. Im Extremfall gingen die Vibrationen durch den ganzen Körper, auch ins Gesicht und besonders in die Ellenbogen und Schultern.
      „Dieser scheiß Kondomautomat. Der bewegt sich immer noch nicht.“
Nach ein paar Minuten hielten sie es für besser, dass sich einer von beiden raus an die Ecke Friedrichsorter Straße stellt für den Fall, dass die Bullen kommen. Jetzt war immer nur einer zur Zeit am Kondomautomaten zu Gange. Beim Abwechseln unterhielten sie sich immer kurz über den Fortschritt.
      „Der wippt zwar leicht, wenn ich den Kuhfuß ansetze, aber er löst sich kein Stück.“
      „So fett ist der doch gar nicht.“
      „Der ist tief in der Wand verankert. Den kannst du nur absprengen.“
      „Lass mich mal wieder ran!“
Die zwei Skinheads hatten zu dem Zeitpunkt gar keinen Plan, was sie für den Fall des Erfolges mit dem Automaten anstellen würden. Hätten sie den ganzen Automaten mit nach Hause genommen und da geknackt oder im Zelt oder irgendwo im Wald? Was wäre gewesen, wenn sie einfach nur die äußere Luke aufgebrochen hätten? Wären sie überhaupt an das Geld rangekommen, an die Geldkassette? Das ist ja die Crux der Automatenknacker. Was wäre gewesen, wenn sie ihn aufgeklappt hätten? Was hätten sie mit den einzelnen Schachteln anfangen sollen? Hätten sie die in die Hosentaschen gesteckt? Sie hatten ja nicht einmal eine Tüte für die Kondome dabei, oder eine Einkaufstasche, einen Kartoffelsack oder einen Rucksack.
Sie werkelten abwechselnd fast eine halbe Stunde an dem f*cking Kondomautomaten, doch schafften es weder, ihn von der Wand zu reißen, noch die Frontluke aufzubrechen. Jetzt stach der Skinhead mit der Spitze des Kuhfußes gegen die Ausgabeluken der Kondompackungen, sodass im Umkreis ein lautes Scheppern zu vernehmen war. Das klang wirklich kriminell. Es vergingen weitere Minuten des totalen Adrenalinkicks. Plötzlich kam der Kompagnon von der Kreuzung herbeigesprintet:
      „Die Bullen!“
      „Scheiße! Hier lang.“
Die Cops kamen in hohem Tempo ohne Sirene und ohne Blaulicht. Sie sprinteten gemeinsam los. Die Bullen kamen von links um die Ecke. Sie liefen rechts herum um das Gebäude und über die Straße zum Parkplatz des Eisladens wie beim Katz und Maus Spiel, genau in die Richtung aus der die Bullen zuvor gekommen waren. Sie sprinteten rechts an den Häuserblöcken Tim-Kröger-Straße vorbei in Richtung Bunker. Nach ein paar Hundert Metern stoppten sie allmählich und gingen den weiteren Weg. Sie gingen die Straße hoch, von wo sie das Polizeirevier auf der rechten Seite sehen konnten. Dort tat sich nichts. Klar war das riskant. Sie gingen über den Schulhof der Grundschule, nahmen Wege und Straßen, die mitten in der Nacht nicht beleuchtet waren, sodass sie im Dunkeln schnell durch die Gärten hätten türmen können, sobald sie Scheinwerfer und Motorengeräusche wahr nahmen. Zurück im Zelt ärgerten sie sich, dass sie die Sache verpatzt hatten.
Jetzt lässt sich darüber philosophieren, ob bereits der gescheiterte Versuch, einen Kondomautomaten aus der Verankerung zu reißen, strafbar sein sollte.
Dies nächtliche Desaster war vorhersehbar. Alles wirkte allzu amateurhaft. Aber sie hatten ja Zeit ihr Business zu perfektionieren. Dilettantismus mag zwar lustig sein und einen hohen Erzählwert besitzen, doch er sollte abgebrochen werden, sobald klar ist, dass die Anstrengungen zu nichts führen und obendrein zu risky waren. Alles andere wäre Punkrock.
Grundsätzlich empfiehlt es sich, im Vorfeld das Zielobjekt abzuchecken, ob der Einsatz eines Kuhfußes überhaupt Erfolgsaussichten hatte, oder ob schwerere Werkzeuge und Maschinen zum Einsatz kommen sollten. Experten raten, sich den Automaten vorher in Ruhe und nüchtern anzuschauen und nicht aus einer Bierlaune heraus zu operieren. Hätten Sie sich die Verankerung vorher angesehen, hätten sie erkennen müssen, dass sie das Gerät nicht so ohne Weiteres mit dem Kuhfuß von der Wand hätten reißen können. Sie hätten sich auch einen Einkaufswagen bereitstellen sollen, um den Kondomautomaten im Erfolgsfall besser transportieren zu können. Oder war das Ganze nur eine Torheit, denn ihnen hätte klar sein müssen, dass es utopisch sei, den Kondomautomaten aus der Verankerung von der Wand zu hebeln? War dieser Umstand den Tätern von vornherein bewusst? Wollten sie diesen Kampf David gegen Goliath nur Simulieren, um später eine tolle Suffgeschichte aus dem Ärmel schütteln zu können? Vieles deutet darauf hin.








Noch mehr Clockwork Orange

Alltag auf dem Ansgar-Spielplatz. Radke führte die Flasche Wodka zum Mund, nahm einen kräftigen Schluck, setzte ab, schien sich unmerklich zu schütteln und sagte
      „Hi, hi, Droogie Droogie Boy?“
„Mhi, mhi, mhi!“
lachte Vielmann und übernahm die Wodka-Flasche. Auch er nahm einen unverschämt großen Schluck und rief mit langgezogenem retroflexen r
      „Rrrrrighty rrright!“
mit einem übertriebenem stimmlosen Endlaut.
      „Allrrright!“
      „Gib Wut-ka!“
      „Allrrright!“
      „Allrrrhiiight!“
      „Gib mir mal einen Lippenbefeuchter!“
      „Allright!“
      „Irgendwann hol’ ich mir ne Melone!“
      „Die kriegst du im Hutladen in der Dänischen Straße.“
      „Gib Wut-ka!“
      „Allrrrrrright!“
So konnte es stundenlang gehen. Doch wir waren nur Pseudo-Droogs.
Sowohl der Film als auch das Buch waren eine intellektuelle Herausforderung für die Szene, durch die sich alle, die mitschnacken wollten, profilieren konnten.
Wir waren keine bloßen Clockwork Orange Copycats, denn wir hatten unseren eigenen intellektuellen Anspruch. Du brauchtest uns nur ein Foto mit den vier Droogs aus Clockwork Orange zu zeigen, und wir konnten Dir freudestrahlend sagen wer Alex ist, wer Dim, wer Georgie und wer Pete ist. Selbstverständlich. Alex, das musste jeder wissen, ist der Anführer, zu erkennen an den langen schwarz geschminkten Wimpern des rechten Auges. Er trägt eine Melone. Dim ist der größte und schwerste der vier Droogs. Er trägt ebenso eine Melone und ist leicht dicklich. Georgie hingegen trägt einen Zylinder, und Pete ist an seiner schwarzen Barrét-Mütze zu erkennen. Georgie Boy trägt ein langärmliges, weißes Shirt, das keinen Kragen besitzt. Die anderen drei Droogs hingegen tragen Hemden mit Knöpfen und Kragen. Wir kannten alle zeitgemäßen Bands, die sich im Droog-Style präsentierten, auf Fotos, auf Plattencovers, bei Auftritten. Wir kannten die Bands, die in ihren Songs die Droogs aus Uhrwerk Orange besangen. Es waren vor allem die Adicts, Major Accident, die Violators, Blitz, Cocksparrer (Droogs don’t run), Angelic Upstarts und die 4Skins. Manchmal verglichen wir Leute mit den Droogs Alex, Tim, Georgie und Pete.
      „Der Acer sieht aus wie Dim.“
      „Nein Bülli sieht aus wie Dim.“
Auch Musiker verglichen wir:
      „Der Gitarrist von Anti-Nowhere League sieht aus wie Georgie Boy von Clockwork Orange.“
Wenn ich in den Badezimmerspiegel schaute, verglich ich mich wahrscheinlich unterbewusst mit Alex de Large, ob in mir Züge von ihm zu finden sind, auch wenn seine Haare deutlich länger waren als meine. Auch das schrille, extrem tückische Gelächter der Droogs versuchten einige immer wieder zu imitieren, das im Film die sadistische Freude der Droogs widerspiegeln sollte. Du hörtest dieses Lachen in allen Szenen, in denen die Droogs Gewalt auf ihre Opfer anwendeten, so auch beim Landstreicher im Tunnel, so auch bei dem Überfall auf die Landlady in ihrem Wohnhaus. Ebenso wurde gerne das Posen der Droogs imitiert, breitbeinig leicht aufgegrätscht, dazu die Hände ausgestreckt und vor dem Bauch auf Gürtelhöhe übereinander gehalten, als würdest du dich auf einem Gehstock mit großem runden Knauf abstützen, wie Alex es zu tun pflegte.
      „Alter, voll geil der Film!“
      „Absolut mein Lieblingsfilm!“
      „Meiner auch!“
Wir fachsimpelten gerne über Details aus dem Film, denn jeder prägte sich andere Szenen besonders ein. Jedem blieben andere Gesprächsfetzen im Gedächtnis. Deshalb hatten wir immer einen Grund mehr, Clockwork Orange bald wiederzusehen. Einige waren so pseudo-intellektuell, dass sie den Film mit dem Buch verglichen.
      „Das Buch hat aber ein anderes Ende als der Film!“
Einige hatten sogar die englische Originalversion gesehen oder gar gelesen und konnten fachsimpeln. Andere brachten Filmzitate, die es in der Form im Film gar nicht gab.
      „Kick him in the yarbles!“
      „Droogie, Droogie, Droogie!“
      „Righty rightum!“
      „Righty righty rightum!“
Dabei hätte es “Righty Right“ heißen müssen.
Ich sagte im Rausch des Cineasten häufig “give him fisty fisty fisty“ und “malenky Horrorshow“, also malenky, ein Wort, das es gar nicht gab, als hätte ich ein eigenes Nadsat-Wort erfunden oder fantasiert. Dieses Wort existierte gar nicht bei Clockwork Orange. Wir diskutierten über das gewaltverherrlichende Potential des Kinofilms, ob die Droogs sogar Nazis seien. Dem wurde entgegengestellt
      „Dann hätten sie die Billyboy Droogs nicht fertig gemacht."
Immer wieder wurden Szenen aus dem Buch thematisiert:
      „Krass, wie er die Frau mit dem riesen Penis tot schlägt."
      „Mit dem Gulliver!"
Wir waren uns nicht sicher, ob Alex am Ende geheilt war oder doch wieder rückfällig wurde.
      „Nein, der war rückfällig. Das merkst du daran, dass er mit einem Schmatzen den Mund aufriss, als er gefüttert wurde.“
   
Zugabe, Zugabe!








Das Skinhead-Trendgetränk Moscato

(Nie wieder Moscato)

Solange der SKY Markt geöffnet hatte, konnten wir uns unser Skinhead Trendgetränk Moscato besorgen, das wir an einigen Tagen gleich kistenweise kauften mit sechs 0,75-Liter-Flaschen Moscato pro Kiste. Die Moscato Box wurde gemeinschaftlich auf dem Ansgar geschlachtet. Die Flaschen wurden nach Lust und Laune kaputt geworfen.
      Vom vielen italienischen Schaumwein, oder Sektverschnitt, wie einige sagten, fühlten wir uns bereits wie richtige Italiener. Unsere Leidenschaft für Moscato trat in der Zeit nach dem Fußballspiel gegen die Mad Boys verstärkt auf. Diese neue Trinkgewohnheit wirft im Nachhinein doch ein paar Fragen auf, weil wir tatsächlich wochenlang nichts anderes soffen. Sonst waren doch vor allem Bier und harter Schnaps unser Ding.
      Einmal brachte Gonnrad einen Fotoapparat mit und schoss einen ganzen Film mit den feiernden Skinheads. Als er die Fotos eine Woche später entwickelt hatte, brachte er sie mit auf den Ansgar und verteilte sie auf eigentümliche Weise wahllos an die anwesenden Skinheads und andere Herren - ohne Sinn und Plan, wie beim Verteilen von Glücks- oder Gewinnkarten. Die Fotos wurden später ebenso weitergegeben und weiter verschenkt. Ich erhielt ein Foto, auf dem ein Skinhead abgelichtet war, von dem jedoch der Kopf nicht auf dem Ausschnitt zu sehen war. Immer wenn ich das Foto wieder fand und es betrachtete, fragte ich mich, wer das gewesen sein könnte. Ich konnte es nicht mehr zuordnen. Es hätte jeder der Skinheads gewesen sein können, weil alle so uniformiert waren, alle Docs trugen, alle Jeans und Bomberjacken trugen und das Gesicht entscheidend gewesen wäre. Doch das Gesicht und die Skinhead-Frisur fehlten. Wenn der abgebildete Skinhead gerade eine Straftat begangen hätte, wäre er unbehelligt geblieben. Ich zeigte das Foto später anderen Leuten aus der Szene. Niemand konnte zuordnen, welcher Skinhead auf dem Foto abgebildet war. Ich vermute, dass es Gonnrad gewesen sein muss. Unter Umständen war ich das ja sogar selbst.
      Ich kann mich erinnern, dass Gonnrad die Fotos nicht direkt in die Hand weitergab, sondern dass er sie wie beim Ausgeben eines Skat- oder Poker-Blatts einfach auf den Boden in den Sand warf oder als würde er Tauben füttern. Die anderen anwesenden Skinheads stürzten sich auf die Fotos um eines zu ergattern. So drastisch war die Party-Laune, die unser Skinhead Trendgetränk Moscato erzeugte.
Von Moscato konnten wir besonders kräftig rülpsen, auch wenn das Rülpsen im Abgang extrem schal schmeckte. Auf dem Ansgar zwischen Mauern und Häuserblocks im Schatten der Kirche gab es bei den fürchterlichsten Rülpsern sogar ein Echo. Die Flasche Schaumwein war einfach zu öffnen. Die Flaschen hatten einen Drehverschluss. Moscato war immer vorrätig im SKY-Markt. Jeder Skinhead konnte zwei Kartonkisten jeweils unter den Armen tragen. Am Ende lag der Spielplatz voll mit Verpackungsmüll, leeren und zerschlagenen Moscato Flaschen, und die Skins liefen bölkend durch die Gegend. Wir soffen so viel von diesem Schaumwein, dass wir ihn irgendwann nicht mehr sehen konnten und als Gruppe komplett ablehnten. Bald war der Tag erreicht da konnte keiner von uns mehr Moscato trinken. Auch ich trank seitdem nie wieder diesen scheiß Schaumwein. Und würde ich ihn heutzutage wieder trinken, würde ich vermutlich übel aufstoßen und der Magen das Gesöff ablehnen, sobald ich den Moscato-Geschmack in Mund und Rachen verspürte. Ich werde dieses Zeug sowieso nie wieder anrühren, denn mit dem Geschmack würden schlechte Erinnerungen hochkommen, aber sicherlich auch ein paar gute. Letztendlich macht es die Masse, denn es war einfach zuviel des Sektverschnitts, und unsere Köpfe waren vom Saufen bräsig wie Schaumstoff oder Schaumgummi.

Nie wieder Moscato!

Selbst jetzt während ich diese Zeilen schreibe, kommt mir der süße ranzige Moscato Geschmack wieder in den Mund, und Leute, ich sage euch, es ist kein gutes Feeling. Wenn jetzt auch noch echter Moscato auf dem Tisch stehen würde, droht wohlmöglich Unheil, und ich würde abkotzen im Strahl wie ein Reiher, liebe Droogs.
Unser temporäres Skinhead Trendgetränk Moscato war anfangs etwas ganz Besonderes. Schon die Flasche mit dem Etikett und dem wohlgeformten Flaschenkörper wirkte sehr nobel. Deshalb fühlten wir uns ebenfalls absolut nobel, wenn wir Moscato tranken. Von der Farbe der Flasche passte Moscato gut zu den Bomberjacken.
Doch wir genossen das Getränk nicht, wir kippten es runter wie Droogs, die durch die Wüste gegangen sind und zu einer Oase kamen. Teils tranken wir den Moscato so gierig, dass er uns die Kinnlade runter lief.
Das süßliche Gesöff klebte wie angetrockneter Saft und roch sehr intensiv. Als Punk hättest du es dir gut in die Haare schmieren können. Wenn dir der Moscato auf die Boots kleckerte, so klebte er recht widerlich. Auf den Docs konnte sich eine Siffschicht bilden. Wenn du den Moscato unter der Sohle hattest, weil du in eine Moscato-Pfütze getreten warst, klang das mitunter so, als würdest du Dachpappe vom Dach reißen, so hoch war die Haftfähigkeit, im Prinzip wie Kleister. Ausgeschütteter Moscato auf glattem Boden wirkte  gefühlt so wie angetrocknetes Blut.
      Wir aasten mit dem Zeug. Der Klapperschluck wurde weggekippt oder stehen gelassen. Manchmal wurde die leere Flasche mit dem Klapperschluck einfach an die Graffitiwand links neben der Kirche geklatscht, sodass der Klapperschluck wie bei einer Schiffstaufe die Graffitis runter lief. Moscato war wirklich extrem billig. Von den Billiggetränken war es das Beste. Wir tranken Moscato nicht, wir gönnten ihn uns. Ein Abend mit Moscato wurde zu einem besonderen Abend. Moscato wurde stets in der Gruppe konsumiert und nie alleine.  
      Die Moscatofahne war wirklich eigentümlich. Andere erkannten am Geruch der Fahne, dass wir Moscato intus hatten. Zu dieser Moscatozeit reagierten die Dewotschkas anders auf uns, denn Schaumwein galt eher als typisches Getränk der weiblichen Szenegängerinnen, so könntest du glauben. Viele kannten Moscato überhaupt nicht, und wenn wir den Schaumwein anboten, mussten wir erst erklären, um was für ein Getränk es sich handelte. Wer danach mittrank, trank trotzdem recht skeptisch, zumal einige vermuteten, dass es sich um einen Kellergeisterverschnitt handelte unter anderem Namen und andere Aufmachung. Doch Moscato hatte einen eigentümlichen Geschmack der zunächst gierig machen konnte, aber am Ende zur Ablehnung führte, wenn du zu viel davon konsumiertest.
      Dieser wochenlange Moscatokonsum tat uns nicht gut. Er begleitete das Ende der Kieler Skinheadszene Flasche für Flasche. Moscato war das Getränk zum Untergang. Nach der Schaumwein-Phase nahmen die Rechten Marotten überhand, was jedoch nicht am Moscato lag, sondern an den Scheitelträgern, diese Fascho-Pisser Besserwisser, die zunehmend versuchten, die Kieler Skinheadszene zu indoktrinieren.
      Ich soff in keinem anderen Zusammenhang jemals wieder Moscato, sondern nur mit der Skinhead- und Oi-Szene und den zwei, drei Mods auf dem Ansgar. Ich kam später nie wieder auf die Idee, mir jemals wieder eine Flasche Moscato zu kaufen, denn mir schien das Zeug wirklich unerträglich nach den Erfahrungen mit der Skinhead-Clique auf unserem Spielplatz.
Der Moscato klebte an den Fingern, er klebte auf der Haut, am Mund und an der Kleidung. Auch die Flaschen selbst klebten manchmal. Wir kamen zu der Zeit gar nicht auf die Idee, mal etwas anderes zu trinken. Es war ein Moscato-Rausch nach dem anderen auf dem gefährlichen Spielplatz. Stundenlang wurde nur Moscato gesoffen bis tief in die Nacht hinein. Wenn tatsächlich mal nichts mehr übrig war und unser Durst unvermindert, gab es immer noch Bier von Bierautomaten oder Billig-Drinks von der Tanke. Ansonsten stand den ganzen Tag seit Inbeschlagnahme des Ansgars nur Moscato auf der Getränkekarte. Wenn jemand fragte
      „Was wollen wir zum Saufen holen?"
lautete die Antwort kurz und schmerzlos wie bei einem Treppenwitz
      „Moscato."
      „Okay, wir gehen los und holen vier Kisten.“
      „Beeilt euch!“
So weit ich mich erinnern kann, kam es nicht vor, dass kein Moscato mehr vorrätig war.
      Der Billigschaumwein war scheinbar grenzenlos vorhanden. In anderen Läden im Stadtgebiet sahen wir Moscato nie. Bloß beim f*cking SKY Markt in der Holtenauer links neben der Bazille kauften wir nichts anderes, und wir wussten in welchem Regal die Kisten griff- und abholbereit standen.
      Doch eines Tages gab es tatsächlich keinen Moscato mehr bei SKY. Wir hatten fertig. Ich sah diese typische Moscato Edition mit dem weißen Etikett und der goldfarbenen Aufschrift nie wieder. Vielleicht gab es Lieferengpässe? Vielleicht hatten wir alle landesweiten Vorräte aufgekauft und weggesoffen?

Nie wieder Moscato.









„SKINHEAD“ von Richard Allen - jeder kennt das Buch, niemand hat es gelesen

Wenn sich die Skins auf dem Ansgar oder anderswo trafen, kamen sie regelmäßig auf das Taschenbuch SKINHEAD des englischen Autors Richard Allen zu sprechen. Die Skins schwärmten von diesem Buch
      „Geil, wie die alte englische Skinhead-Szene Ende der 1960er beschrieben ist.“
Alle Skinheads auf dem Ansgar-Spielplatz waren sich einig, dass ein richtiger Skinhead dieses Buch gelesen haben musste, obwohl es als Trivialliteratur galt. Bald kristallisierte sich heraus, dass zwar alle das Buch kannten, ja sogar wichtige Passagen wiedergeben konnten, aber letztendlich niemand das Buch gelesen hatte. Außenstehende, vermutlich 68er-Hippies, hatten vor allem Gonnrad und den Konz-Brüdern den Buchtitel und den groben Inhalt gesteckt.
      Auch ich hätte das Buch damals gerne besessen, doch mir war nicht klar, wie ich an das Buch hätte herankommen können. Es war nicht einmal ins Deutsche übersetzt. Zwischenzeitlich war mir sogar der Name des Schriftstellers entfallen. Ich kam gar nicht auf die Idee, in einem Bücherladen nach dem Titel zu fragen oder es zu ordern. Dabei war  es doch Pflichtlekture bei richtigen Skins. Mit SKINHEAD von Richard Allen hätte ich 100pro besser Kontra geben können bei all den pseudo-intellektuellen, angeblich so superbrutalen Skins, die das Buch so geil fanden, ohne es gelesen zu haben.
      Auch ich fing allmählich an über den alten End-60er Skinhead-Kult zu labern und weiterzutragen, was wir uns im Ansgar-Chaos erzählten, was genauso im begehrten Skinhead-Kultbuch stehen musste. Wir bauten unsere kleine Skinheadwelt so auf, wie sie laut mündlichen Berichten im Taschenbuch dargestellt war. Das Buch, das Kleidung, Verhalten und Sprache der Londoner Skins beschrieb, war für uns jetzt schon Dogma und Gesetz. Die End-60er-Skinheads aus London trugen gleichermaßen Hosenträger, Doc Martens und kurzgeschorene Haare, waren West Ham United Fans, genauso wie die geschätzten Cockney Rejects. Immer wieder hieß es hinter der Kirche auf dem Ansgar von eingefleischten Skins:
      „Das sind unsere Roots, ey!“
      „Das Buch muss ich mir unbedingt besorgen.“
      „So ein geiler Skinheadroman!“
      „So ein geiles Buch!“
      „Ich will es unbedingt demnächst lesen.“
      „Ich hol mir das auch. 100pro.“
    „Die Skins sahen damals schon so aus wie wir. Da hat sich nichts geändert.
      „Das ist Skinhead-Kult.“
Es gab Skinheads, die ein Buch empfahlen, das sie nie gelesen hatten
      „Ein geiles Buch. Das musst Du Dir unbedingt mal reinziehen“,
Das war mehr als absurd.
     „Ja, genauso waren die guten alten englischen Skins, und so wollen wir auch sein.“
      „Der hat das in dem Buch genau beschrieben. Das muss jeder Skinhead gelesen haben.“
      „Ich weiß.“
      „Hast Du das Buch?“
      „Nein, leider nicht.“
      „Aber gelesen hast Du es doch?“
      „Nein, auch nicht. Werde ich mir aber besorgen.“
      „Das ist ja ein Skandal.“
      „Cheers!“
Da entlud sich ein schallendes Gelächter. Irgendwie hirnverbrannt, gelebte Idiotie. Allerdings sagten die Ansgar-Chaoten ganz offen, wenn sie gefragt wurden, ob sie das Buch gelesen haben, dass das nicht der Fall sei. Und auch beim nächsten Mal wurde beteuert, das Buch definitiv bald zu besorgen und zu verschlingen,
      „Das ist einfach ein Muss für einen richtigen Skinhead.“
Das alles war Teil unseres Pseudo-Gehabes auf dem Ansgar.
Tauchte ein neuer Skinhead oder Sympathisant auf dem Ansgar-Spielplatz auf, wurde ihm bald ebendieser Skinheadroman empfohlen, obwohl immer noch niemand den Text kannte.
      „Kennst Du SKINHEAD von Richard Allen?“
      „Nee. Wie heißt der?“
      „Richard Allen. Lies das mal!“
Und wenn du endlich Leute kennenlerntest, die das Buch besaßen, wie dieser Skinhead mit seinem Skin-Girl, die sogar davon schwärmten,
     „Ist voll geil!“
so hatten sie es trotzdem nie gelesen.
Da wunderte ich mich umso mehr. Das Paar machte mir das Angebot, das bisher ungelesene Buch von Richard Allen auszuleihen. Doch ich reagierte gar nicht darauf und freute mich einfach über das Angebot, ohne es zu nutzen. Dermaßen verpeilt war ich.
      Als ich mir viele Jahre nach dem Spielplatz-Chaos endlich das Buch kaufte, war es für mich ein riesen Kick und ein Aha-Effekt. Ich las darin wirklich aufmerksam und hoch konzentriert, machte sogar ein paar Notizen. Da fiel mir erst so richtig auf, was wir doch für Schnacker waren. Das war alles mehr als skandalös. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass besonders viele der alten ’84er-Skins dies Kult-Buch tatsächlich vor ihrem Lebensende in die Finger bekamen. Die langjährige Ignoranz der Skinhead-Chaoten wirkte genauso, als hätte ein Pastor nie in der Bibel gelesen, ein Rabbi nie im Talmud oder ein Islamgelehrter nie im Koran. Das Gleiche gilt für Richter, die das Grundgesetz nicht kannten oder Schiris, die nie ins DFB-Regelwerk schauten. Oder der Extremfall: Ein Droog der nie Clockwork Orange gelesen geschweige denn den Film je gesehen hatte.
Es fiel auf, dass das Buch ein ganz falsches Bild vom Skinhead-Dasein vermitteln konnte, je nachdem, wie es gelesen wurde. Denn die 80er-Skins predigten Arbeitertum, Solidarität und ihre Lieblingsbands, während es bei den beschriebenen End-60er-Skins nur um das verklärte Bild der ultrabrutalen Suffschläger und Hooligan-Vorläufer ging. Mir war schon klar, dass es zu der Zeit keine Punks gab, aber eben die Skins. Es kam die Frage auf, ob Kieler Skins unbedingt die Londoner Skins aus der beschriebenen Zeit nacheifern und deren Klischees unreflektiert übernehmen sollten.
      Als ich Seite um Seite das Buch verschlang, war ich doch ziemlich geschockt, wie rassistisch es ist. Ich wollte es deshalb wieder aus der Hand legen und nicht zu Ende lesen. Ich fragte mich bald, ob nicht das Buch selbst rassistisch sei, sondern lediglich die Skins, die darin zu Wort kamen. Wollte der Autor möglichst authentisch den Londoner Skinhead-Kult wiedergeben? Oder wollte er mit den fiktiven Figuren und Ereignissen provozieren? Wollte er die Entwicklung der Skinheadszene steuern und uns indoktrinieren? Schockierend wurde der latente Rassismus, wenn Asiaten als „wogs“ bezeichnet wurden, People of Colour mit dem “n-word“ oder als “spades“ und Migranten generell als “outside talent“. Ich achtete darauf, wie der Autor als Erzähler fungierte, bemerkte schließlich, dass dem allwissenden Erzähler die Distanz fehlte, denn er ereiferte sich non-stop in Gewaltphantasien. Der Mann äußerte sich beim Beschreiben der Details rassistisch und sexistisch und schien sich als Autor in einen Rausch zu steigern. War denn etwas faul am Skinhead-Kult, den die kieler Skins vom Ende der Sixties importieren wollten? Sollte das Buch abschrecken und zur Mäßigung animieren oder war es einfach nur schlecht? Schlussendlich las ich das Buch mit einer gehörigen Portion Wut im Bauch zu Ende.
Als nächstes fiel mir auf, dass der Londoner Skinhead-Mob einen eigenen Sprachcode besaß. Sie verwendeten viele markante Wörter und Redewendungen, die wir höchstwahrscheinlich übernommen hätten, zumal das Buch in seiner Machart stark an Clockwork Orange und die Brutalität der Droogs erinnerte. Zwar war nicht von „tollshocken“, „Horrorshow“, „Britwa“, „Gulliver“ und „Glotzis“ die Rede, aber immerhin von “easy aggro“, “strictly verboten“, “anti-everythings“ und “pseudo-politics“.
Ich lernte, dass es in dem Buch reihenweise bösartige rassistische Skins gab, die teils Witze über das Judentum rissen. Das wurde relativiert, weil einer aus der Skinhead-Clique, Hymie, selbst Jude war. Permanent gab es sexistische Äußerungen. Frauen wurden als „tart“, “wet-knickered bitch“ und “Soho brass“ bezeichnet, und es wurden in aller Machohaftigkeit Vergewaltigungen beschrieben. Muss das denn sein? Wo bleibt da der Gentleman?
Trotz der negativen Elemente konnte ich diese Skinhead-Bibel irgendwann nicht mehr aus der Hand legen, denn ich wollte es wissen, angewidert vom Skinhead-Kult und der eingeforderten Härte. Das hatte nichts mit Intellekt zu tun. Jetzt, wo ich schon lange kein Skinhead mehr war, erhielt ich einen komplett anderen Einblick in die Szene. Auf diese Weise wurde der End-60er-Schinken gar nicht auf dem Ansgar diskutiert. Der allwissende Erzähler versetzt sich voll und ganz in die Denkweise der Skinheads und gibt sich anhand der Sprache, des Cockney Slangs, als einer von Ihnen zu erkennen. Das macht das Buch umso gefährlicher.
Ich musste einsehen, dass viele der beschriebenen Londoner Skins nichts anderes waren als rassistische, sexistische und versoffene Vollidioten, genauso wie viele der Kieler Skins in der Endphase des Ansgar-Treffpunktes. Außerdem attackierten die West Ham Skinheads die Chelsea Skins, in einer Form, dass es an Krieg im Stadion grenzte. Und sie hassten die Hippies. Das war ein weiterer Lernprozess.
Die Handlung des Buchs war dermaßen verdichtet, dass die Protagonisten von einer Straftat in die nächste schlitterten. War das Buch sogar ein Fall für die Bundeszentrale für jugendgefährdende Schriften? Gehörte das Buch auf einen Index, auch wenn es nur auf Englisch erhältlich war? Sollten sie sogar SKINHEAD von Richard Allen verbieten? Nein!
Der entscheidende Unterschied zu den End-60er-Skins war, dass Musik nicht in dem Maß eine Rolle spielte, wie später in den 80ern, als Oi!-, Skinhead- und Redskin-Bands für Furore sorgten. Für mich sind sogar Bands wie Redskins, Red Alert und Red London Redskin-Bands. Einige behaupteten sogar, das Wort Redskin sei rassistisch. Doch das ist Unfug.
Das Buch SKINHEAD konnte deshalb ein falsches Bild vom Skinhead-Dasein vermittel, denn es ging nicht um Musik, sondern um Gewalt. In den 80ern hingegen definierten sich wirklich alle über die Protagonisten der Musikszene. Jeder hatte sein Steckenpferd. Die Konz-Brüder definierten sich über Cockney Rejects, Heimerich über Angelic Upstarts, Steff und ich über 4Skins, Red Alert und The Oppressed, Gonnrad über Toy Dolls, Radke über Major Accident. Vielmann und der Acer über die Adicts. Ringo am liebsten über Infa Riot und die Redskins.
Auch die Kieler Straßenclubs hatten ihre Vorlieben an Musik. Die Mad Boys hörten viel Toy Dolls, die Mad Fighters viel Party-Metal. Die Living Deads hörten Böhsen Onkels, während sich die Fascho-Skins vor allem über Skrewdriver definierten.
      Wir tauschten uns immer darüber aus, was wir gerade so an Skinhead- und Oi-Musik hörten.
      „Bei mir laufen derzeit nur noch die ersten zwei Cockney Rejects!“
      „Urban Guerilla ist geil!“
      „Hansi hat die Oppressed-LP!“
      „Du Pisser, die verleih ich nicht.“
      „Ich hab mir die Last Resort LP geholt.“
      „Bei Tutti?“
      „Joo, gab’s in der Grabbelkiste.“
      „Die zweite 4Skins ist nicht so gut! Die kommt niemals an die erste ran.“
      „Ist auch eine andere Besetzung inzwischen.“
      „Krass der Typ mit der tätowierten Spinne am Kehlkopf.“
    „Sham 69 hat übrigens auch eine LP mit einer Live- und einer Studio-Seite!“
      „Geil!“
      „Tell us the Truth!“
Jetzt, wo ich das Buch schlussendlich zu Ende gelesen habe, konnte ich mir ein Urteil über diese Skinhead-Fiebel erlauben. Ich bin überzeugt, hätte ich diesen Skinhead-Schundroman tatsächlich Mitte der 80er gelesen, wäre ich ein vernünftiger Skinhead geworden. Ich wäre zwar arrogant mit geschwellter Brust über den Ansgar gelaufen, nur weil ich das Buch kannte, wäre jedoch in der Lage gewesen, die flachen Vorurteile, die in der Szene kursierten, zu entlarven und die Distanz zum transportierten Gedankengut zu halten. Es dämmerte mir. Sollte ich jemals wieder Skinhead werden, wäre das nur möglich offensiv antifaschistisch, anti-sexistisch, straight edge und entschlossen, diese elementaren Werte zu verteidigen. Ich hätte auch meine Haltung zu den Hippies korrigieren müssen. Keep on keeping on!
    






Saufen an der Tankstelle

Liebe Punks, liebe Skins! Liebe Punk-Girls, liebe Skinhead-Girls! Wenn abends die Supermärkte geschlossen hatten und sogar die nächsten Bierautomaten leergezogen waren, so mussten wir uns an der nächsten Tankstelle eindecken.
      „Ey, lass uns mal zur Tanke!“
  „Lass uns lieber zur Shell-Tanke. Die haben eine bessere Auswahl.“
Sprit- und Dieselpreise waren uns egal. Wir kamen nicht zur Tanke um zu tanken. Wir kamen um zu saufen. Wenn jemand die Spritpreise thematisierte, war es, weil es eine Schnappszahl oder ein fatal falsch eingestellter Preis war.
      Oh Brüder und Schwestern der Straße, könnt ihr überhaupt erahnen, was es für ein Drama war, wenn Du Dich mit letztem Elan und vielleicht auch mit dem letzten Geld zum Bierautomaten schlepptest und feststellen musstest, dass dieser f*cking Bierautomat bereits leergezogen war.
      „Scheiße!“
      „Ist er leer?“
      „Leer, leer, alles leer!“
      „Verdammte Scheiße!“
      „Das kann doch wohl nicht wahr sein.“
      „Ich glaub’s nicht.“
      „Ich dreh ab!“
Erschöpft und in völliger Verzweiflung kickten wir das scheiß Ding. Der Weg war umsonst. Es brachen Welten zusammen. Könnt ihr es nicht verstehen, dass der Hass sich in Aggression entlud, und dass die betrunkenen Punks, Skins, Headbanger und Straßenclubs wie wildgewordene Tiere gegen den Bierautomaten traten und hämmerten, weil sie nicht verstehen konnten, dass dieses f*cking Metallteil um die Uhrzeit schon leer war. Das Fluchen und die Tritte und die Faustschläge gegen den Bierautomaten waren hunderte von Metern weit zu hören und schepperten durch die Wohnhäuser. Die Verzweiflung und Enttäuschung, dass es kein Bier mehr gab, konnte nur kompensiert werden, indem wir uns an den Automaten abreagierten. Wenn überhaupt würde nur dies Verhalten gewährleisten, dass der bloody Bierautomat beim nächsten Mal rechtzeitig aufgefüllt würde. Denn wenn die Nachbarn sich wegen des Getöses bei den Automatenaufstellern beschwerten, war klar, dass der Automat voll sein muss, am besten rund um die Uhr. Wir wussten, wie wir gegen den Automaten zu kicken und zu schlagen hatten, gerne auch mit der gesamten Fußsohle. Es waren symbolische Kicks, bei denen trotzdem manchmal das Metall Schaden nahm. Deshalb können wir von Glück reden, dass die Tankstellen ihre Öffnungszeiten ausdehnten und das Sortiment ausbauten.
Bei Großkäufen war es grundsätzlich besser um die Uhrzeit, gleich zur Tanke zu gehen. Bierautomaten hatten ein eigenes Trinkverhalten zur Folge. Die Party fand auf dem Bürgersteig statt. Oder die Leute kauften sich ein Bier für den Weg. An der Tanke konnten wir uns hingegen so richtig eindecken und hatten keine Probleme mit defekten Ziehungsgeräten.
      Wenn wir zur Tanke an der Brunswiker gingen oder zur Shell-Tanke Ecke Olshausener, konnten wir uns immer noch in die nächste Waschhalle setzen. Allerdings kam es immer wieder vor, dass keine Trinkhalle in der Nähe war und es obendrein pisste, sodass wir direkt an der Tankstelle saufen mussten. Das konnten die Tankstellenbetreiber so nicht tolerieren. Sie hatten wohl klare Anweisungen, exzessives Trinken und Abziehdelikte auf dem Tankstellengelände konsequent zu unterbinden. Deshalb versuchten sie uns immer wieder vom Tankstellengelände zu vertreiben, wenn es eskalierte. Doch manchmal trauten sie sich nicht.
      „Geh mal nur einer oder zwei rein. Sonst gibt es wieder Stress.“
      „Ja, gib erstmal Geld.“
      „Lass mal zusammenschmeißen.“
      „Das reicht für eine Palette Halbe.“
      „Optimal!“
Die Palette Holsten bestand aus sechs Sechserträgern auf einer rechteckigen Pappschale. Jeder Sechserträger bestand aus sechs goldfarbenen Holsten Halben, die lediglich mit etwas Plastik mit sechs milchig durchsichtigen Plastikösen aneinander gebunden waren. Das war ein labberiges Konstrukt, sodass dir die ganze Palette auseinanderkrachen konnte, besonders, wenn die Pappe vom Regen aufgeweicht war.
      „Nimm mal einer ab, das Ding kackt ab.“
Wir kamen immer wieder mit Autofahrern ins Gespräch oder mit anderen Kunden der Tankstelle. Geklaut wurde routiniert und wie selbstverständlich, wenn es Sinn ergab. Das war meistens vorbei, sobald das komplette Alkoholsortiment nur noch hinterm Verkaufstresen abrufbar war, oder wenn Bezahlung und Ausgabe ausschließlich am Schalter erfolgten.
Es gab Tankstellenvorplätze, die recht unübersichtlich oder weitläufig waren. Das traf auf die Tankstellen am Königsweg zu, die Tanke oben am Westring oder die in der Gutenbergstraße. Manchmal stellten wir uns einfach so hin, dass sie uns vom Verkaufstresen aus nicht sehen, auch nicht über einen Hohlspiegel erspähen konnten. Manchmal standen wir seitlich der Tankstelle oder sogar hinten auf dem Hof, manchmal in der nächsten Torduchfahrt oder setzten uns auf eine kniehohe Mauer wie in der Schauenburger Ecke Knooper, wo später nur Leergut provokativ auf der Mauer und auf dem Bürgersteig, manchmal auch hinter uns auf dem Rasen, zurückblieb.
     „Lass uns mal hier hinsetzen, ich kann nicht mehr laufen.“
      Saufen direkt an der Tanke bedeutete permanenten Benzingeruch in der Nase. Mit dem Rauchen war es ohnehin schwierig, denn das brachte das Personal sofort auf die Palme.
      „Könnt ihr bitte mal mit den Zigaretten die Tankstelle verlassen.“
      „Oh, gar nicht gemerkt. Ich geh gleich weiter.“
Es liefen teils chaotische Szenen ab, wenn jemand besoffen Scherben verursachte und die Scherben in einen der Wassereimer zum Scheibenwaschen entsorgte.
Für eine Weile hatte jetzt die Tanke in der Bergstraße wieder geöffnet, mal in dem Verschlag vorne an der Straße, später rechts an der Ecke gegenüber vom Hinterhof in dem Block mit dem E-Gitarrenhändler und dem Billardsalon.
Bald wurden nach und nach Nachtschalter an der Tanke eingeführt, so auch Knooper Ecke Alsenstraße und am Königsweg, jedoch nicht in der Brunswiker und auch nicht Ecke Olshausenstraße. Manchmal trafen wir an der Tanke Bekannte. Ob Mad Boys, Suffschläger, Waver oder andere Minzbekanntschaften. Man begrüßte sich, unterhielt sich, stieß an oder zog gemeinsam los. Als Skins hatten wir deutlich seltener einen Kasirekorder dabei. Das war zu Punkzeiten anders.
      Im Tankstellenbereich soffen die Skins bei jedem Wetter und zu jeder Jahreszeit. Erst, wenn ein Skinhead mit den Zähnen klapperte oder wenn wir vom „Tankwart“ verjagt wurden, stellten wir uns in Tordurchfahrten, Hauseingänge oder setzten uns in die Waschalle. Es waren nicht nur heruntergekommene Skins, sondern die Creme de la Creme der lokalen Skinheadszene und andere Assis. Es gab auch die ein oder andere Hauerei.  
      Stidi erzählte mir eines Tages auf dem Ansgar, dass sein Traum sei, als Pornodarsteller zu arbeiten. Momentan würden wieder Darsteller gesucht. Er würde sich gerne in Flensburg bei Orion oder Beate Uhse höchstpersönlich  bewerben. Auf solche Ideen kam er meistens, wenn er sich in einen Rausch geredet hatte. Die meisten von uns konnten ohnehin nur mit Bier in der Hand reden.
Wenn wir in einer Traube auf dem Tankstellengelände standen und einigermaßen diszipliniert soffen, so stieß sich kein Tankwart der Welt daran. Wir wurden ignoriert oder geduldet aber nicht verscheucht. Es sei denn, das wieder etwas Ausuferndes passierte oder dass es zu viele Leute wurden und wir die Autos beim Tanken behinderten. Da waren sie an der Shell-Tanke besonders rigoros, denn die hatten nicht nur mit den Skins zu kämpfen, sondern auch mit den Mad Boys und versoffenen Studenten. Das konnte schon mal überhand nehmen. Außerdem war es keine besonders gute Werbung für eine Tankstelle, wenn dort Scherben, Verpackungen von Sechserträgern und zerknüllte Dosen herumflogen. Nach leeren Dosen wurde ohnehin immerfort getreten, bis sie über den Boden schepperten und woppelten.
Für Punks an Tankstellen galt hier das gleiche wie in Waschhallen: Gegen Punks wurde entschlossener vorgegangen als gegen Skinheads, und sie erhielten schneller Platzverweise. Der Hass auf Punks war in weiten Teilen der Bevölkerung in der Marine- und Uni-Stadt Kiel größer als auf Skinheads, denn die Kurzhaarfrisur etablierte sich immer stärker.








Ich, Schiri und Skinhead

+++ Achtung Skinhead-Scheiße+++

Beim Fußball trug ich nach meiner Sprunggelenksverletzung die Schuhmodelle Adidas Liverpool und Rotterdam. Die besaßen einen hohen Schaft und reichten über die Knöchel. So war das Sprunggelenk einigermaßen geschützt und stabil abgepolstert. Deshalb wurde ich manchmal aufgezogen. Doch anstatt mich im Sportverein durchzusetzen, versuchte ich es weiterhin auf der Straße.
In dieser Saison brauchte die Fußballabteilung neue Jungschiedsrichter, um Strafzahlungen seitens des Kreisfussballverbandes zu umgehen.
Nach meinem Berlin Trip ’84 war ich mehr Skinhead denn je. Ich hörte zu der Zeit die LP „The Good, the Bad & the 4 Skins" rauf und runter. Ich hatte mich sogar in Berlin als Skinhead profiliert und mich mit meinem frisch rasierten Skin bei Vinyl Boogie blicken lassen, wo ich die mit Pogo-Platten zugeklebten Wände sah. In diesem Lebensabschnitt war ich bereits Schiedsrichter, Jungschiedsrichter genau genommen. Während meiner gesamten Schiedsrichter-Phase war ich Skinhead, vom ersten bis zum letzten Spiel, und ich griff von Spiel zu Spiel härter durch, disziplinierte zudem immer wieder Zuschauer mit lauten Pfiffen und lautstarken Belehrungen, dass einige zusammenzuckten. Jetzt konnte ich mich an den Vereinen rächen, die ich hasste und ließ ein paar mir bekannte Trainer und Spieler wissen, was ich unter fairen Spielverhalten und Respekt auf den Zuschauerrängen und den Trainerbänken verstand.
Mein B-Jugend Trainer Hennes hatte mich gefragt, ob ich Lust hätte, eine Schiedsrichterausbildung zu absolvieren. Ich machte nur deshalb mit, weil Olli und der Grieche ebenfalls mitmachten, und weil von Fahrtkostenerstattung und Spesen die Rede war. Der Rote wurde zwar auch gefragt, ob er Jungschiedsrichter werden wollte, aber er weigerte sich strikt und trat sogar aus dem Verein aus. Für mich hingegen als Schüler, krimineller Jugendfußballer und Skinhead mit Alkoholproblemen war das ein besonderer Anreiz, obwohl es absehbar war, dass das nach hinten losgehen würde. Der Verein hatte die Hoffnung nicht aufgegeben, mich zu sozialisieren und gesellschaftlich besser zu integrieren. Deshalb versuchte ich meine Chance zu ergreifen. Unsere Schiedsrichterausbildung fand in Kiel-Gaarden auf der Baukampfbahn statt, wo ich sowohl den Fitnesstest mit Sprints und Rückwärtslaufen, als auch den theoretischen Teil mit Multiple-Choice Fragen absolvierte. Schließlich erhielt ich das Booklet mit den DFB-Regeln und meinen frischen Schiri-Lappen. Ab jetzt durfte ich Jugendspiele pfeifen von Mannschaften, die jünger waren als ich. Ich durfte mir auf Kosten des Vereins die Schiedsrichterausrüstung kaufen. Ich tat das bei Sport-Huch am Exerzierplatz, wo Hennes, unser Trainer, der nach wie vor Sport studierte, zusätzlich eine Einzelhandelsausbildung zum Sportartikelverkäufer absolvierte. Als ich beim Kauf die rote und die gelbe Karte in den Händen hielt, wusste ich, dass das ein Heidenspaß werden würde. Doch die kurzen, engen und arschbetonten Schiedsrichterhöschen waren unterste Schublade. Das dämpfte die Freude.
      Ehrlich gesagt, war das alles viel zu hart für mich: das volle Programm an der Schule, Samstagmorgen Deutsch-Nachhilfe, Fußball B-Jugend Landesliga, das Saufen mit meinen Skinhead-, Punk- und New Wave Kumpels, Kneipenfußball fürs Exit und jetzt auch noch die Tätigkeit als Jungschiedsrichter. Und Montags hatten wir dazu häufig Straftraining, wenn wir am Sonntag schlecht gespielt hatten. Das war für einen 17-Jährigen schon volles Programm, und das spiegelte sich in meinen schlechten schulischen Leistungen wider. Ich weiß, das klingt wie eine dumme Ausrede.
      Nach meinem Knock-Out an der Hebbelschule hätte mich jeder formen können, ob rechts oder links, ob gut oder böse, ob Christ oder Moslem. Doch das Los fiel auf die Schiedsrichterabteilung, mir den entscheidenden Schliff zu verpassen.
      Schon im ersten Spiel als Schiri zeigte ich allen, was ich unter Durchgreifen und Respekt auf dem Fußballplatz verstand. Ich, Schiedsrichter und Skinhead, ließ keinen Zweifel aufkommen, wer auf dem Sportplatz das Sagen hatte. Wortgefechte brach ich einfach mit einem ohrenbetäubenden Pfiff in die Schiripfeife ab. Ich pumpte dabei alles in die Pfeife, sodass es wirklich schrill klang und die Leute zusammenzuckten. Das war mein gutes Recht, auch wenn es oberhalb der Schmerzgrenze lag.
An vielen Kieler Fußballplätzen waren Schilder angebracht, die auf Respekt auf dem Sportplatz und gegenüber den Schiedsrichtern hinwiesen.

„Wer den Schiedsrichter beleidigt, muss damit rechnen, des Sportgeländes verwiesen zu werden.
(Schleswig-Holsteinischer Fußballverband)“

Diesen Hinweis nahm ich mehr als ernst und verteilte nicht nur Zeitstrafen, sondern verwies Zuschauer des Sportgeländes. Endlich konnte ich als krimineller Jungschiedsrichter Erwachsene und andere, die deutlich älter waren als ich, ja sogar ehemalige Weltkriegsteilnehmer in ihre Schranken weisen.
      Das Ausfüllen des Spielbogens fand ich ziemlich interessant. Bloß wenn ich einem dicken Schädel vom Vortag hatte, nervte es, den Spielbericht ordnungsgemäß zu beschriften und zu prüfen. Wenn ich negative Vorfälle notierte, steigerte ich mich manchmal in die Beschreibung hinein, sodass die auszufüllenden Textfelder nicht ausreichten. Da musste ich mich bremsen. Ein weiteres Problem war, dass ich bei vielen Toren mit meinem Trinkergedächtnis diese falsch zählte. Es kam mehrmals vor beim Abgrüßen, dass ich das Endergebnis falsch wiedergab.
      „Das Spiel endete mit 6:2 für Suchsdorf. Wir beenden das Spiel mit einem dreifachen Hip Hip Hurra, Hip Hip Hurra, Hip Hip Hurra.“
      „Moment, das Spiel endete aber 7:3.“
      „Ok, alles klar, es endete 7:3. Entschuldigung, kann mal passieren.“
Der Schiri-Obmann unseres Vereins hieß Willy W. Er dürfte gut ein paar Jahre vom dritten Reich bewusst mitbekommen haben, vielleicht sogar mit Waffe und Uniform? Die Schiedsrichtertätigkeit wurde den Jungschiris nicht zuletzt deshalb schmackhaft gemacht, dass wir mit unserem Schiedsrichterausweis gratis ins Holstein-Stadion durften. Weil ich mit den anderen Skins permanent Stress bei den Ordnern am Stadioneingang hatte, ließen sie uns neuerdings nicht mehr gratis durch die Kontrollen, wenn wir Druck ausübten. Ich hatte bisher meinen Schiri Ausweis nicht für Stadionbesuche genutzt, drängelte mich zuvor mehrmals trotz des Ausweises illegal ins Stadion zusammen mit den Konz-Brüdern, Gonnrad und anderen. Doch ich wollte United mit den Skins ins Stadion eindringen. Jetzt, wo das nicht mehr möglich war, zeigte ich endlich meinen Ausweis vor. Und beim Wandern im Stadion traf ich den ein oder anderen aus dem Skinhead-Mob wieder. Ich zeigte einmal den Schiri-Ausweis beim gleichen Ordner vor, an den ich mich monatelang mit den Skins vorbeischummelte. Als er mich jetzt erneut in Bomberjacke, kirschroten 14-Loch-Docs mit Stahlkappe, Hosenträgern und Domestos-Hose sah, jedoch plötzlich mit dem Schiri-Ausweis in der Hand, wirkte er sehr skeptisch und misstrauisch, ließ mich aber nach anfänglichem Zögern doch gratis ins Stadion, wünschte sogar
      „Viel Spaß!“
Ich ging sofort einmal ums halbe Stadion bis zum Bierstand nahe dem Chinesen und begrüßte alle, die ich kannte.
      Den größten Stress als Schiri hatte ich in Altenholz und in Eidertal. Altenholz war klar, denn da hatte ich ja am zurückliegenden Silvester dem Rocker die Rumflasche über den Kopf gezogen. Aber weshalb Eidertal? Hing das mit f*cking Nazi-Gerd zusammen, der im benachbarten Molfsee wohnte? Sowohl in Altenholz als auch in Eidertal war es kurz vor Handgreiflichkeiten der Zuschauer gegen den Schiri, da ich mehr als energisch gegen undiszipliniertes Verhalten vorging. Dazu kam natürlich mein Restalkohol aus der Nacht zuvor. Es gab Wut-ka.
Ich griff sehr hart durch, vielleicht sogar härter als das Schiedsrichteridol Walter von der Eschweiler, bloß auf Kreisklassenniveau. Bei einem Herren-Spiel wurde ich sogar als Linienrichter eingesetzt. Die gelbe Fahne wurde mir nach Spielende sofort wieder weggenommen.
Der Fair-Play Gedanke war für mich zweitrangig. Als Gymnasiast ging es mir vielmehr darum, größtmögliche Autorität auf dem Platz herzustellen. Spieler und Zuschauer mussten kapieren, wer der Herr auf dem Platz war. So interpretierte ich meine Aufgabe als Schiedsrichter. Es wirkte, als würde ich das Spiel absichtlich zerpfeifen. Doch es ging um Autorität.
      Eine meiner größten Macken als Schiri war, dass ich mir im Sportheim Getränke einschenken ließ, und behauptete, das würde die Heimmannschaft bezahlen, ohne dass das so abgesprochen war. Das machte ich mehrmals, und es war mehr als asozial von mir, das muss ich offen eingestehen. Ich vermute fast, dass das auch in Altenholz und in Eidertal geschah. In Eidertal konnte ich sogar nach dem Spiel trampen und das Geld für ein Ticket der Autokraft sparen, dass ich mir trotzdem später beim Schiri-Obmann als Fahrkosten ersetzen ließ.
      Eine weitere Macke war, dass ich mehrmals als Schiri die Spielbälle und anderes Equipment klaute. Das geschah auch bei Eintracht Kiel auf dem Sportplatz am Tonberg. Der Fußball Obmann von Eintracht händigte mir vor dem Spiel den Spielball und sogar zwei Ersatzbälle aus, da sich der Platz oben an einem Abhang befand, und der Ball oft verloren ging. Doch als ich kurz vor Spielbeginn die Umkleide verließ, um Stollen zu kontrollieren, den Schiedsrichtergruß durchzuführen und das Spiel anzupfeifen, hatte ich die Bälle in der Umkleide vergessen. Stattdessen nahm ich die Trainingsbälle der Heimmannschaft, die nahe der Mittelfahne lagen. Das bemerkte sogleich ein Funktionär, doch ich behaupte schroff, ich hätte keine anderen Bälle erhalten. Das lag daran, dass ich noch hardcore-besoffen vom Vortag war und eine matschige Birne hatte. Ich hatte einfach vergessen, dass mir der Spielball und die zwei Ersatzbälle bereits ausgehändigt wurden. Weiteres Rumgemoser verbot ich mir und zeigte radikal die Schweigegeste mit dem ausgestreckten Zeigefinger vor den Lippen.
Erst als ich in der Halbzeitpause die Kabine betrat, sah ich dort die anscheinend nagelneuen Spielbälle. Wie konnte ich die vergessen? Es war mir dermaßen peinlich, dass ich, Schiri und Skinhead, die Bälle in meine große Sporttasche steckte und nach dem Spiel mit nach Hause nahm. Es war mir ehrlich gesagt auch ein bisschen peinlich, und ich hätte ungerne die ungenutzten Spielbälle dem Platzwart zurückgegeben. Dieses Verhalten wurde später zur Leidenschaft. Ich war mehrmals so strunzig auf dem Platz vom Saufen in der Nacht zuvor, dass ich einen richtigen Schädel hatte. Deshalb nahm ich mir in Momenten der Reue vor, sollte ich jemals zu Geld kommen, würde ich dem geschädigten Kieler Fußballverein die Bälle ersetzen. Allerdings existiert der Verein heutzutage nicht mehr, da er Pleite ging.
      Auch die Kneipenliga, speziell die Exit-Mannschaft, forderte bald meine Dienste als Schiedsrichter an. Mit meiner Skinheadfrisur hätte ich beim Spiel des Exit gegen die Bhagwan Disco gut einen Bhagwani-Mönch abgeben können, bloß in Schwarz statt in Orange. Mein Einsatz als Schiri fürs Exit in der Kneipenliga war der einzige, bei dem ich als Jugendlicher hauptverantwortlich ein Spiel von Erwachsenen pfiff.
      Ich kannte die Regeln, kannte auch die wichtigsten Schiedsrichtergesten, das mit den flachen Händen geformte T für eine Spielunterbrechung, den steil nach oben gehobenen Arm für den indirekten Freistoß, den angedeuteten Einwurf mit beiden Händen als Zeichen, dass der Ball aus war, das Zeigen auf den Elfmeterpunkt mit ausgestrecktem Arm und Zeigefinger als Elfmeterentscheidung, das Zeichnen einer horizontalen Linie in die Luft mit einem oder beiden Zeigefingern als Zeichen für Abseits, das Tippen auf die Uhr bei Zeitspiel. Hoch problematisch waren die knappen Abseitsentscheidungen, wenn keine Linienrichter vorhanden und der Platz auch nicht gekreidet war. Wenn ich da nicht einigermaßen auf gleicher Höhe war, gab es bei abgepfiffenen oder weitergelaufenen Chancen immer Ärger mit den Zuschaueren, mal mit der einen, mal mit der anderen Seite. Das genoss ich richtig.
Trotz meiner versierten Schiri-Kenntnisse, sollte Bülli später das Spiel unserer Skinhead-Mannschaft gegen die Mad Boys pfeifen. Mein Team brauchte mich als Fußballer. Als Schiri hätte ich in dem Spiel womöglich größeren Schaden anrichten können. Doch das übernahm jetzt Bülli, der Mod-Skin, wenn es sowas gibt.
      Zu jedem Spiel, dass ich pfeifen sollte, schickte mir der Schiri-Obmann DIN-A6-große Einladungskärtchen mit den Daten der zu pfeifenden Partie. Diese Postkarten segelten mit Briefmarke versehen in den Hausflur. Doch auch die Leitung der Schiedsrichter-Abteilung schien ein großes Alkoholproblem zu haben. Ich kann mich daran erinnern, dass die Leute alle schon ergraut waren jedoch hatten die grauen Haare einen fettigen Gelbstich. Das hatten viele zu der Zeit. Und das fand ich ekelhaft. Einige fragten sich, ob das mit dem Nikotin und Zigarettenrauch in der Geschäftsstelle des Vereinsheims zu tun hatte.
Eines Tages erhielt ich ein Einladungskärtchen zu einem Spiel, dessen Mannschaften gar nicht existierten. Ich fuhr zu der Partie nach Kronsburg, doch traf ich dort nur den Platzwart an. Der versicherte, dass eine der Mannschaften bereits nach Saisonbeginn zurückgezogen wurde. Die Heimmannschaft hingegen war die zweite Schülermannschaft und nicht die dritte, wie irrtümlich auf der Karte angegeben. Ich war sehr wütend, war wieder kurz vorm Randalieren und wollte das Fahrgeld und die Spesen adhoc ersetzt bekommen. Das wurde mir verwehrt. Auch unser Schiri-Obmann ersetzte mir das Geld nicht, gestand aber, dass es sein Fehler war, das Kärtchen in dieser Form verschickt zu haben, zumal auch seine großkotzige Unterschrift darauf stand.
Vermutlich war ich dem Schiedsrichterobmann inzwischen mehr als suspekt. Trotzdem lag der Fehler eindeutig bei ihm, und ich wollte deshalb endlich mein Geld haben. Wahrscheinlich trug dieser Vorgang später dazu bei, dass es zu weiterem vereinsschädigendem Verhalten in Verbindung mit Alkoholika kam. Als der Fehler ein paar Wochen später erneut passierte, erklärte ich meinen Abschied als Jungschiedsrichter. Zwar versuchte mehrere Trainer mich umzustimmen, doch der Entschluss stand unverrückbar fest.
     In der Fußballabteilung liefen ohnehin ungeheuerliche Dinge. Als einer der Vorkriegsfußballer des Vereins, Rudi S., verstarb, wurden Jugendfussballer gesucht, die während der Beerdigung am Grab Spalier stehen sollten. Kann sein, dass auch Fackeln getragen werden sollten. Ich hatte den Namen das erste Mal gehört, als er bereits tot war. Er musste zu dem Klüngel an Funktionären gehört haben, der zumeist gut gekleidet bei den Ligaspielen im Hintergrund stand, von denen außerdem jedes Mal in der Vereinszeitung über Gebühr Fotos abgelichtet waren — beim Grünkohlessen, zu vereinsinternen Ehrungen und Jubiläen. Wir wussten nicht, was wir von diesen Leuten halten sollten, denn im Verein wurde eine familiäre Atmosphäre zu den ehemaligen Kriegsteilnehmer konstruiert, die so nicht existierte und nicht überall auf Gegenliebe stieß. In diesen gealterten Jahrgängen war sonst deutlicher Frauenüberschuss, bloß auf den Zuschauerrängen und im Vereinsheim war dieses Verhältnis umgekehrt. Nichtsdestotrotz lebten wir in einer peacigen Zeit, und nur das zählte.
Frisch in der B-Jugend hatte ich einen der begehrten Puma-Trainingsanzüge erhalten. Jetzt stand ich auf der Kandidatenliste fürs Spalierstehen bei der Beerdigung. Deshalb rief ein anderer Vorkriegsfußballer, Bubi, bei meiner Mutter an. Bubi, dem der rechte Arm fehlte, wollte, dass auch ich mit dem Puma-Trainingsanzug Spalier stehe. Ich weigerte mich kategorisch.
      „Nix, läuft nicht!“
Erneut rief Bubi bei meiner Mutter an um sie zu überreden
      „Der Rudi S. war ein altgedientes Vereinsmitglied, der sich sehr um den Verein verdient gemacht hat. Da wäre es doch schön, wenn ein paar Jugend- und Jungmannspieler für den alten Fußballkameraden Spalier stehen und Rudi begleiten würden. Die sollen auch vorher den Sarg tragen."
      „Nein, mein Sohn will das nicht.“
Ich weiß nicht, ob sich auch nur einer der Jugendfußballer bereit erklärte teilzunehmen. Das wirkte alles wie ein Relikt des NS-Kults in den höheren Jahrgängen. Jedenfalls wurde später der Rudi-S.-Gedächtnispokal gestiftet und jährlich bei einem Jugendturnier ausgespielt. Obwohl doch nur die Weltkriegsrentner diesen Rudi kannten. Bubi hingegen entschied noch viele Jahre darüber, in welcher Herrenmannschaft jeder einzelne Jugendspieler später zu spielen habe. Diese Entscheidungsgewalt fanden wir Jugendlichen sehr krass. Einige lachten, andere schüttelten mit dem Kopf.
Ich will da jetzt keine Zusammenhänge mit dem Rudi-S.-Gedächtnispokal konstruieren. Ich will auch nicht wissen, was Sportfreund Rudi während des Kriegs getrieben hat. Jedenfalls bekam ich für diese Weigerung keine Disziplinarmaßnahme oder Strafmaßnahme.
      Gegen Ende meiner kurzen Schiedsrichterkarriere sollte ich ein C-Jugendturnier in der Wik pfeifen, an dem auch je eine Mannschaft von St. Pauli und Holstein Kiel teilnahm. Das Spiel St. Pauli gegen Holstein Kiel durfte ich pfeifen. Das gelang mir weitesgehend ganz gut, wenn es da nicht diesen Zwischenfall gegeben hätte. Der Trainer der C-Jugenmannschaft von Holstein war zu der Zeit der Vater von Töle und Malzi. Ich kann mich daran erinnern das bei St-Pauli zwei kräftige türkische Brüder mit kurzen Haaren spielten. Die spielten dermaßen stark, dass St. Pauli Holstein Kiel deutlich überlegen war. Die zwei jungen Türken erwiesen sich als körperlich schon so ausgereift wie Herren-Spieler, obwohl sie nicht älter als 15 sein konnten. Während dieses Turnierspiels, das 15 Minuten dauerte, kam es zu einem Pressschlag zwischen zwei Spielern von Holstein und St. Pauli. Dabei hob der kräftige St. Pauli-Türke ein Stück ab und landete auf dem staubigen Sandplatz. Daraufhin entschied ich auf Foulspiel gegen Holstein. Da platzte dem Vater von meinem alten Punkfreund Töle und seinem auf Wave gestylten Bruder Malzi der Kragen. Der stämmige Trainer im dunkelblauen Holstein-Trainingsanzug bekam sich für den Rest des Spiels nicht mehr ein und kritisierte fortan jede meiner Entscheidungen mit abwertenden Gesten und verbalen Unmutsbekundungen.
      „So eine Pfeife!“
Ab dem Moment war meine Schiedsrichterkarriere ohnehin gegessen, denn so vernichtend war die Kritik. Es wirkte sehr desillusionierend. Der Holstein-Jugendtrainer hatte auf jeden Fall Recht, dass es falsch sei, einen Pressschlag abzupfeifen und als Foulspiel gegen eine der Mannschaften zu werten. Doch ich war der Meinung, weil einer der Spieler dabei das Gleichgewicht verlor und zu Boden stürzte, einen Freistoß geben zu müssen. Einen fußballerischen Kopf kleiner diskutierte ich in meinem späteren Leben noch mehrmals über diese Spielsituation und bin im Nachhinein der Überzeugung, dass ich das Spiel zwar hätte unterbrechen können, aber dass es mit einem Schiedsrichterball hätte weitergehen müssen und keineswegs mit einem Freistoß für eine der beiden Mannschaften, liebe Fußballfreunde und -freundinnen.
      Wenn ich später meinen Standpunkt zum Prellschlag darlegte und meine Erkenntnis, dass das Spiel nach einem Prellschlag weiterlaufen sollte, gab es zwar Zustimmung, jedoch wurde am Rande erwähnt, dass es nicht nur Prellschlag, sondern auch Pressschlag hieße, genauso, wie du zu Stoppfehler auch Stockfehler sagen könntest.
      Bei dem Vorfall in Altenholz ließ ich einen aufgebrachten Zuschauer entfernen. Er wurde vom Platzwart am Arm vom Gelände geführt. Währenddessen pöbelte er unentwegt weiter. Ich hatte durch das rüde Durchgreifen als Schiri Schuld auf mich geladen. Wenn ich das nächste Mal mit meinen Skin- und Punk-Kumpels soff, waren mir die Vorfälle beim Pfeifen keine Erwähnung wert, so nebensächlich fand ich das. Es war mir sogar peinlich.
Bei dem Spiel in Eidertal hingegen waren mehrere Zuschauer dermaßen erbost über meine Entscheidungen, dass sie mir nach Spielende Schläge androhten und fluchend hinterher liefen, sodass ich mich schon auf eine Schlägerei einstellte. Deshalb ging ich mit geballten Fäusten schnellen Schrittes in Richtung Umkleidekabine, und die schäumenden Zuschauer gingen mit geballten Fäusten hinter mir her. Ein Betreuer versuchte die Pöbelfritzen, teils Spielereltern und Großeltern, zurückzuhalten und empfahl mir, die Kabinentür hinter mir abzuschließen. Da war ich ein Weichei. Als richtiger Skinhead hätte ich mir das nicht bieten lassen dürfen, hätte  gnadenlos zuschlagen müssen. Also war ich doch nicht der harte Skinhead, wie einige hinter meinem Rücken behaupteten, sondern ein Pseudo.
Ich war ja viel gewohnt aus Friedrichsort. Doch das in Altenholz und Eidertal war das übelste Pack, dass ich je auf Sportplätzen erlebt habe, abgesehen von den Huffmännern, zwei Brüder, beide um die zwei Meter, im Holsteinstadion mit ihren „Deutschland-den-Deutschen-Aufnähern“ und dem mittleren der Braune-Brüder mit seinem latenten Antisemitismus im Holstein-Fan-Block, der alles vergiftete.






Die Mad Boys versuchen Koh die Schuhe wegzunehmen

Plagiat des Gedächtnis-Protokolls von New Waver Koh.

Der Waver Koh kam gerade mit dem letzten Bus der Linie 44 aus Schilksee und wollte Natalia in der Alsenstraße besuchen. Die Bushaltestelle, an der er ausstieg, befand sich diagonal gegenüber vom Plattenladen Tutti Frutti. Das musst so ’83 oder '84 gewesen sein. Es war sommerlich, so gegen 20 Uhr. Die Abendsonne stand tief. Der Waver Koh war noch in seiner Bäckerlehre und wohnte in Schilksee. Die Bäckerlehre schloss er 1985 ab.
Koh ging jetzt von der Haltestelle Waitztraße die rund 20 Meter zurück zur Kreuzung, ging die Waitstraße hoch und nahm ab Droysenstraße die Abkürzung über den Parkplatz, der die Häuserfront entlang bis hoch zum Knooperweg führte. Jeder Mensch nahm zu der Zeit diese Abkürzung, weil es sich einfach anbot und vielleicht eine knappe Minute Zeitersparnis brachte. Er hätte zwar von der Bushaltestelle weiter in Fahrtrichtung zur Schauenburger Straße gehen können, um die Schauenburger hoch zum Knooperweg zu gelangen, doch das bedeutete einen nicht unerheblichen Umweg zur Alsenstraße. Jeder normale Mensch würde den kürzesten Weg nehmen. Und das tat Koh auch. Allerdings war bekannt, dass die Region um den Ansgarspielplatz Gangland war.
Als er auf dem Weg die Waitzstraße hoch die Abkürzung über den Parkplatz zwischen Droysenstraße Knooper Weg nahm, konnte er nicht ahnen, dass hier das Unheil lauerte. Hier lungerten drei Mad Boys herum. Sie waren schlaggeil, was er ja nicht ahnen konnte.
Koh trug an diesem Abend schwarze Klamotten. Seine Haare waren in einem New Wave Schnitt. Die Halbschuhe waren nichts Besonderes und nicht besonders teuer gewesen. Er hatte sie secondhand gekauft, wahrscheinlich im Lädchen in der Legienstraße. Die schwarzen Schuhe waren nicht wirklich spitz, nur minimal, eher leicht abgerundet. Sie besaßen Schnürsenkel und keine Schnallen, wie viele richtige Waver sie damals trugen. Es war deshalb keine richtigen New Wave Schuhe, sondern nur leichter Style. Es waren jedenfalls nicht die Creepers, die er mir später für 10 Penunsen vertickte.
Der Straßenclub Mad Boys kontrollierte inzwischen weite Teile der Wik zwischen dem „Blü“ bis hin zur Waitzstraße. Jetzt lungerten drei von ihnen auf dem Parkplatz Waitzstraße Ecke Knooper Weg.
Waver Koh auf dem Weg zu seiner Natalie wurde plötzlich von drei Mad Boys gestoppt. Es sollte sich bald herausstellen, dass die drei scharf auf seine Schuhe waren. Die Mad Boys trugen schwarze Bomberjacken mit Oberarmpatch, kampfsporttaugliche Karotten-Jeans und Turnschuhen. Sie waren eher Proll-Style als Metal- oder Punk-Style. Vom Namen kannten sie Koh zwar nicht, sie erkannten ihn jedoch sofort als "New Wave Opfer“. Die drei Mad Boys schienen nüchtern zu sein, Koh jedenfalls war nüchtern.
Spontan und routiniert stellten sie sich Koh in den Weg. Der Waver verharrte kurz. Die drei traten ihm entgegen.
      „Stopp stehen bleiben, scheiß Waver. Schuhe her!"
      „Häh?“
      „Ey, stehenbleiben! Schuhe ausziehen!“
      „Was soll das?“
Plötzlich umzingelten die drei den armen Waver, packten ihn an, schubsten und traten zu. Jetzt standen sie in einem Halbkreis wie beim Kampfsporttraining um ihn herum. Es ging richtig herbe weiter.
      „Gib uns deine Schuhe! Das ist unser Revier!"
      „Hier darfst du nicht durchlaufen. Du musst Wegzoll zahlen!“
Uns sie schubsten ihn weiter hin und her.
      „Zieh mal schnell die Schuhe aus!“
      „Soll ich denn barfuß weiter gehen?“
winselte der Waver.
      „Du kriegst gleich eine Schelle!“
      „Ich muss mich aber beeilen.“
      „Das interessiert uns nicht. Zieh die Schuhe aus!“
      „Ich bin verabredet.“
Am Ende ließen die Mad Boys Gnade vor Recht erweisen. Koh durfte mit seinen Schuhen in Richtung Alsenstraße weitergehen. Als sie ihn schlussendlich passieren ließen, traten sie ihm zum Abschied in den Arsch.
Retrospektiv kamen die drei Mad Boys ihm vor wie die Dalton Brüder, einer war groß, eine war mittelgroß, einer war eher klein.
Jetzt durfte Koh endlich zu seiner Natalia weitergehen. Sie wohnte im gleichen Haus wie Brigitt, Natalia im dritten Stock, Brigitt im Parterre. Koh hatte mit Natalia bereits einmal Petting und wollte das an diesem Abend fortsetzen. Doch Koh war durch die Drohgebärden der Mad Boys traumatisiert. Der Waver behauptete später, bei Natalia an diesem Abend doch noch auf seine Kosten gekommen zu sein. Aber spurlos wird der Terror der Straße nicht an ihm vorbei gegangen sein.








Generation Bierautomat - Punks & Skins united forever !

In der ersten Hälfte der 80er boten sich uns ganz andere Freizeitmöglichkeiten. Die einen gingen ins Bodybuilding Center, einige zu Tangun oder Yawara. Wieder andere gingen zur Tanzschule Gemind. Wir gingen zum Bierautomaten und knallten uns einen. Hier war immer etwas los. Das teils gekühlte Bier vermittelte wahre Glücksgefühle. Die Generation Bierautomat hatte das Paradies entdeckt. Hier herrschte eine ganz andere Trinkkultur als in Kneipen. Es war ein soziologisches Kleinod.
      Jeder Bierautomat besaß einen integrierten Flaschenöffner, der so konzipiert war, dass der durch den Mechanismus abgerissene Kronenkorken automatisch nach innen in eine Auffangvorrichtung kullerte. Das verhinderte, das unnötiger Müll vor dem Bierautomaten herumlag. Denn hier lagen ohnehin schon unzählige Kippen. Einige Hartgesottene praktizierten jedoch einen Bruchtest mit den Flaschen am integrierten Flaschenöffner, indem sie die Flaschen überhart öffneten. Dabei konnte der Flaschenhals schon mal abbrechen. Das waren meistens Rocker, aber in jedem Fall Lederjackenträger. So konnten Wiker und Projensdorfer Rocker mit ihrer rabiaten Art sogar Punks anstecken. Skinheads hingegen gingen mit dem Bier behutsamer um. Es sei denn, dass beim gemeinsamen Anstoßen mit Bierflaschen der Flaschenboden von oben auf den Flaschenhals des Trinkpartners oder Trinkgegners gestoßen wurde, sodass das Bier überschäumte. Da musstest du schnell deinen Mund aufs Bier halten, oder anblasen, wie Heimerich zu sagen pflegte. Aber diese Spiele wurde in jeder saufenden Jugendbewegung zelebriert. Das konnte Aufreger erzeugen, konnte im Extremfall auch Scherben und Glassplitter erzeugen, was das Bier de facto ungenießbar machte, es sei denn, dass es von Spezialisten durchgekaut wurde.
Skinheads schnippten eher mit den Kronenkorken, was auch mal ins Auge gehen konnte. Deshalb öffneten Sie ihr Bier nicht am integrierten Flaschenöffner, sondern mit dem Feuerzeug oder mit einem Zweitbier. Wenn einer mit dem Schnippen anfing, zogen die anderen nach. Da konnte es schon mal Kronenkorken hageln, auch ins Auge oder auf die Schneidezähne.
      Drastischer wurde es spätestens, wenn die Münzen in einem bestückten Bierautomaten hängen blieben, so dass du mit dem eingeworfenen Geld kein Bier ziehen konntest. Das konnte zu einer Art Punker-Tollwut führen. Das triggerte den totalen Zerstörungswillen, der die ganze Nacht anhalten konnte und alles in Mitleidenschaft zog, was uns den Weg versperrte. Da waren Punks und Skins gleich. Wo sonst wurde bezahltes Bier nicht ausgehändigt? Das gab es nirgends, nur am Bierautomaten, wenn er defekt war. In vielen Fällen schafften wir es, die D-Mark-Münzen mit kraftvollen Schlägen wieder aus dem Automaten zu hämmern, notfalls mit umfunktioniertem Werkzeug oder Waffen. Doch es gab die Momente, in denen der Automat die eingeworfenen Münzen trotz härtester Maßnahmen und Mobilisierung aller erdenklichen Kräfte einbehielt. Auch damals war schon von Sprengung die Rede.
In diesen Nächten konnte alles passieren. Wir, das geschädigte Trinkerpack, wirkten wie Stiere oder Kampfhunde, die sich die Hörner und Lefzen am Getränkeautomaten abstießen. Wenn dazu ein Kasi-Recorder lief, waren wir in unserem Element. Das war der größte vorstellbare Punkrock: Randalieren mit derbster zeitgenössischer Punkmusik. Die Tritte gegen das Metallgehäuse befreiten. Denn randalieren durftest du sogar als Pazifist.
Jeder Punk und jeder Skin, je nachdem wer am Drücker war, hatte stets einen Trick oder Kick parat, um das Geld doch noch rauszuschlagen. Lagen Steine oder Baustellenteile in der Nähe, wurden diese gnadenlos zielführend eingesetzt. Häufig gab die geschädigte Trinkerszene erst Ruhe, wenn Passanten, Anwohner oder die f*cking Cops intervenierten, denn Hartnäckigkeit war Trumpf. So manch ein Automatentrinker zog sich Verletzungen zu. Schrammen von spitzen Metallteilen, Risswunden, Blutquesen oder umgeknickte Fingernägel waren nur die harmlosesten Verletzungen im Kampf um das Automatenbier. Dazu kraftaufreibende Faustschläge mit Selbstverletzungspotential.
      „Dieses Scheißding!"
      „Lass mich mal!"
      „Das kann doch wohl nicht wahr sein!"
Gehwegplatten, Gullideckel, Hydrantendeckel, alles was Gewicht hatte wurde aktiviert. United versuchten wir den letzten hängengebliebenen Groschen rauszukloppen. Da wir uns betrogen fühlten, wähnten wir uns im Recht und der Zweck heiligte die Mittel. So lange er klemmte, war der Automat der Feind. Der Automat bekam, was er verdiente. Wenn wir schon das Bier nicht bekamen, so konnten wir uns wenigstens für einen Moment abreagieren, was eine Genugtuung war und sogar richtig Spaß brachte. Das war der Spirit of the Eighties. Das war die Rache der Generation Bierautomat.
      Manchmal wurde auch während des Einwerfens der Münze gleichzeitig mit der Faust auf den Automaten geschlagen, um die Münze zu puschen. Viele schlugen auf die Fläche kurz unterhalb des Münzschlitzes, da es  logisch erschien. Manchmal klappte es, manchmal auch nicht. Wir ließen uns so einiges einfallen, um doch noch an das begehrte Bier heranzukommen.
Mir kann kein ehemaliger Bierautomatenkunde erzählen, dass er damals in den 80ern nie gegen den Automaten geschlagen oder getreten hat, wenn der Automat seinen Job nicht machte und kein Bier rausrückte.
Es gab weitere Momente, die uns auf die Palme brachten, so auch wenn wir kein passendes Kleingeld für den Automaten hatten oder wenn unsere Münzen einfach zum Ausgabeschlitz durchfielen und von dem Zählgerät nicht akzeptiert wurden. Da kamen unterschiedliche Tricks zur Anwendung, wie das Gerät die Münze doch registrieren würde. Die einen rieben die Münze an der Außenwand des Automaten, damit die Oberfläche etwas rauher wurde und vielleicht sogar Lackfarbe des Automaten aufnahm. Andere spuckten auf die Münze oder packten sie kurz ins Bier oder in andere Flüssigkeiten, damit der Coin etwas mehr Gewicht aufnahm oder die Oberfläche schmierig oder klebrig wurde. Wenn alles gut lief, wurde die Münze doch geschluckt und das Bier freigegen. Ansonsten schnackte das Pack nachts Passanten an, ob sie dir eine andere Münze geben oder Geld wechseln konnten.
      „Scheiße, das Geld fällt immer durch!“
     „Ey, sag mal, kannst du mir das Mark-Stück gegen eine andere Münze eintauschen? Der Automat akzeptiert die Münze nicht.“
       „Ja, warte mal.“
Das Problem war bekannt, denn die Nachtschwärmer, also Automatentrinker und Passant, konnten sich im Extremfall behaken und übelst beschimpfen. Deshalb wechselten viele aus Furcht vor der Bierautomatentrinkerszene die Straßenseite.
Schlimm war es auch, wenn Leute, die kein Geld hatten, dich zum nächsten Bierautomaten mitschnackten, wo Du erst mal zwei Bier ziehen solltest.







Quadrophenia im Regina

Wir deckten uns bei Sky mit unserem Trendgetränk Moscato ein, dazu tütenweise Bier und eine Flasche Wut-ka. Im Regina sollte um 17 und um 20 Uhr der Mod-Kultfilm Quadrophenia laufen. Wir wollten bereits in die 17 Uhr Vorstellung, da es unter der Woche war und wir uns zu der Uhrzeit mehr bekannte Gesichter im Kino erhofften. Wir hatten jedoch soviel Drinks dabei, dass es locker für beide Veranstaltungen gereicht hätte.
Als wir die Tickets bei der Punk-Frau an der Kasse lösten, störte sie sich nicht an den Tüten und Kartons voll alkoholischer Getränke. Ganz im Gegenteil, sie lächelte sogar einladend und mütterlich wie immer. An den ausgebeulten Einkaufstüten hätte jeder unschwer erkennen können, dass sich darin Halbe-Dosen befanden. Es waren die begehrten Holsten Pilsener oder Skinhead-Glück, wie jeder sagen durfte. Wir suchten uns top Plätze, saßen wieder ziemlich weit vorne in der vierten und fünften Reihe und machten es uns gemütlich. Hier saß ich bereits mit meinen Droog-Freunden Brandy, Feycer und Vielmann, als vor ein paar Wochen Clockwork Orange lief. Es kann gut sein, dass ich exakt auf dem gleichen Kino-Sitz saß, wie zuvor bei Clockwork Orange. Allright.
      Uns wurde schon viel von Quadrophenia erzählt, zumal die paar Mods, die sich mit uns auf dem Ansgar trafen, die uns bei dem Entscheidungsspiel gegen die Mad Boys unterstützt hatten, immer wieder Mundpropaganda für diesen Kult-Streifen betrieben. Es war bekannt, dass die Mod-Szene den Film Quadrophenia vergötterte. Das erfuhren wir immer wieder, wenn wir uns mit den Mods oder Scootergirls und Modettes, wie einige die Mod-Girls nannten, unterhielten.
     Auch die Filmmusik wurde uns gepriesen, und wir wussten, dass viele der Mods das Emblem der Band The Who auf ihren Mod-Parkas trugen, mal als Arm Patch, mal übergroß als Rückenpatch, mal in weißer Schrift aufgesprüht oder aufgemalt. Der Patch von The Who beinhaltete das runde Fliegerwappen der Royal Air Force, mit einem blauen Außenring, darin ein weißer Mittelring und in der Mitte ein roter Kreis. Von dem blauen äußeren Ring ging ein blauer Pfeil nach schräg rechts oben wie beim Marssymbol. Im Zentrum des Wappens stand bei einigen der Bandname The Who in schwarz. Auf dem Rücken der Mod-Parkas war häufig nur der Schriftzug The Who in weißer Schrift, gemalt oder gesprüht, umgeben vom weißen Marszeichen.
      Die Band The Who war mir deshalb bekannt, da sie im TV einen Live-Auftritt im Rockpalast hatten, der aus der Dortmunder Grugahalle im Dritten Fernsehprogramm übertragen wurde. Ich hörte mir die Rockpalast-Sendung an. Viele der Songs gefielen mir sogar, auch wenn sie nicht 100pro mein Ding waren. Denn ich stand halt mehr auf UK-Oi. Von The WHO mochte ich den Song Baba O’Riley. Die Musik in dem Film war für uns mal was anderes als 4Skins, Cockney Rejects, Sham 69, Angelic Upstarts oder The Last Resort.
      Der Filmtitel Quadrophenia ist eine Modifikation des Wortes Shizophrenia. Der Film ist von 1979 und handelt von der Englischen Mod-Szene, von Partys und bunten Pillen, sowie von Konflikten zwischen den Subkulturen Mods und Rocker. In dem Film gibt es eine Massenschlägerei, eine Sexszene in einem Hofdurchgang und es sind jede Menge gestylte Motorroller zu sehen.
      Jetzt machten wir uns im Regina-Kino breit. Es blieb nicht unbemerkt, dass nach unserem Erscheinen mehrere Kinogäste den vorderen Kino-Bereich verließen, in dem wir uns zu acht hinlümmelten. Andere, die nach uns kamen, gingen zunächst in den vorderen Bereich, drehten aber um, sobald sie uns erkannten.
Ich kann mich erinnern, dass es Streit mit der Sitzordnung gab, denn jeder wollte links und rechts je einen unbesetzten Kinoplatz neben sich als Pufferzone. Wir wollten außerdem nicht, dass jemand direkt vor uns saß, ob einer der Skinheads oder andere Besucher. Wir veranlassten, dass zwei oder drei fremde Kinobesucher sich umsetzten, sofern sie das nicht aus freien Stücken taten. So unverschämt waren wir nicht mal, als wir zum ersten Mal unseren Kultfilm Uhrwerk Orange im Reginakino sahen. Da verließen wir besoffen aber diszipliniert nach der ersten Vorführung das Programmkino.
      Geascht wurde anfangs ins Leergut. Später nicht mehr, da das Licht einfach zu sehr blendete. Speziell die Aufnahmen unter freiem Himmel wirkten gleißend hell, sodass sie in den Augen schmerzten.
Wir sahen jetzt den Film mit viel Respekt vor der Mod-Szene, auch wenn wir ein paar provokative Kommentare bei einigen Filmszenen nicht gänzlich unterdrücken konnten.
Wir verhielten uns schablonenhaft für eine abgenutzte Generation. Es waren immer wieder Bekundungen des Staunens zu vernehmen parallel zu den Höhepunkten
      „Voll geil!“
      „Abgefahren!“
Da wir hier im Nichtraucherbereich ohnehin rauchten, setzen sich mehrere Nichtraucher in einer Fluchtreaktion oben in den Raucherbereich, da die Luft dort deutlich besser war. Die schlechte Luftqualität ließ sich an den Rauchschwaden erkennen, die über uns aufstiegen. Als ich das erste Mal auf Toilette ging und ich das Kino aus anderer Perspektive überblicken konnte, wurde mir das ganze Ausmaß deutlich, wie das übermäßige Rauchen in Bildschirmnähe die astreine Übertragung der Filmaufnahmen vom Projektor auf die Leinwand stark beeinflusste. Zwar waren unsere Rauchschwaden nicht auf der Leinwand zu sehen, jedoch loderten der aufsteigende Qualm zwischen den vom Projektor übertragenen Lichtstrahlen über uns. Das verlieh dem Film eine besondere Note. Niemand traute sich uns rauszuwerfen.
      Anfangs saßen wir aufrecht und stabil auf unseren Kinositzen, lachten, kommentierten, rissen Dosen und Moscato-Flaschen auf. Zwischendurch wurde der Wut-ka gereicht. Wir saßen bissig wie proletarische Filmkritiker auf den roten Kino-Klappsesseln. Doch im Laufe des Films, der mit 114 Minuten doch recht lang war, sackten wir immer weiter in unsere Sitze und wurden langsam aber sicher mundtot. Nur bei den Gewalt-, Sex- und Prügelszenen reckten wir uns wieder auf.
      „Die scheiß Teds, ey!“
Während der Vorführung saß ich zunehmend steif wie ein Brett auf der vordersten Kante des Klappsitzes, sodass die Schulterblätter hinten auf der Kante der Rückenlehne auflagen. Die Beine waren gespreizt und die Docs auf den Hacken aufgesetzt. So gab es nur drei Berührungspunkte: an den Schulterblättern, am Sitzfleisch und an den Hacken der Boots. Einige hatten ihre Arme auf den Seitenlehnen aufgestützt, andere hielten ihren Halben, die Flasche Moscato oder den Wut-ka mit beiden Händen aufrecht auf dem Unterbauch.
      Als die ersten Dosen und Flaschen umkippen und der Kino-Boden langsam einsiffte, roch es hier im Programmkino nicht mehr frisch und einladend, sondern eher wie im Puff oder im Pornokino. Noch vor Ende des Films nickte der erste Skinhead ein. Der Boden klebte inzwischen fürchterlich, niemand beschwerte sich.
      Nach der letzten Einstellung des Films, die uns nachhaltig schockte, lief der Abspann parallel zu einem Song von The Who, bis sich schließlich der Vorhang automatisch schloss. Jetzt war Bingo.
      Als der Film schließlich zu Ende und der Vorhang komplett zugezogen war, sagte Stidi
      „Also ich bleibe drin.“
      „Ich schau ihn mir auch gleich noch einmal an!“
      „Wir haben noch genug zu saufen.“
Also blieben wir während der Pause im Kino und zahlten nicht erneut. Ergo verließ keiner von uns den Saal. Wir schnackten in der Pause und kamen allmählich wieder zu uns, bis schließlich der Vorhang erneut aufgezogen wurde und die Werbung begann.
      Plötzlich war Eispause angesagt. Die wurde zwar auf der Leinwand angekündigt. Doch der Eisverkäufer traute sich nicht ins Kino. Er blickte nur kurz in den Kinosaal und sah schon das Chaos in den vorderen Rängen. Da zog er es vor, heute auf den Eisverkauf zu verzichten. Einer von uns schrie
      „Ey, gib mal ein Eis.“
Wir lachten wie die Droogs. Doch der Verkäufer verdünnisierte sich schnellstmöglich.
      Als der Film von Neuem begann, waren wir deutlich angeschlagen und hatten nicht mehr die Energie, wie bei der ersten Vorstellung. Der Boden klebte bereits fürchterlich. Überall kullerten leere Flaschen und Dosen. Es gab auch Scherben.
      Jetzt beim zweiten Durchlauf des Films wurde deutlich weniger kommentiert. Wir rauchten weniger intensiv und hingen in den Kinosesseln wie nasse Säcke. Wir waren wie erschlagen, doch nach wie vor wie unter Strom.
Hin und wieder schrie jemand:
      „Gib mal ein Bier aus der Tüte.“
oder
      „Ist noch Moscato da?“
Der Wut-ka wurde ohnehin bereits während der 17-Uhr-Vorstellung unbemerkt von den Hardlinern geleert.
Im Verlauf dieser Abendvorstellung knackte fast jeder von uns mal ein. Einige legten ihren Kopf auf die Rückenlehne des vorderen Sitzes und dösten. Hin und wieder war sogar an Schnarchen zu vernehmen. Ich kann mich vage erinnern, dass ich die Schlussszene wie in Trance wahrnahm. In dieser Szene hält der Hauptdarsteller Jimmy, gespielt von Phil Daniels, mit dem geklauten Motorroller auf die Steilküste zu. Er hebt ab und das Zweirad segelt in Zeitlupe durch die Luft. Ich lag gerade wie ein Brett auf dem Kinosessel, mein Kopf war leicht nach hinten geneigt. Mit halboffenen Augen, fast blinzelnd und mich mit letzter Kraft wach haltend, nahm ich die Szene wahr, die ich drei Stunden zuvor betrunken aber wach‚ gesehen hatte.
      Als am Ende des Films der Vorhang erneut zugezogen wurde, erhoben wir uns langsam. Eine Person musste geweckt werden. Wir bahnten uns unseren Weg durch das klöternde Leergut und bewegten uns nahezu wortlos zum Ausgang. Oben vor den Treppenstufen des Regina Kinos sammelten wir uns. Einige streckten sich, einige gähnten, einige rieben sich die Klüsen. Der Alkohol war restlos aufgebraucht. Ein Skinhead fragte
      „Wo war der Typ denn in der Luft, als der Motorroller die Klippen runterfliegt?“
      „Der ist vorweg geflogen!“
Wir schleppten uns zur Tanke. Es lief nicht mehr viel. Der Saft war raus. Einige pennten im Minz auf den Barhockern und legten ihre Köpfe auf den Tresen oder die Abstellleisten an der Wand. Wir waren am Ende. Quadrophenia hatte uns ausgeknockt.







Nachts auf Tour in Friedrichsort

Das Folgende geschah vor Vielmanns Fascho-Phase, durch die er bei vielen Punks in Ungnade fiel. Vielmann hatte bereits seinen Ausbildungsplatz zum Elektriker geschmissen. Wenn er in seinem kleinen Dachzimmer Besuch bekam, spielte er regelmäßig brandaktuelle LPs vor, die er sich irgendwo geliehen oder gekauft hatte. Er hielt jedes Mal das LP-Cover hoch wie bei einer Auktion, um sie seinen Besuchern bei den kleinen Trink-Meetings zu präsentieren. Teils wirkte es wie bei einer Notenvergabe beim Eiskunstlauf in Lake Placid oder Innsbruck oder wie bei der Avon-Beraterin von nebenan oder bei einem Amway-Verkäufer. Mal wirkte er bei dieser Präsentation der neuen Platten wie ein Oberkellner in einem Nobelrestaurant, die dem Gast das Etikett der Weinflasche hin hielten, das nächste Mal wieder wie im Auktionshaus, wenn Antiquitäten gezeigt und versteigert wurden.
Er zeigte mir Cover von LPs wie “That's life“ von Sham 69, “Troops of Tomorrow“ von The Exploited, die A+P LP „A+P“, die Discharge LP “Hear Nothing See Nothing Say Nothing“ mit dem Kohlkopf, Auge, Ohr und Mund auf dem Cover. Auch die “State Violence, State Control“-Single hörte ich bei Vielmann zum ersten mal, und sie wanderte danach direkt in meinen Besitz. Wir handelten einen Deal aus, wahrscheinlich im Tausch gegen Büchsenbier. Er spielte auch die The Ejected LP, die Sisters of Mercy “First and Last and Always“ und viele weitere Platten unterschiedlicher Genres. Als er die zweite Sham 69 auflegte, sagte ich
      „Ey, geil, das ist ja wie ein Hörspiel!“
Vielmann zauberte eines Tages die erste Terveet Kädet LP hervor. Er hielt sie in gewohnter Weise hoch wie bei einer Versteigerung, bis ich gecheckt hatte, worum es sich handelt:
       „Ah, Tervet Kädet!  Die haben jetzt eine LP rausgebracht?"
Vielmann antwortete nicht, ging stattdessen zum Plattenspieler rechts neben der Tür und legte die LP auf. Die Finnen waren jetzt noch härter, als wir sie von den Propaganda-Samplern kannten.
      „Barne hat jetzt ja Terveet Kädet auf der Lederjacke!“
      „Der hat die LP garantiert auch schon.“
Wenn Vielmann Platten nicht verknusen konnte - oder aus purer Selbstlosigkeit - verschenkte er sie einfach weiter, ohne eine Gegenleistung zu verlangen, wo auch immer er die Platten her hatte.
Eines Tages schenkte er mir völlig unverholen die ersten drei The Sound-LPs. Er hatte für die Platten dieser New Wave-Band keine Verwendung. Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul. Es sollte bestimmt zwei Jahre dauern, bis ich die 3 LPs das erste Mal vollständig anhörte.
Wahrscheinlich kam er über krumme Dinge an die Platten ran. Er gehörte zu den Leuten, die sich über die Jahre nie eine umfangreiche Plattensammlung aufbauen konnten, da er die erworbenen LPs nach kurzer Zeit wieder verschenkte, an unzuverlässige Kumpels verlieh oder sie mit Verlustgeschäft gegen andere Platten oder Alkohol tauschte. Platten waren für viele ohnehin nur Allgemeingut, Tauschobjekte, Devisen, Bestechungsgeld und keineswegs, so wie es sein sollte, Erinnerungsstücke mit Sammlerwert.
      Ich weiß nicht mehr wie es zustande kam, jedenfalls befanden wir uns nachts ohne Plan auf dem Weg zum Schützenverein, mit dem unterschwelligen Bedürfnis immensen Schaden anzurichten. Wir betraten das Gelände vom Palisadenweg und gingen die Allee entlang, bis wir vor dem großen verlassenen Biergarten standen. Dort befanden sich überall fest verankerte Tische und Sitzbänke, und von der Decke baumelten mehrere große Holsten-Leuchtreklameschilder direkt über den Tischen. Wir kletterten auf einen der Tische über dem ein solches Schild verkabelt und an Ketten von der Decke baumelte.
Das bullige circa 1,50 Meter lange und 30 Zentimeter hohe Leuchtreklameschild trug den Holsten Export-Schriftzug und das Wappen mit dem Ritter auf dem Pferd.
Die Leuchtreklame hing an zwei dünnen Ketten von einem Deckenbalken, dazu hing ein Kabel von der Decke, das ins Reklameschild führte, um es mit Strom zu speisen. Wir brauchten also lediglich die zwei Ketten abzuhängen und das dicke, graue Stromkabel zu kappen.
Vielmann gab mir sogleich das Kommando, die Leuchtreklame etwas anzuheben, damit er sie kappen konnte. Also hob ich das Schild circa 20 Zentimeter hoch, so dass sich das Kabel nicht mehr spannte, und stand dort leicht breitbeinig wie ein Boxer. Vielmann hatte sich einen Stuhl organisiert, auf dem er jetzt angetrunken stand und das Gleichgewicht zu verlieren drohte. Die Ketten an denen die Leuchtreklame hing, konnte er einfach an einem Haken ablösen, zückte daraufhin ein Taschenmesser und versuchte die Kabel durchzuschneiden, bewegte das Messer dabei wie eine kleine Säge.
      „Pass bloß auf, dass du keinen gewischt bekommst.“
      „Der Strom ist hier sowieso überall abgeschaltet.“
Es waren ein dickes Kabel, und er hatte gar keine Angst, dass Strom auf der Leitung sein könnte. Rønner, ein Mannschaftskollege von mir, der ebenfalls eine Ausbildung zum Elektriker absolvierte, hatte in ähnlicher Situation auf einer Leiter stehend einen gewischt bekommen und war prompt von der Leiter gestürzt. Er hatte wie durch ein Wunder keinen Schaden genommen. Der Mann hatte einfach nur Glück gehabt.
      Bei Vielmann bestand jetzt das Problem, dass er ebenso wie ich sturzbetrunken war. Wir beide schwankten erheblich, was den nächtlichen Arbeitseinsatz erschwerte. Es war schon ein ziemlich labberiges Konstrukt mit der halb abgelösten Leuchtreklame.
     Uns zwei Jugendlichen war klar, dass wir der lokalen Schützengilde durch unsere nächtliche Aktion Schaden zufügen würden. Sogar der Aso-Rocker Ackel Dosse war in diesem Schützenverein und war damals einmal Schützenkönig.
Vielmann brauchte bereits ein paar Minuten. Plötzlich gab es einen letzten Ruck, und ich hielt die Leuchtreklame in beiden Armen. Wir lachten wie die Droogs bei Clockwork Orange nach einer Straftat und machten uns auf den Weg. Eine knappe halbe Stunde später trafen wir am Haus meiner Eltern ein. Vielmann schloss in meinem Zimmer die Leuchtreklame noch in der gleichen Nacht ans Stromnetz an. Ich hatte Unmengen an Bier aus Vaters Bierkeller geholt.
      Zunächst schnitten wir von einer alten Tischlampe das Kabel samt Stecker und Schalter ab. Vielmann schnitzte die Plastikenden der Kabel ab und splissten die Metalldrähte der zu verbindenden Kabel. Am Ende isolierte er die Übergänge mit Klebeband. Jetzt war die Leuchtreklame an das Lampenkabel angeschlossen. Ich drückte den Stecker in die Steckdose, und Azubi Vielmann betätigte den Schalter. Schon brannte die Leuchtreklame in der Ecke des Zimmers in einem gemütlich gedämpften Licht. Daraufhin holte ich weitere Flaschen Holsten Export aus dem Keller, damit wir den Coup gebührend feiern konnten. Im Hintergrund jetzt zur Nachtzeit lief härtester Punkrock, allerdings leise, um niemanden zu wecken.
      Jetzt, wo das Holsten-Reklameschild eingeschaltet war und angenehm leuchtete, knipsten wir das restliche Licht im Zimmer aus, und es brannte nur die schummrige Holsten-Reklame auf dem Teppich in der Ecke des Jugendzimmers. Das wirkte ein wenig wie zu Weihnachten, wenn die Beleuchtung am Weihnachtsbaum zum ersten Mal eingeschaltet wurde und das Deckenlicht abgedimmt war. Es war also ein richtig mystisches Erlebnis. Wir freuten uns wie die Berserker und prosteten uns mit dem Holsten-Export meines Vaters zu. Wir hörten dazu brandaktuelle Punkmusik, Adicts und so weiter bis tief in die Nacht. Diesen Coup wussten wir zu feiern. Als uns fast die Augen zufielen, machte Vielmann sich auf den rund 20-minütigen Fußweg nach Dorf Pries. Im taumelnden Zustand brauchte er vermutlich das Doppelte an Zeit.
     In Zukunft leuchtete die Holsten-Reklame jedes Mal, wenn bei mir Party war.
Das war natürlich nur ein Kavalliersdelikt, denn wir waren zwar voll im Augenblick der Tat, aber wir verhielten uns immer wie Kavalliere. Bei der Polizei existierte ohnehin das Polizeidogma, das geringfügige Delikte über Gebühr zu dramatisieren seien, um den jungen Punks langanhaltende Schuldgefühle zu impfen. Ich fühlte mich ohnehin von der Friedrichsorter Polizei längst so schlecht behandelt wie Barne von der Wiker Polizei.
Später war sogar davon die Rede, das gute Teil aus dem Schützenheim $abrina zu vererben, und es in den Übungsraum in Dänischenhagen zu stellen. Das plante ich ebenso mit dem originalverpackten Deckenventilator, den ich kurz nach der Anlieferung in der großen Spielhalle abgriff und nach Hause schaffte. Der hätte das Casablance Flair im Übungsraum perfektioniert. Doch dafür war die Decke im Übungsraum zu tief.
     Kurze Zeit nach dem Coup trennten sich Vielmanns Eltern. Seine Mutter kam daraufhin mit einem Harold, dem Schützenkönig des Friedrichsorter Schützenvereins zusammen, mit dem sie auch heute noch glücklich zusammen lebt, in einer 4-Zimmer Wohnung in Dorf Pries. Sie fröschelten mit weit über 50 regelmäßig miteinander. Vielmanns neuer Vater sagte zu mir
      „Der tote Hund ist im Staubsauger.“
Ich rätselte lange, was Harold damit meinte.
     Eines Tages, als ich Vielmann wieder in seinem Dachzimmer besuchte, hielt er die Skrewdriver-LP “Hail the New Dawn“ in seinen Händen und zeigte sie in gewohnter Weise.
Ich sagte
      „Jetzt haben die auch noch eine LP rausgebracht? Das sieht man doch gleich am Cover, dass die rechts sind."
Vielmann schaute aufs Cover. Darauf war ein Wikinger mit einem Schwert in der rechten Hand zu sehen. Dieser Krieger hatte gerade das vollbemannte Wikingerschiff links im Hintergrund verlassen und hielt eine Fascho-Fahne in der anderen Hand. Die LP war auf dem Plattenlabel Rock-o-Rama erschienen. Was für eine Schande.
      „Die legst du nicht auf!“
Vielmann überlegte kurz und stellte die LP wieder beiseite. Stattdessen legte er eine Punk-LP auf. Damit war die Sache für mich erledigt.
      Trotzdem war dieser Moment ein Wendepunkt. Ab jetzt entwickelte Vielmann ein Faible für die rechte Szene, nicht für Skinheads an sich oder besoffene Maulhelden, sondern für Leute mit unumstößlich rechtem Gedankengut. Das war 1984, das Orwell-Jahr, auf das wir so lange hingefiebert hatten.
      Außerdem sammelte er in einer kleinen Schublade eines Ikea-Elements einen Stapel mit Flyern. Eines Samstagnachmittags wollte er mir die Flyer unangekündigt zeigen. Als er das Material in meine Richtung hielt, sah ich darauf schon Propaganda wie „Freiheit für Rudolf Hess" und anderen Schwachsinn.
Ich sagte gleich
      „Hör auf mit deinem Propagandamaterial.“
Da schaute er mich verdutzt an.
      „Schmeiß den Dreck weg! Das interessiert doch niemanden. Woher hast du den Scheiß überhaupt?“
Vielmann antwortete nicht. Der Teenager wirkte irgendwie verunsichert. Ich fühlte mich wie ein Pädagoge oder Erziehungsberechtigter. Vielmann wirkte wie ein kleiner Junge, dem etwas untersagt wurde, der aber trotzdem nicht von seinem Tick lassen konnte. Danach war Bingo mit Vielmann.







Bomberjacke - Nein Danke ?

(Pro und Kontra Bomberjacke)

Selten wurde ein Kleidungsstück der 80er so kontrovers diskutiert wie die Bomberjacke. Es gab dabei diametral entgegengesetzte Meinungen. So mancher Punk zerbrach sich den Kopf, ob Bomberjacken politisch korrekt seien, oder ob dadurch sogar den Faschos Vorschub geleistet würde. Für einige wurde diese Frage zum Gewissenskonflikt, ja sogar zum Dogma. Und es gab reichlich auf die Fresse wegen Bomberjacken. Die allerallermeisten Punks besaßen nie eine Bomberjacke. Das war auch gut so, denn diese kurzen Jacken wirkten zu uniformiert. Wo wären wir denn hingekommen, wenn auch dieser letzte Rest Bomberjacken getragen hätte?
      Punks wie Kammkatz, Rochen, Maxi, Tautz, Ranke, Rotzig, Hecker, Töle und Miele sah ich die ganzen 80er Jahre über nie mit Bomberjacken. Diese Punks hätten niemals eine Bomberjacke angezogen, weder eine schwarze, eine olivgrüne oder in sonst irgendeiner Farbe. Sie wären lieber erfroren, als eine solche kragenlose Fliegerjacke zu tragen. Und es gibt sicher hartgesottene Punks, die bis auf den heutigen Tag nie eine Bomberjacke trugen und sich eher einen Finger abhacken würden.
      Ähnliches galt für Punk-Girls wie Kammkatz Alte, $abrina, Manja, Gerti, Zilvana, Franka, die Bierfrau, Swantje, Sanja, Dodo und viele viele andere. Die Punk-Girls waren da sogar noch konsequenter als die männlichen Punks. Nicht mal in den verruchten 90ern hätten diese Punk-Girls eine Bomberjacke übergezogen, ob olivgrün, ob schwarz, ob burgundrot oder metallicblau. Diese Nylonblousons waren für sie der Inbegriff des Bösen, der Dresscode der Schläger und der rechten Szene. Wer diese kurze Nylonjacken trug war für sie Abschaum. Daran konnte auch nicht ändern, dass Punks wie Troy oder Barne oder Ex-Punks wie Gonnrad während ihrer Straßenclubzeit schwarze Bomberjacken trugen.
      Doch es gab die Punks, die auch ohne bei Straßenclubs aktiv gewesen zu sein Bomberjacken trugen. Dazu gehörten Leute wir Ralle. Lasse hatte sogar mal eine Stoff-Tarnbomberjacke und dazu eine Tarnhose und Boots. Er war alles andere als ein Nazi. Er sah schlimm aus. Es wirkte, als käme er gerade aus dem Krieg.
      Nicht nur in Kiel waren Bomberjacken das Statussymbol der Skinheads und deren Sympathisanten. Überall. Bis sich die ersten Straßenclubs bildeten, die fast ausschließlich schwarze Bomberjacken truben. Einige Hartgesottene, besonders bei den Living Deads, trennten sogar die Ärmel der Bomberjacken ab, um sie als Weste zu verwenden.
      Mir ist nur ein Kieler Straßenclub bekannt, der durchweg olivgrüne Bomberjacken trug. Das waren die Bombers aus Mettenhof.
      Seit Mitte der 80er hatte die Bomberjacke in Kiel als Statussymbol der Jugendkulturen der Lederjacke den Rang abgelaufen. Frauen hingegen sahst du nicht in Bomberjacken. Ich kenne auch keine Kielerin, die zu der Zeit eine Bomberjacke besessen hat.
      Als „Beschreibungsgröße“ war immer wieder von Bomberjackenträgern die Rede, wenn Personengruppen beschrieben wurden. Das ist ein abwertender Begriff, den speziell Hecker als Bomberjackenhasser prägte. Sie wurden szeneübergreifend getragen, bei Skins, bei Straßenclubs, von Faschos, von Hooligans, von Psychobillys. So trug die Psychobilly-Band Guana Batz teils olivgrüne Bomberjacken zu ihren Flatops und Creepers, was das Cover der LP „Held down .... at last!“ belegt.
Über die Jahre setzte sich mit der Bomberjacke eine neue Moderichtung durch. Und es war egal, ob die Bomberjacke bei C&A, im Militäria-Shop oder über einen Katalog bestellt wurde. Dabei waren die Kataloge von Blue Moon und Schamös eher etwas für Insider aus der Skinhead-, Ska- und Mod-Szene, aber keineswegs für Acer und andere Bomberjackenfreunde.
Eine ähnliche Karriere wie die Bomberjacke absolvierte übrigens die Harrington-Jacke, auch wenn diese nie zum Statussymbol der Straßenclubs avancierte, da sie einfach zu schnell zerriss. Das wusste jeder Skinhead, der mal in Harrington gerangelt hatte.
      Sogar Nazi-Gruppierungen wie die FAP trugen schwarze Bomberjacken und brachten dieses Kleidungsstück umso mehr in Verruf.
      Die Verwendung von Aufnähern hatte sich schon in den 70ern bei Kuttenträgern etabliert, besonders auf Jeansjacken bei Fußballfans und in der Hard Rock-Szene. Es waren auch die Parka von Mods und die Bomberjacken von Skinheads zu Präsentationsflächen für Aufnäher avanciert, und neuerdings auch die Bomberjacken der Straßenclubs, die die Patches und Embleme der Clubs trugen mit dem Club-Logo, dem Namen des Clubs und manchmal auch mit Gründungsjahr oder Stadtteil.
Es bestand zwar die Möglichkeit, Bomberjacken umzudrehen, sodass die orangene Seite hervorgekehrt wurde. Doch das gab manchmal Probleme mit den Taschen, besonders mit der Oberarmtasche, aber auch mit den Innentaschen. Ich sah nie eine umgedrehte Bomberjacke mit einem Aufnäher auf der orangenen Oberfläche. Aber wir wissen nicht, was es in Zukunft an neuen Entwicklungen geben wird.
      Auch ich sagte mir damals nach meiner Skinhead-Experience, ich werde nie wieder eine Bomberjacke anziehen und mir nie wieder den Schädel kurz rasieren. Doch als später der alte Schlagzeuger unsere Schulband mich in Berlin besuchte, ließ er mir seine alte schwarze Bomberjacke da, die er sich in Frankreich gekauft hatte. Er wusste, dass ich Schwierigkeiten mit dem Kohleofen hatte und von der Wohnungsbaugesellschaft in der Hausbesetzerdatei geführt wurde. Er hatte damals sein Schlagzeug mit in Frankreich, das sie ihm samt Plattensammlung bei einem Einbruch raubten. Die Bomberjacke sollte ihn nicht weiter an diese miese Zeit erinnern. Ich trug sie ohnehin nur in der Wohnung, wenn es Probleme mit dem Ofen gab.
      Sind Bomberjackenträger klar im Vorteil? Einige behaupten, dass du dich mit Bomberjacke besser schlagen kannst als mit Lederjacke. Denn Lederjacken wirken beengend und verkleinerten den Bewegungsspielraum.
      Viele behaupteten, dass sie einfach wendiger und beweglicher seien, wenn Sie mit einer Bomberjacke bekleidet waren, beweglich und unabhängig wie eine Spinne. Das galt besonders für die Kampfsportszene, die meistens Turnschuhe zur Bomberjacke trugen. Andere argumentierten, Lederjacken schützen besser vor Stichverletzungen. Ebenso seien das Laufen und Sprinten mit Bomberjacken einfacher, besonders zum Bus, während die Lederjacke bei Stürzen besser vor Schürfwunden und Prellungen schütze. Deshalb sagten einige auch Motorradjacke zur Lederjacke, besonders wenn sich auf den Ärmeln Sportstreifen befanden. Einige nannte protzige Lederjacken Acerjacken. Dabei trugen viele Acer auch Acer-Frisuren wie Vokuhila und dazu Bomberjacken, besonders nach der Maueröffnung. Wir sahen auch Acer mit Pferdeschwänzen, die bis über die Bomberjacke reichten.



















III. Post-Skinhead Phase





Die Schulfreizeit an der Gesamtschule

An der Gesamtschule gab es eine Mittagsfreizeit um circa 12 Uhr bis 13 Uhr, die den Schülern zur freien Gestaltung zur Verfügung stand bis sie am Nachmittag die letzten zwei Schulstunden des Nachmittags zu absolvieren hatten. Diese Schulfreizeit konnte unter anderem für einen Mensa-Besuch genutzt werden. Einige machten auch ihre Hausaufgaben an einem der zur Verfügung stehenden freien Tische oder je nach Jahreszeit draußen auf dem Außengelände der Schule auf einer Sitzbank. Doch einige nutzten diese Schulfreizeit um Alkohol zu trinken oder Drogen zu nehmen oder sonst wie Schabernack zu veranstalten. Im Extremfall wurden Liebespärchen auf der Toilette aktiv. Wieder andere setzten sich in die Schulbibliothek im Zentrum der Schule und lasen etwas, Bücher oder Comics, spielten Brettspiele oder stöberten in den Bücherregalen. Für viele Problemkinder war die „Freizeit“ natürlich ein willkommenes Fressen, ihren Ruf als Trinker oder Kiffer zu bestätigen, denn in den Nachmittagsstunden konnte sich ohnehin niemand so richtig konzentrieren. Also gingen die Problemkinder zum Supermarkt, um sich eine Flasche Wein oder ein paar Biere zu gönnen. Im Extremfall gab es sogar harten Schnaps. Wieder andere setzten sich in den Schulpark, um einen Joint durchzuziehen. Einer der Punks an der Schule hatte zu der Zeit stets eine große Wasserpfeife in seiner Schultasche. Diese wurde schließlich in der Freizeit mit Wasser gefüllt und eine Hasch-Mischung wurde gefertigt. So schossen sich einige Schüler während der Freizeit regelrecht ab, sodass sie es nicht mal mehr zu den Nachmittagsstunden schafften. Einige dösten benommen im Schulpark hinten auf der Wiese.
Die Anzahl der Schüler, die die Schulfreizeit missbrauchten, um sich breit zu machen, war nicht unerheblich und war im öffentlichen Interesse. Gegen dies Verhalten war kein Kraut gewachsen. Das war ein wirkliches Problem und in dem Arbeitermilieu in Friedrichsort nicht zu unterbinden. Einige Schüler waren wirklich haltlos, besonders Gildo arbeitete intensiv daran, der erste Drogentote an der Gesamtschule zu werden. Problematisch war besonders die Alkoholabteilung der Aral-Tankstelle gegenüber der katholischen Kirche an der Eiche. Es wurde zwar diskutiert, der Tankstelle den Alkoholverkauf zu verbieten, doch das Geschäftsinteresse des Tankstellenpächters kam vor dem Wohl der Schüler. Doch wir Schüler klauten wie die Raben. Manchmal standen sieben oder acht Schüler gleichzeitig vor der großen Regalwand, die so wirkte wie die Losbude auf dem Jahrmarkt, an der du freie Auswahl hattest. Während meiner Zeit auf der Gesamtschule habe ich sogar eine Leidenschaft für Ladendiebstahl entwickelt. Damit meine ich nicht nur die eigenen Aktivitäten, sondern vor allem auch die Delikte meines Umfelds. Es war für einige Sport, bei dem wir uns beweisen konnten. Die Beute wurde gefeiert wie bei einem Kreuzzug. Diebesgut wurde verglichen, getauscht, konsumiert und vertickt. Wir tankten an der Araltanke Alkohol. Wir empfanden beim gemeinsamen Diebstahl mehr Freude als beim Aufsagen eines Gedichts in der Schule.
      Ich kann mich an Nachmittagssportstunden erinnern, bei denen ich regelrechte Gleichgewichtsprobleme bekam, taumelte und mir die Puste fehlte, weil die schulfreie Zeit gegen Mittag aus dem Ruder gelaufen war. Zu der Zeit war das Thema Schulband noch aktuell. Da unser Drummer ein eigenes Auto besaß, fuhren wir manchmal mit dem Auto in den Ort, um uns bei Minimal die ein oder andere Flasche Maitre Simon Rotwein zu kaufen oder anderes Gesöff und diese entweder direkt auf dem Kundenparkplatz oder unten am Falckensteiner Strand zu verköstigen. Das konnte nicht auf Dauer gut gehen. Die schulische Leistung lüttin Norm meine Fehlstunden wurden exorbitant hoch, so dass ich vom Oberstufenleiter einen Rüffel erhielt mit der Drohung, dass ich die Schule zu verlassen habe, wenn ich trotz der Atteste die mir meine Ärztin ausstellte, nicht auf eine Mindeststundenzahl käme. Und auch unsere Band schaufelte sich das eigene Grab. So war das Scheitern einfach nur vorprogrammiert.








Der stärkste Kaffee aller Zeiten?

(Der Minusmann 2)

Maurice wohnte mittlerweile im Garanta-Haus über dem Köm Deel. Es gab eine Gemeinschaftstoilette und Dusche auf dem Flur. Die Türen wiesen diverse Einbruchspuren auf, von gesplisstem Holz an den Schließzargen bis hin zu Dellen, Rissen und Löchern in den Türen. Auch bei Maurice wurde bereits mehrmals eingebrochen und die Anlage und andere Wertgegenstände herausgetragen.
Eines Tages hielt ich mich mit Hodde P. bei Maurice auf. Maurice war einer der unzähligen Friedrichsorter, die an Heroin starben. Viele sahen das Unglück kommen. Niemand schritt ein. Hodde P. hörte Wire ohne Ende, besaß die drei bis dato existierenden LPs “Pink Flag“, “Chairs Missing“ und “154“. Als wir plötzlich Kaffeedurst bekamen, wurde Hodde P. damit beauftragt, Kaffee zu kochen. Hodde P. wollte jedoch nicht irgendeinen Kaffee kochen, sondern einen besonders starken. Vielleicht wollte er uns sogar mit dem Kaffee umbringen, denn er war einfach zu stark. Ich weiß nicht, wie er es anstellte. Der Filter muss für die drei Becher randvoll mit Kaffeepulver gewesen sein. Vielleicht jagte er den fertiggebrauten Kaffee sogar ein zweites Mal durch einen Filter mit Kaffeepulver. Ich weiß es nicht. Jedenfalls wurde der Kaffee unfassbar stark, ja nahezu ungenießbar. Hodde P. warnte uns auch nicht vor. Hodde servierte einfach den superheißen Kaffee, und wir verbrannten uns gleich das Maul. Der Kaffee wirkte dick wie Rohöl oder eine Art Sirup, roch extrem nach Chemie.
      „Oh Alter, wie stark ist der Kaffee denn?“
      „Ich kann nicht mehr atmen.“
Jeder kleine Schluck war mit schmerzen verbunden. Das Herz fing schon an zu rasen, sobald die Zunge mit dem Kaffee in Berührung kam. Die Zunge zog sich zusammen und wirkte betäubt. Sie verlor an Spannung und schien sich zusammenzuziehen. Die Atmung setzte kurz aus. Es war schon Körperverletzung, was Hodde uns da servierte. Es war einfach nur Hardcore. Keine von uns Dreien schaffte es, seinen Kaffee auszutrinken, wenn überhaupt, so schaffte einer gerade die Hälfte des Bechers.
Hodde P. war nie Hardcore Punk. Er hatte jedoch einen sehr ausgefeilten Musikgeschmack, bei dem Punk bedingt durch sein Umfeld eine große Rolle spielte. Wir saßen einmal bei seinen Großeltern im Keller und sahen das Joy Division Video mit derbst schlechter Bild- und Tonqualität. Er war immer dabei, wenn es einen fiktiven Pokal zu gewinnen gab, so auch in der Waschhalle Knooper Weg, im UCK und bei Ringos 17, als wir uns eine Massenschlägerei mit Bus- und Taxifahrern am Anfang der Mittelstraße leisteten. Hodde P. war eine Art Minusmann und bekannt für extrem krumme Dinger, sich in einem Hotelzimmer einzuchecken, ein zwei Nächte zu bleiben, um später alle technischen Geräte wie Video-Player, Radio und Fernseher unbemerkt einzeln in Reisetaschen herauszutragen und später zu verticken, natürlich ohne die Hotelrechnung zu begleichen. Er war auch bekannt für seinen unermüdlichen Einsatz von Penisex, eine Art Potenzsalbe, die extreme Steherqualitäten bescheren und den Abgang hinauszögern sollte.
Später kaufte ich einen Teil seiner alten Plattensammlung, die er als Kaution bei einem Fußballkollegen hinterlegt hatte. Darunter befand sich die City Baby attacked by Rats von GBH, die ich jetzt schon zum zweiten Mal erwarb, die Pissed and Proud von Peter and The Test Tube Babies, die Sick Boy GBH-Single und der erste Punk & Disorderly Sampler.







Gestern Single, heute Single UND CDU-Mitglied

Im Gemeindezentrum Altenholz, kurz GZ, waren regelmäßig Disco-Abende, bei denen ein großer Teil der Jugendlichen aus Kiel-Nord vertreten war, zumindest die, die etwas auf sich hielten. Sie kamen aus Friedrichsort-Pries, Holtenau, Schilksee, Dorf Pries und Knoop, Dänischenhagen, aus Altenholz-Stift und Klausdorf-Altenholz. Das war die Zeit, als Billy Idol musikalisch voll durchstartete mit der Rebel Yell LP. Da wurden zu jedem Disco-Termin fast alle Songs der LP gespielt, aber auch Wild Boys von Duran Duran, weil darauf die Acer abfuhren. Es wurde viel getanzt. Das GZ war immer knackevoll. Es war halt bloß schwierig, dort hin zu kommen, denn es gab keine KVAG-Verbindung. Und wer wollte schon besoffen mit dem Fahrrad zurückfahren. Also sind wir den Rückweg meistens zu Fuß gegangen. Manchmal wurden die Partys von einem Motoradclub organisiert, so auch von MC Eistüte oder MC Werner. Irgendwann war mal die CDU in die Organisation involviert, und sie versuchten junge Leute zu ködern. Eine Bekannte von mir, Elisa, wohnte in Altenholz-Klausdorf. Ich kannte sie aus dem Pfefferminz und hatte sie auch ein paar Mal besucht. Sie hatte mich eingeladen und mir unter anderem ihre Perserkatzen gezeigt, die sie in dem Haus züchteten. Sie zeigte mir nicht nur die wuschigen grauen Katzen, sie versuchte auch mir eine zu vertickten. Als sie den Preis nannte, zuckte ich zusammen. Doch wir saßen nicht in ihrem Jugendzimmer, sondern in einem möblierten Kellerraum. Ihr Vater war Arzt, und ein großer Raum nebenan stand voll mit Regalen mit Werbegeschenken von Pharma- und Medizinfirmen, alles kleine Produkte und Gebrauchsgegenstände, die jedoch die Logos von Medizintechnik- und Pharmafirmen aufgedruckt oder aufgeprägt hatten. Wir gingen in den Lagerraum im Keller, und ich konnte mir etwas aussuchen. Ich nahm mir ein Vorhängeschloss mit Magnetschlüssel, ebenso ein kleines Taschenmesser, komplett aus Metall, das sich ausklappen ließ. Die junge Frau war jedoch in der CDU oder in der Jungen Union, was ich nicht wusste. Und als das nächste Mal Disco im GZ war, standen mehrere Leute von der CDU vor den Toiletten und hatten Unterschriftenlisten und Formulare dabei. Sie quatschten alle Jugendlichen an, die auf Toilette wollten oder von der Toilette kamen. Fragten,
      „Hast Du nicht Lust, Dir mal das Formular anzuschauen?“
Sie machten das sehr gewitzt.
      „Können wir euch nicht dazu bewegen, dass ihr bei uns eintretet oder zumindest mal reinschnuppert?“
Ich habe die natürlich immer gleich verscheucht. Doch später am Abend stand Elisa da, die mich gleich anlächelte und ansprach. Es wirkte wie die große Liebe. Ich unterhielt mich zwar mit ihr, sagte aber, dass ich kein Interesse hatte. Doch die CDU-Leute standen hartnäckig wirklich den ganzen Abend da, fast bis zum Sendeschluss. Das war ja das Verwerfliche. Hinter den Leuten an der Wand sah ich ein paar wenige Kisten Bier stehen, nebeneinander und nicht gestapelt.
Elisa erweckte den Eindruck, dass sie rein gar nichts mit der CDU zu tun hatte, zumal im Hintergrund immer noch die Disco-Musik lief. Ich will ihr nichts Böses unterstellen, ich vermute jedoch, dass sie von der CDU-Altenholz Geld für ihren Einsatz bekommen hat.
Die drei oder vier Leute in diesem Nebenraum der Disco auf dem Weg zu den Toiletten ließen die Disco-Besucher für einen kurzen Moment aus dem Disco-Taumel aufwachen. Ich ließ mich schon gar nicht mehr ansprechen. Doch irgendwann war ich so voll, inzwischen wurde das dritte oder vierte Mal der Song “Rebel Yell“ gespielt und das zweite Mal “Flesh for Phantasy“, jedoch nur einmal “Catch my Fall“, ein Song zu dem Du auch sehr gut posen konntest.
Ich wollte hier nur im Suff nach Billy Idol tanzen und rumposen, vielleicht mit ein paar Fußball-Kumpels aus Kiel-Nord schnacken oder ein paar Frauen anbaggern. Ich war frustriert, dass die Acer-Frauen von mir nichts wissen wollten, obwohl ich wirklich top poste, auch mit Billy Idol-Faust und Billy Idol-Lippe.
Es schafften immer mal vereinzelte Songs von etablierten Punkbands ihren Weg in die Charts und ins Mainstream-Radio, so auch “Eloise“ von The Damned, “Always The Sun“ von den Stranglers, “This is not a Love Song“ von PIL. Das konnte auch mal im GZ laufen. War aber die absolute Ausnahme. Songs hingegen von den Toten Hosen oder den Ärzten wurden selten und mit äußerster Zurückhaltung gespielt. Sie schienen sogar leiser abgespielt zu werden, als alle anderen Songs. Richtiger Punk wurde hier nie gespielt. Vielleicht mal ein paar alte Neue Deutsche Welle Stücke, „Das Fliegerlied“ oder „Hurra hurra die Schule brennt“. Ansonsten Unmengen an Kotz-Disco-Songs und grundsätzlich abstoßende Metal-Songs.
Ich wurde zwar immer seltsam beäugt von der Rockerszene, doch was mich rettete, war, dass ich in Friedrichsort Fußball spielte und deshalb weitestgehend geschont wurde. Dennoch musste ich aufpassen. Mir war klar, dass mein Tanzstil den Acern nicht gefallen würde. Deshalb poste ich auch immer auf der gegenüberliegenden Seite des Saals, in der die Acer mit Vokuhila nicht standen.
Als Elisa mir das nächste Mal beim Toilettengang die Unterschriftenliste für eine CDU-Mitgliedschaft hinhielt, bot sie mir zusätzlich ein Bierchen dazu an.
      „Die Biere sind übrig. Du bekommst eins, wenn Du auf der Liste unterschreibst.“
Ich war schon sehr voll und dachte, das wird doch keine Konsequenzen haben, wenn ich da irgendetwas raufkrickel, eine gefakte Adresse raufschreibe und das Bier abgreife. Das tat ich schlussendlich, gab mir Mühe, dass meine Unterschrift wirklich unpässlich aussah. Ein paar Minuten später verstummte die Musik. Alle irrten durch die Räumlichkeiten und brachen langsam auf.
      Auf dem Rückweg nach Sendeschluss klaute ich mit einem sich im Dösezustand befindlichen Rocker aus Dorf Pries Brötchen von einem Brötchenlieferservice. So gesehen hatte sich der Trip doch gelohnt. Das war der Rocker, mit dem ich später versuchte, am Braunen Berg eine Handtasche zu rauben, als wir bloß den richtigen Augenblick verpennten. Wir klauten auch einmal zusammen Cowboystiefel und rissen den Alkoholtester vor dem H. Böll von der Wand. Gotcha!
Bereits in der Folgewoche nach dem GZ-Samstag erhielt ich ein Schreiben von Helmuth Kohl persönlich, in dem ich als neues CDU-Mitglied begrüßt wurde. Das ging gar nicht. Das fand ich echt mega-krass. Das war natürlich eine kopierte Unterschrift und nicht die Original Signatur von Helmuth Kohl. Ich fühlte mich von der CDU im Suff geschanghait, und das im Jahr vor dem Barschel-Schiffbruch. Wie waren die jetzt an meine richtige Adresse gekommen?
Also setzte ich mich gleich wieder an die Schreibmaschine meines Vaters, mit der ich doch schon so viele Beschwerden und Rechtfertigungen an die KVAG getippt hatte, und formulierte ein Antwortschreiben in scharfen Tönen an Birne in Bonn.
      „Sehr geehrter Helmuth Kohl, ….
ich war nie Mitglied der CDU und möchte es auch nie werden. … Bitte streichen Sie mich umgehend aus Ihrer Mitgliedsliste und löschen meine Daten.“
Daraufhin erhielt ich nie wieder Post von der CDU.
Die Teenagerin Elisa hatte mich auf diese sehr subtile Art und Weise für die CDU ködern wollen. Deshalb war mein Verhältnis zu ihr in Zukunft belastet. Es war mir sogar peinlich, obwohl sie ganz gut aussah. Ich fand jedoch eine Freundin von ihr ganz cool, die ich kennenlernte, als Elisa mit ihr am Falckensteiner Strand war. Ich ging an beiden vorbei und grüßte, und habe da einen Ring im Sand gefunden. Da habe ich den Ring aufgehoben und ging zurück zu den zwei Frauen. Da sagte Elisa schon
      „Meine Freundin Kaitja ist so traurig, sie hat ihren Ring verloren.“
Daraufhin öffnete ich die Hand und - voila - hielt ihr den Ring hing. Da war die Frau total glücklich, dass sie ihren Ring zurückbekam und ich den verlorenen Ring zufällig gefunden hatte. Sie wäre wahrscheinlich auch die große Liebe geworden. Doch sie hatten was mit der Rockerszene zu tun. Deshalb blieb ich auf Distanz.








Saufen auf dem Rohbau

Vielmann hatte es inzwischen geschafft, sich aus den Fängen der Neo-Nazis zu befreien. Manchmal, wenn wir uns mit ihm unterhielten, gab er weitere Details preis, was er in der Faschoszene durchmachen musste. Das wirkte beklemmend, teils war es lehrreich. Einiges mussten wir ihm aus der Nase ziehen. Er gab kurze Antworten. Doch es zeigten sich bald psychische Relikte dieser Phase der Indoktrinierung. Deshalb hatte er es schwer und bekam immer wieder etwas auf die Flossen.
Er arbeitete derzeit als Steinsetzer und musste aufpassen, sich beim Verlegen der Gehwegplatten den Rücken nicht kaputt zu arbeiten. Vielmann hörte nach wie vor die klassischen 2nd Generation Punk-Bands und Oi-Bands wie Exploited, Adicts, Blitz und Toy Dolls. Über den Feycer kam er jedoch in Kontakt mit der Thrash-Metal Band Slayer.
In Friedrichsort wurde inzwischen ein Neubau direkt gegenüber der Spielhalle hochgezogen. An dem Gebäude kam es zu einem Planungsfehler, der von der Baufirma ohne Rücksicht umgesetzt wurde. Das wurde vertuscht. Dabei hätten sie beim Planungsbüro nachfragen können, ob die Umsetzung so korrekt sei, bevor sie mit dem Bauen anfingen. Nichts dergleichen. Das stupide Hochziehen des Gebäudes bewirkte, dass der Neubau nicht exakt an der vordersten Kante des Nachbargebäudes ansetzte, sondern versetzt über einen halben Meter zu weit vorne stand. Dadurch ging ein circa 60 Zentimeter breiter Streifen des Bürgersteigs verloren, und kein Passant checkte, was dieser Mauervorsprung zu bedeuten hatte. Jetzt befand sich hier eine Häuserecke, wo eine gerader Übergang zum angrenzenden Gebäude hätte sein müssen. Das ist heutzutage immer noch für alle sichtbar. Der Konstruktionsfehler war eine Lachnummer im ganzen Stadtteil, genauso wie die 45°-Rollstuhlrampe gegenüber der Kirche, über die kein Rollstuhlfahrer unbeschadet hätte fahren können. Wahrscheinlich setzte die Baufirma darauf, dass später kostspielig nachgebessert oder der Neubau komplett abgerissen werden musste. Das hätte noch mehr Geld in die Kasse gespült. Das war ja nicht mal Korruption, das war einfach nur irre, oder sehe ich das falsch?
Im Rohbau konnte immer mal Brauchbares rumliegen, Werkzeug oder Baumaterial. Aber daran hatten wir meistens kein Interesse. Es gab jedoch die Situationen, wo Kids gezielt Rohbaue aufsuchten, um dort abzugreifen. Das war in Altenholz-Klausdorf direkt neben der Dänischenhagener Straße der Fall, wo auf einer sogenannten Europabaustelle ein ganzes Dorf mit Einfamilienhäusern entstehen sollte. Da konnten wir unbemerkt brauchbares Zeug wegschaffen. Ferner ließ sich in aufgebrochenen Bauwagen so Einiges sicherstellen: Taschenlampen, Werkzeug, Verkehrsschilder, im Extremfall sogar Bier.
Als die Arbeiten am Rohbau gegenüber der Spielhalle starteten, war der alte Eisladen und dessen Kundenparkplatz rechts daneben längst plattgemacht. Jetzt konnten die Cops nicht mehr aus parkenden Autos den Haupteingang der großen Spielhalle observieren. Wir verspürten wieder so etwas wie Geborgenheit, wenn wir die Spielhalle betraten. Einmal trugen wir mehrere Paletten Bocholter-Flaschen in die Spielhalle, um dort zu saufen, ohne dass die Spielhallenaussicht uns das Trinkgelage streitig machen konnte. Jenner legte mit mir Geld fürs Bier zusammen, und wir wollten später am Abend in die Stadt. Wir soffen hinten an den Billardtischen und verdrehten die Überwachungskamera, sodass die Aufsicht uns nicht mehr auf dem Schirm hatte. Alternativ dazu konntest du die Kamera mit einem Blitzlicht blenden und den Bildsensor stören. Da war der Monitor bei der Spielhallenaufsicht plötzlich grau. So hattest du eine halbe Stunde Ruhe, bis das Bild langsam wieder deutlicher wurde.
Zu der Zeit, als der Rohbau gegenüber der Spielhalle errichtet wurde, soff ich immer häufiger mit dem Nachwuchspunk Nille, der vor einer Weile nach Friedrichsort gezogen war und einen breiten Iro trug. Wir entliehen gegenseitig Platten. Nille lieh mir die Funeral Oration, die Millions of Damn Christians und die Forgotten Rebels. Von mir bekam er unter anderem die EA80 Weihnachtssingle, die er jedoch auf die aufgedrehte Heizung legte, sodass das Vinyl sich verzog und die Platte unbrauchbar war. Wir hatten einen ziemlichen Stress deshalb. Nille gab mir als Ersatz für die EA80-Single die Multi-Death Corporations-EP. War das jetzt ein fairer Deal?
Nille hing häufig in der Alten Meierei ab, wo wir schlussendlich gemeinsam einkehrten. Wir gingen zum False Prophets-Konzert, das uns wirklich kickte. Der Sänger wechselte permanent die Kopfbedeckung, von Pseudo-Büffelfellmütze über Bischoffsmütze, Vogelkäfig, Römerhelm und Indianerperücke bis hin zum Zylinder.
Nille hatte im August Geburtstag. Wir machten mal an seinem Geburtstag eine Strandparty am Falckensteiner Strand. Geisel war dabei. Schon auf dem Weg dorthin fing es an zu regnen. Deshalb flohen wir mit unserem Grüppchen zum nächsten Strandpavillon, Hausnummer 81, und setzten uns an einer überdachten Stelle mit dem Rücken an die Außenwand. Hier soffen wir bei Starkregen, und der Kasi-Rekorder blieb trocken. Es lief Hardcore-Punk non stop, sodass die Hundehalter mürrisch glotzten.
      Nille spielte in einer Punkband namens Sargent Slaughter, die bei seinen Eltern in Friedrichsort im Garten probte. Als Übungsraum nutzten sie einen umfunktionierten Gartenschuppen, der im Schatten der Prieser Kirche stand. Ich schlug ein-oder zweimal im Übungsraum auf, wo sie mir ein paar Songs vorspielten. Nille stand am Mikro, spielte dazu E-Gitarre. Mir war das alles zu wenig Verzerrung. Aber ich merkte gleich, dass die Songtexte sehr gut, das heißt gesellschaftskritisch waren. Eine Textzeile lautete:
      „And I don’t want your TV, but you force it on us. Who is not influenced by this brainwashbox?“
Nille hatte Glück gehabt. Als dritter Sohn in der Familie brauchte er nicht zur Bundeswehr. Das gelang in meinem Umfeld sonst nur Mannek, der ebenfalls der dritte Sohn war.
Zu der Zeit unternahm ich wirklich viel mit Nille. Wir sahen auch das Pokalfinale ‘89 bei den Hürsch-Brüdern in Knoop. Es gab wieder Wut-Ka. Ich habe keine Erinnerung an das Pokalfinale, weiß nur, dass diese Bauern in ihrer Küche den größtvorstellbaren Leergutberg angesammelt hatten. Vielleicht waren es über 1000 Flaschen und Dosen, vielleicht auch nur 900. Und dass wir nach dem Spiel Vorkriegsjugend hörten, eine der Lieblingsbands der Hürsch-Brüder.
Nilles Fahrrad hieß Rosinante. Im Suff sprach er manchmal mit dem Fahrrad:
      „Rosinante, wo bist Du?“
      „Rosinante, das hast du gut gemacht.“
Auf der Rückfahrt von Knoop über die alte Hochbrücke stürzte Nille mit dem Rad auf der Wiker Seite den steilen Abhang runter und landete im Gestrüpp. Er lachte trotz der Schürfwunden unaufhörlich. Es gab weitere Fahrradunfälle auf der Rückfahrt. Sogar Geisel stürzte - Wodka sei Dank.
Als schlussendlich der Rohbau direkt gegenüber der Spielhalle fertiggestellt war, erkundeten wir aus Abenteuerlust immer häufiger das Gebäude. Hier im Rohbau konntest du unbemerkt pissen gehen, auch wenn die Einkaufsstraße gleich nebenan verlief. An einigen Stellen war es gefährlich, besonders wenn die Treppen nicht eingebaut waren und stattdessen große Lücken im Boden klafften. Also mussten wir im Suff doppelt und dreifach aufpassen, uns nicht die Knochen zu brechen. Irgendwie kamen wir immer auf die Baustelle, notfalls wurde der Bauzaun verschoben oder verbogen.
      Eines Tages ging ich mit Nille, Vielmann und einer weiteren Person auf die Baustelle. Es kann sein, dass es Krümmel war. Auf unserer Erkundungstour im Rohbau gelangten wir schließlich zum offenen Dachboden und bemerkten, dass wir sogar auf die Dachgiebel klettern konnten. Also entschlossen wir uns, eine Tüte Bier bei Aldi zu kaufen und oben auf dem Dach des fast fertiggestellten Hauses zu saufen. Es waren Halbe-Dosen, aber kein Feldschlösschen. Ich klaute dazu eine Packung Prince Denmark, hatte aber ein schlechtes Gewissen, nicht wegen Aldi, sondern weil der Punk Nille christlich erzogen war und ich Angst hatte, dass ich ihn mit meiner hardcore-proletarischen Ader verderben könnte.
Jetzt saßen wir auf dem Giebel des Gebäudes, was nicht ungefährlich war. Die Aussicht war großartig. Das fiel unter die Rubrik geheime und spektakuläre Trinkorte.
Sicher sahen uns ein paar Anwohner. Doch niemand versuchte uns zu verscheuchen. Niemand rief die Cops. Ich winkte ein paar Türken zu, die erheitert vor der Spielhalle standen und zurück winkten.
      „Was los, Ollum?“
Wir bewegten uns hier über den Dächern Friedrichsorts und hätten auf dem Dach vielleicht sogar bis zur Hecktstraße laufen können, wo im Parterre der Dealer wohnte, der täglich seine Freundin schlug, bis die Frau schlussendlich ins Frauenhaus flüchtete.
Wir hatten eine tolle Fernsicht an dem Tag, auch wenn wir die Ostsee von dort nicht sehen konnten.
Beim Saufen auf dem Rohbau thematisierten wir die Planungs- und Konstruktionsfehler.
      „Wie kann das sein, dass die das Gebäude einen halben Meter verrücken und zu nahe an der Straße bauen?“
      „Wahrscheinlich waren die alle besoffen.“
      „Entweder war der Plan des Architekten falsch, oder die Baufirma hat den Plan falsch umgesetzt.“
      „Ich kenn den Architekten persönlich. Das ist xxx.“
      „Ach, der Trainer, der immer im Hinterhof am Tresen steht und schnackt?“
      „Echt jetzt?“
      „Reich mir bitte mal ein Bier.“
      „Kannst Du fangen?“
      „Ja, wirf.“
      „Pass auf, das spritzt.“
     „Krasser ist die Rollstuhlfahrerrampe oben. Das musst du Dir mal vorstellen, eine Rollstuhlfahrerrampe mit einem Gefälle von 45°.“
      „Dann mal Hals- und Beinbruch.“
Als wir den Biervorrat leergetrunken hatten, kletterten wir wieder vom Dach und verließen die Baustelle.
Als das Gebäude schließlich fertiggestellt war, zog im Parterre neben der vorstehenden Ecke ein Schreibwarenhändler ein. Im ersten Stock eröffnete ein Friseur. Das war der einzige Friseurladen, den ich kannte, der sich nicht im Parterre befand.







ZWILLINGSKAPITEL


Der Teakwondo-Freak vertickt mir seinen Röhrenverstärker
&

Der ober-f*cking Hehler vertickt mir die f*cking Heavy Metal Gitarre

Als wir gerade auf dem Hartgummi-Handballfeld hinter der Gesamtschule abhingen und uns Tabak teilten, kam ich mit dem Teakwondo-Freak ins Gespräch, der immer seine roten Adidas Boxerschuhe trug und ständig zu Späßen aufgelegt war. Als er erfuhr, dass ich mit meinem Punkbackground regelmäßig Gitarre spielte, bot er mir einen alten Röhrenverstärker aus den 50ern an, der angeblich seinem Vater gehörte, der für das Gerät keine Verwendung mehr hatte. Er wollte für das Teil 30 Takken haben. Das sah ich als einmalige Chance an. Also besuchte ich den Teakwondo-Freak, latzte die Takken, nahm den koffergroßen Röhrenverstärker mit und brachte ihn zu mir nach Hause. Der Teakwondo-Freak hatte mir dazu ettliche Kabel und Adapter mitgegeben, denn der alte Röhrenverstärker verfügte ausschließlich über Din-Buchsen und nicht wie sonst üblich über die klassischen Klinkenbuchsen. Zu Haue schloss ich das Teil an, und schloss auch die Sting-Rays Gitarre an den schepperigen Verstärker an. Es war ein permanentes Grundrauschen vorhanden, dazu kamen im Hintergrund immer wieder unterschwellig Radiogeräusche auf. Es war ein englischsprachiges Programm, ich meine sogar BBC oder BFBS. Sobald der letzte Gitarrenton verstummt war, blendete sich automatisch der britische Sender ein. Das fand ich echt cool. Dieser Gitarrenverstärker hatte einen wirklich krassen Echo-Effekt eingebaut. Allerdings keinen Verzerrer, der für mich unerlässlich war. Jedoch war der Sound insgesamt sehr schlecht, und bei den einfachsten Kabelbewegungen fing der Verstärker an zu knacken und zu scheppern. Trotzdem spielte ich mit dem Gerät jahrelang, bis ich es schließlich für ein 20-faches des Kaufpreises an einen Dozenten der Fachhochschule verkaufte. Das war für mich natürlich ein Bombengeschäft. Trotzdem tat es mir im gleichen Augenblick Leid, als der gute Mann den Verstärker abholte, denn ich erkannte, was dieser Hohner-Verstärker für ein grandioses Gerät war. Und mir wurde klar, dass ich dieses Modell nie wieder käuflich erstehen konnte. Ich spielte darauf auch lange Zeit eine Hohner Heavy Metal Gitarre in 4-zackiger Sternform. Klar, ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich als Punk eine Heavy Metal Gitarre besaß. Aber das war bei Exploited, GBH und Hüsker Dü ja auch der Fall, deren Gitarristen mit einer Flying V spielten. Diese meine spätere Metal Gitarre sah ich eines Tages bei einem Hehler im Königsweg, und ich konnte das Teil dort nicht verkümmern lassen. Ich handelte ein erfolgreiches Tauschgeschäft aus, allerdings sollte ich 100 Takken draufzahlen. Also wurde ich letztendlich doch über den Hehlertisch gezogen. Dieser Ober-f*cking Hehler hätte jede BWL-Studentin und jeden Businessman abgezogen. Niemand hatte eine Chance, ein Schnäppchen rauszuhandeln. Denn diese Hehler verstanden ihr Handwerk einfach zu brilliant. Ein wirkliches Schnäppchen gab es dort nie, und vor allem fielen Leute aus der Drogenszene auf die Tricks der Hehler rein. Der Tausch bestand darin, dass ich meine alte Defender Spielkonsole, die ich mir einst gebraucht bei Golden Gate kaufte und ihn mit zwei Mannschaftskollegen mit einem Transporter nach Hause schaffte, als Tauschobjekt anbot. Allerdings hatte dieser Defender mich selbst 200 Takken gekostet. Auf der anderen Seite konnte ich einiges an Ausgaben kompensieren, da ich die Konsole zahlungspflichtig in meinem Zimmer aufstellte. das heißt, jeder, der mich besuchte, und mit dem Defender spielen wollte, musste eine D-Mark-Münze einwerfen, um einen Credit auf den Zähler zu zaubern. Das würde von vielen scharf kritisiert. Einige nannten das Abzocke unter Kumpels. So gesehen war ich kein deut besser als Hecker mit seinen Ausleihaktionen von Jacken und Platten. Aber ehrlich gesagt hätten meine Kumpels in jeder Spielhalle die Mark bezahlt, und bei mir gab es manchmal sogar ein Bier aus Vadderns Keller umsonst. Außerdem war der Defender an sich relativ up to date. Also zusammengerechnet gab ich diesen Defender abzüglich der eingenommenen D-Markmünzen aus meinem Freundeskreis plus den draufgezahlten 100 Takken an den Hehler weiter und konnte die Heavy Metal Gitarre mit nach Hause nehmen.
Wenn du bei einer herkömmlichen Gitarre den Vorlauf der Saiten oben am Gitarrenkopf anschlägst, zwischen der Aufhängung am Wirbel und dem Sattel, entstehen ganz hohe Töne. Dieses Geklimper hört sich mit etwas Phantasie an, wie ein japanisches Zupfinstrument. Jedes Mal, wenn ich diese kurzen Saitenanfänge anschlug, musste ich an der Crass-Song “Nagasaki Nightmare“ denken, der mit ebendiesen japanischen Zupfgeräuschen anfängt. Solche Geräusche konnte ich mit der f*cking Heavy Metal Gitarre ebenfalls produzieren, trotz der Imbusklemmen oben am Gitarrenkopf.
Diese Metal Gitarre besaß sogar einen Jammerbügel. Außerdem hatte ich inzwischen die Sting-Rays Gitarre vollkommen zerlegt, sodass mir nur noch diese sternförmige Metal-Gitarre blieb. Aber letztendlich fand ich sie scheiße, weil der Sound mir nicht zusagte und weil sich die Gitarre relativ schnell wieder verstimmte.
Ich kam langfristig mit der Mechanik der Gitarre einfach nicht klar, denn ich hätte über die Imbus-Schrauben die Saiten der Gitarre sowohl oben als auch unten am Steg mit einer Klemme festschrauben müssen. Das war mir auf Dauer zu viel Aufwand, denn ich wollte mit der Gitarre einfach nur Lärm machen und mich nicht in handwerklichem Geschick üben. Dieser laxe Anspruch war mein Fehler.

      Letztendlich waren wir zu dumm eine Band zu gründen.

Ich verkaufte die f*cking Metal-Gitarre schlussendlich an einen Mode-Rocker mit geringen Verlusten. Und ehrlich gesagt war es auch kein wirkliches Verlustgeschäft, denn im Laufe der Jahre war für die gebrauchte Gitarre immer noch der ursprüngliche Neupreis aktuell. Aber wahrscheinlich wurde ich auch hier über den Tisch gezogen. Als Beschwichtigung bekam ich von dem Hehler allerdings ein defektes Schifferklavier dazu, das jedoch dermaßen hinüber war, dass du darauf nicht mehr spielen konntest. Oder hatte der Hehler mir dafür doch Geld abgeknöpft, ohne dass ich das peilte?








Ich drifte taumelnd in die linke Szene ab

Wir tanzten Pogo mit Wegschubsen und ins Gesicht greifen, Ohren ziehen und unter die Nase stupsen, unters Kinn stupsen, Kopf wegdrücken, in die Wange kneifen mit Daumen und Zeigefinger.
Wir sangen:
      „Im Himmel gibt es kein Bier, darum trinken wir es hier.“
So konnte es nicht weitergehen. Jetzt wurde Hecker komisch. Er schrie auf einem Sit-In in seinem Kellerzimmer im Suff plötzlich unmotiviert den Namen Bubak.
      „Bubak!“
Dabei lag der Mordanschlag auf Bubak bestimmt sieben oder acht Jahre zurück. Bubak war ein Generalbundesanwalt, der von der RAF ermordet wurde. Schrie jemand
      „Bullen in die Leine!“
konnte Hecker plötzlich schreien:
      „Buback!“
Wir feierten Bubaks Tod im Suff nachträglich wie einen Sieg. Bei Hans-Martin Schleyer hatten wir keine Meinung. Da glotzten wir einfach mit aufgerissenen Augen und versuchten die Aufschrift auf dem Schild zu lesen. Doch Bubaks Ende traf unseren Nerv. Er musste im Punk-Jahr ’77 sterben. Das peilte ich gar nicht. Ich dachte, er sei gerade vor kurzem erst gestorben. Wir stimmten in die Bubak-Rufe ein. Auf dem Sit-In bei Hecker im Keller schrien wir immer wieder vereinzelt und unmotiviert
      „Buback!“
Das wirkte auf uns als Schüler befreiend. Im Prinzip wurde es zu einer Buback-Party, auf der konsequent angestoßen und Trinksprüche geäußert wurden.
      „Prost!“
      „Auf Bubak!“
Hecker war dermaßen entzückt, dass er uns mit seinen Bubak-Rufen und der geballten Billy Idol und Bum Bum Boris Faust mitriss, sodass auch wir bald aus heiterem Himmel Bubak schrien. Das Aussprechen des Namens Bubak nahm Druck von uns, da das Establishment zusammenzuckte, wenn Bubaks Name fiel. Außerdem klang das wie ein aktueller Werbeslogan, wie ein Schlachtruf für ein Deo-Spray
      „Mein Bak, Dein Bak. Bubak.“
oder
      „Backbord und Backen statt Bubak.“
Das war natürlich alles Schwachsinn, doch es wirkte befreiend wie das Tanzen eines Chicken Squawks, wenn wir mehrmals Bubak riefen.
Bloß als wir spät am Abend mit dem Bus ins ERROR fuhren, verstummten unsere Bubak-Rufe. Da mussten wir uns zusammenreißen, zumal der langhaarige Hippie aus Strande wieder in der letzten Reihe links in der Ecke saß. Er war als Hippie bei der freiwilligen Feuerwehr Schilksee, lächelte und fixierte uns mit seinem Blick. Doch er war uns suspekt.
      Als der Waver Czeck mich erneut im Subway zusammnstauchte, weil ich früher ein paar Mal mit den Konz-Brüdern und Gonnrad auf dem Ansgar gesoffen hatte, wollte auch ich linksradikal werden. Czecks Saat ging auf, ebenso führte der Druck von Lasse und Fiebrig allmählich zum Ziel.
Die hatten schon „ein beeten wat in der Birne“. Das waren nicht die Linksradikalen, die glaubten, sie täten etwas gegen Rechtsextremismus, wenn sie bei einem öffentlichen Gelöbnis aus Protest aus 50 Metern Entfernung den Hitler Salut zeigten.
Sie schafften es, dass ich linksradikal argumentierte gegen CDU-Staat und Kapitalismus und mich wie ein torkelnder Ein-Mann-Schlägertrupp gegen die Faschos aufführte. Ich lernte, Faschos im Bus zusammenzustauchen, vergleichbar mit Mig, wenn er Punks oder Skins zusammenstauchte, sobald es zu Engpässen beim Alkohol kam. Auch mein neuer Fußballtrainer sabbelte mir immer wieder eine Blase ans Ohr, wenn ich besoffen nur kurz durch den Hinterhof schauen wollte und er mich am Tresen stoppte. Während ich jetzt vor einem frischen Bier am Tresen stand und die Flasche anglotzte, textete er mir unaufhörlich ins rechte Ohr, arbeitete dabei das letzte Spiel auf, kündigte Veränderungen in der Aufstellung an oder kritisierte den Fußballobmann. Ich glaubte währenddessen Drogenverstecke hinter dem Tresen orten zu können.
      „Never change a winning team!“
sagte ich, obwohl wir verloren hatten.
Mein neuer Trainer konnte urplötzlich zu einem ganz anderen Thema switchen und über Lokalpolitik fluchen oder die Rüstungsfirma anklagen.
      „Der Stadtbaurat macht mich wahnsinnig. Ich fass mir nur noch an den Kopf.“
Unser Trainer war ein guter Psychologe, besonders, wenn das Bier in Mengen floss und der DJ Rhythm & Blues und Hippie-Mief auflegte.
Als Pseudo-Punk fühlte ich mich jetzt von den koksenden Wavern und Alt-Hippies an die Hand genommen, die mir endlich zeigen würden, wo es politisch langgeht.
Den letzten Kick auf dem Weg zum Pseudo-Linksextremen gaben mir Heckers jüngste Plattenkäufe, zumeist ultrakritischer brandaktueller Anarcho- und Polit-Punk. Aber auch politischer Post-Punk. Für ihn waren Heresy, Conflict und Chumbawamba längst zum Dogma geworden. Er war die Elite. Crass war eher Lasses Ding. Doch ich sprang auf alle Züge auf, weil ich  Platz im Kopf hatte auf dem Weg zum Abi. Außerdem hattten die Anarcho-Bands recht. Auf mich wirkten die wie Aufputschmittel.
Auch von meinen neuen Kommie-Lehrern an der IGF bekam ich den Input, den ich für meinen Schul-Pogo brauchte. Der historische Materialismus, oder Histomat, wie unser Drummer sagte, wurde während des Deutsch-Grundkurses fast zum eigenen Schulfach. Es sollte sogar einen Zusammenhang geben zum Dialektischen Materialismus. Ergänzt wurde das in diesem Schuljahr von der Identitätstheorie
      „Was ist Identität?
Na, … Identität ist, wenn Denken und Handeln übereinstimmen.“
Betretenes Schweigen. Der Deutschlehrer sagte
      „Das Sein bestimmt das Bewusstsein!“
Das leuchtete mir ein.
      „Das ist der historische und der aktuelle Horizont des Verstehens.“
Das leuchtete mir teils ein.
Ich fragte mich, ob die Schüler in der DDR auch einen solchen positiven Input hatten, oder ob mein neuer Deutschlehrer für die schon zu liberal oder gar reaktionär war, und sie ihn im Osten eingebuchtet hätten. Ein Stück weit fühlte ich mich in seinem Unterricht wie in der Baghwan-Disco, jedoch ohne Musik. Ich fand das mega - wie Alice im Wunderland. Endlich stand ich sicher auf 4 in Deutsch und musste nicht mehr zittern. Ein echt geiler Lehrer. Hätten wir den an der Hebbelschule gehabt, hätten die Punks alle Abi gemacht, auch Barne. Außerdem wären Hecker, Wisent und ich nie sitzen geblieben und Maxi wäre nicht von der Schule geflogen.
     Doch leider war ich zu chaotisch für ein ernsthaftes politisches Engagement im linksradikalen Spektrum. Ich konnte mich schon an der Hippelschule nur oberflächlich mit den Schülern aus der linksalternativen Szene anfreunden, es sei denn, dass wir gemeinsam Punk hörten, was jedoch mit den Schul-Hippies schwierig war. Das gelang nur einmal, als wir uns mit einem Mathe-Kurs privat in der Möllingstraße trafen. Es war mir ein Rätsel, wie linksalternative Langhaar-Hippies Punk strikt als subversiv ablehnen konnten. Auf der Gesamtschule ließen sich die Langhaarigen wenigstens für Punk begeistern, allerdings war da eher Heroin das Problem. Keine Angst, Heroindealer Tomb hatte hier nicht seine Finger im Spiel, zumindest nicht in der Gymnasialen Oberstufe.
      Ich wäre unfähig gewesen, in einem linken Bücherladen oder in einem Dritte-Welt-Laden zu arbeiten. Auch ich hätte Geld aus der Kasse genommen. Ich sah inzwischen wieder aus wie ein Pseudo-Punk, stand jedoch Linksterroristen wie Christian Klar mental sehr nahe, weil er uns imponierte und wir alle Fans waren, obwohl wir nicht wussten, was genau er auf dem Kerbholz hatte. Vor allem sah er aus wie der Sänger von Chrome. Irgendwie anders als die Masse. Und das zählte. Zwar stellte sich heraus, dass einer der RAF-Terroristen auf der Kieler Gelehrtenschule war, doch Christian Klar blieb für uns als Schüler und Teenage-Punks die Nummer eins. Er war der Pop-Star unter den Terroristen.
Wenn ich aufs 7. Polizeirevier zitiert wurde, sah ich rechts neben der Eingangstür oberhalb von Klingel und Gegensprechanlage seit vielen Jahren schon das original Fahndungsplakat der allseits beliebten RAF-Terroristen hängen. Unter normalen Umständen, also im Suff auf Tour, hätten wir sicher versucht das Plakat abzuhängen und mitzunehmen. Aber das mach mal auf dem Polizeirevier. Manchmal sahst du Fahndungsplakate, auf denen ein Profil-Foto durchgestrichen war. ES wurde jemand gefasst oder erschossen. Wer bei dem Fahndungsplakat genauer hin sah, machte sich verdächtig bei den Weltkriegsrentner*innen. Als gescholtener Sitzenbleiben mit langfristigen Komasaufschäden konntest du nur Sympathien für die Truppe auf den Fahndungsfotos entwickeln. Die Frauen fanden wir sowieso alle geil, ausgenommen die Brillenträgerinnen. Genau so mussten Frauen aussehen, dass wir auf sie abfuhren, sofern sie keine Punk- oder Goth-Girls waren.
      Unsere Terroristen waren zwar keine Punks, jedoch bekämpften sie das, was die Punks ebenfalls hassten. Czeck, Fiebrig, Lasse und mein neuer Trainer suggerierten mir jetzt schon mit jedem Blickkontakt am laufenden Band, dass die gesuchten Linksterroristen anders als wir keine Pseudos waren und für eine bessere Zukunft kämpften.
      Ich war jetzt linksradikal oder besser linkskreativ in meinem Denken, hatte jedoch laut Deutschlehrer keine Identität, da Denken und Handeln derzeit nicht übereinstimmten. Wir lernten die Gedanken der Ausbeuter hinterm Discotresen und bei WOM lesen, lernten, die Ausbeuter mit Gedanken und Blicken zu strafen. Ich versuchte sie im Suff mit PSI zu lenken und mich so zu rächen. Allerdings kannte ich PSI nur aus einem einmaligen Fernsehbericht von ARD oder ZDF. Laut PSI-Theorie konnten die Russen beziehungsweise Sowjets mit ihrer puren Gedankenkraft sogar Sateliten steuern. Ich glaubte das noch lange nach dem Abi.
      Ich fühlte mich beflügelt von Oi-Ringo und meiner neuen roten Harrington, die selbst nach all den Jahren stark nach Ringos Schweiß roch. Deshalb besorgte ich mir aus freien Stücken ein paar heiße Broschüren über Sozialismus, das Heftchen „Was ist Marxismus?“ von der sozialistischen Arbeitsgruppe und ein rot-weißes Solidarność-Poster mit einer rot-weißen Flagge über dem ’n’, und ab ging die Luzie, auch wenn ich mir das Poster nie an die Wand hängte. Oder reichte das nicht, um von Czeck und Fiebrig akzeptiert zu werden? Das würde sich im Subway zeigen, ob sie uns zuprosten würden oder nicht. In der Meierei ignorierten sie uns sowieso oder schienen durch uns hindurch zu blicken. Die rote Harrington schenkte ich später übrigens einer Junkie Frau.







Die Politrockerin nach dem Bad Religion Konzert

Im August, gut sechs Wochen vor der Öffnung der Berliner Mauer spielten Bad Religion in der Hamburger Fabrik. Die Band befand sich auf der Suffer European Tour. Ringo, jetzt wohnhaft in Altona, offenbarte uns, dass Bad Religion demnächst am Donnerstag in der Fabrik spielten. Die Nacht nach dem Konzert könnten wir bei ihm und seiner Freundin verbringen. Das war ein Angebot.
Vor der Fabrik war wieder Orientierungstrinken angesagt, sehen und gesehen werden. Bekannten aus Kiel und anderswo wurde auf dem Vorplatz zugeprostet. Es war mal wieder eins der Konzert in Hamburg, bei dem du den Eindruck hattest, dass hier mehr Kieler waren als Hamburger. Das war natürlich eine Illusion, und der Wunsch war Vater des Gedankens. Außerdem war das ein Standardspruch in Kiel am Tresen, wenn nach Konzertbesuchen in Hamburg gefragt wurde, auf denen du mehrere Kieler getroffen hattest.
      „Das waren wieder mehr Kieler als Hamburger auf dem Konzert.“
Von der Qualität her war das Bad Religion Konzert eins der besten Konzerte, die wir bis dato gesehen hatten. Es war ungewohnt fehlerloser Punk auf höchstem Niveau. Schnell, hart, melodiös, geradlinig und zum Pogo einladend. Das Konzert war dermaßen professionell vorgetragen, dass wir uns sicher waren, den Beginn einer neuen Punkära erlebt zu haben. Wir pogten, wir tranken Bier, wir gingen auch mal hoch auf die Galerie und blickten aus verschiedenen Perspektiven runter auf die Bühne und den Pogo-Mob. Zuletzt standen wir oben auf der frontal gegenüberlegenden Seite zur Bühne. Das sah nicht nach Kaputt-Punk aus, sondern nach Sport, denn Ami-Hardcore war sportlich. Die Musiker wirkten geradlinig, nicht so extrovertiert kaputt wie viele zeitgenössische europäische Punk-Bands. Wir waren mehr als zufrieden.
Ringo traf auf dem Konzert den Rocker von seiner alten Schule, der ihm damals das Paket Scheiße geschickt hat. Es brachte nichts, ihm das Paket Scheiße bis zum Sanktnimmerleinstag nachzutragen. Ringo begrub seinen Hass und begrüßte den stattlichen Rocker. Sie unterhielten sich angenehm auf diesem Punkkonzert und Ringo freute sich, dass der Rocker Bad Religion mochte. Sie hatten das Kriegsbeil längst begraben. Die Band hatte obendrein eine Brücke zwischen Punks und Rockern gebaut.
Ringos ehemaliger Schulwiedersacher hatte sich zu einem toleranten Rocker entwickelt, der mindestens zu 20 Prozent auch Punk hörte.
      Nach dem Konzert gingen wir in den kleinen Kiosk weitersaufen, schräg gegenüber von der Fabrik rechts an der Ecke. Hier soffen wir Halbe und spielten Kicker. Wir standen zu der Zeit auf karierte Hemden im Tartanmusterstyle.
An einem Tisch neben uns saß eine autonome Frau mit Brille, Lederjacke und kurzen Haaren. Sie wirkte nicht wie ein Punk-Girl, sondern eher wie eine militante Politrockerin. Als einer von uns am Kickertisch wiederholt das Wort „total“ verwendete, drehte die Frau plötzlich ab.
      „Hört endlich mal auf immer ‘total‘ zu sagen! Das ist ein Nazi Wort.“
Ich hatte keinen check, was die Frau von uns wollte. Einer von uns hatte zuvor so etwas gesagt wie
      „Total geil!“
oder
      „Ging total ab!"
Darauf sprang die Frau sofort an.
Wir nahmen die Frau sehr ernst, glotzen sie schweigend und betroffen an. Ingo öffnete vor Empörung weit den Mund.
      „Wenn ihr noch mal total sagt, dann gibt es auf die Fresse! Das versprech ich euch.“
Ich fand das ziemlich mutig, denn wir waren immerhin zu viert. Es herrschte betretenes Schweigen. Wir waren jetzt nicht sicher, was das sollte. Eingeschüchtert kickerten wir weiter ohne zu reden. Ein paar Minuten später verließ sie fluchend den Kiosk.
Ringo fasste sich an den Kopf
      „Die war aber hart drauf!"
Da wurde wieder deutlich, dass Hamburg ein rauheres Pflaster war als unser überschaubares Kiel. Wir wirkten wie zurückgebliebene Hinterwäldler, und es dauerte ein paar Minütchen, bis wir zum ersten mal wieder lachen konnten.
      „War das jetzt eine Anmache?“
grunzte Hecker.
      „Politologie Studentin. Hundertpro!"
raunte Heimerich.
      „War die auch bei Bad Religion?"
fragte ich.
      „Keine Ahnung!"
sagte Hecker.
     „Die meint das wahrscheinlich wegen Göbbels Sportpalastrede mit ‚wollt ihr den totalen Krieg?‘“
      „Wahrscheinlich.“
Das gab uns auch in der Folgezeit stark zu denken. Ich vermied das Wort ‘total' in Zukunft. Doch wenn alle um dich herum das Adverb ‘total' verwenden, rutscht es Dir trotzdem irgemdwann wieder raus. Aber die Alte aus Altona hatte schon recht.
      Als wir in Ringos Wohnung ankamen, hatte seine Partnerin die Schlafsäcke schon ausgerollt. Ringos Freundin war zuvor nicht mit auf dem Konzert. Sie hatte aufgeräumt und die Schlafplätze freigeräumt. Von ihr hörte ich zum ersten Mal in meinem Leben das Wort „Faschos“. Daraufhin wurde Fascho auch unser bevorzugtes Wort, wenn es um Rechtsradikale, Alt-Nazis und extrem Konservative ging.
Am nächsten Morgen wurde gemeinsam gefrühstückt, und Ringo brachte uns zum Bahnhof Altona, von wo aus wir mit dem Zug mit Sammelkarte zurück nach Kiel fuhren.







Fußball im Schatten von Tschernobyl
(Drohender Punktabzug)

Ich hatte den Verein in schlechter Erinnerung, weil mir dort Zuschauer an die Wäsche wollten. Als 16-jähriger Jungschiedsrichter hatte ich ihrer Meinung nach schlecht gepfiffen. Jetzt gut drei Jahre später im Herrenbereich spielte ich in der dritten Mannschaft unseres Vereins. An diesem Sonntag mussten wir mit unserem Team genau an jenem Ort spielen. Ich war da 19 Jahre alt. Doch einige Spieler hatten Angst aufzulaufen. Es war das erste oder zweite Wochenende nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Wir konnten nicht einschätzen, ob es während des Spiels regnen könnte, was radioaktiven Regen bedeutet hätte. Seit Tschernobyl war es trocken. Die radioaktive Wolke bewegte sich über Mitteleuropa. Es war absehbar, dass der nächste Regen radioaktiv sein würde. Vor dem Spiel, wir waren noch nicht umgezogen, liefen wir über den Platz und berieten die Lage.
      „Sag mal, können die das Spiel nicht einfach absagen?“
      „Meinst du, dass es während des Spiels regnen wird?“
Alle schauten nach oben. Der Himmel war bedeckt. Gerade in Schleswig-Holstein ist schwer abzuschätzen, ob es in absehbarer Zeit zu Regenschauern kommen könnte. Wir setzten und lehnten uns an einen Poller oder Balken der quer lag und berieten die Lage weiter.
„Schau mal, da hinten kommt die erste graue Wolke!“
sagte Harry und zeigt in Richtung Osten. Wir blickten nach Osten und kommentierten die Wetteraussichten.
      „Die zieht vorbei.“
      „Da wäre ich mir nicht sicher.“
      „Wir können später den Platz ja immer noch verlassen, wenn es anfängt zu regnen.“
      „Dann kriegen wir aber auch schon die ersten radioaktiven Partikel ab.“
      „Wir müssen das vorher mit dem Schiri absprechen, nicht dass der Spielabbruch am Ende gegen uns gewertet wird.“
Wir führten unentwegt Rechenmodelle durch, wie das Spiel gewertet werden könnte. Damals in den 80ern waren alle Spiele noch Zwei-Punkte-Spiele.
      „Die Mannschaft, die zuerst geschlossen den Platz verlässt, hat auch verloren. Das Spiel wird mit 0:2 Toren und 0:2 Punkten gewertet oder mit dem aktuellen Spielstand - je nachdem."
      „Du meinst, wenn TSV Eidertal schon mit 4:0 führt und wir vom Platz gehen, dann wird das Spiel auch mit zwei Punkten und 4:0 Toren für Eidertal gewertet?"
      „Aber die werden niemals gegen uns gewinnen. Das ist der totale Dorfverein."
      „Wir können doch aber den Regen in der Kabine abwarten und weiterspielen, wenn der Regen vorüber ist."
      „Dann ist aber der Rasen nass, und wenn wir grätschen, kriegen wir radioaktive Partikel auf die Haut."
      „Außerdem sind die Fußballschuhe verstrahlt, und wir können die wegwerfen."
      „Das wird doch nicht die volle Dosis sein. Hier kommt doch nur ein Bruchteil von dem an, was in Tschernobyl in die Luft gegangen ist."
      „Da wäre ich mir auch nicht so sicher, bei der Informationspolitik. Hier kann sich die ganze Wolke abregnen."
      „Nun wartet erstmal ab, ob der Schiri das Spiel überhaupt anpfeift.“
      „Also, ich habe mich entschieden. Ich werde nicht mitspielen.“
sagte Harry.
      „Das ist doch Scheiße. Lass uns lieber mit dem Schiri klären, dass er sofort abpfeift sobald die ersten Regentropfen fallen.“
Nach dem Gespräch gingen wir in die Kabine. Wir mussten uns beeilen. Der Schiri war bereits in seiner Kabine. Alle zogen sich um – bis auf Harry. Wie akzeptierten das voll und ganz. Vor allem trug das dazu bei, dass wir die Situation sehr ernst nahmen, denn die Details der Reaktorkatastrophe kamen in den vergangenen Tagen nur häppchenweise an die Öffentlichkeit. Die Sowjetführung schätzte die Katastrophe anfangs nicht richtig ein oder versuchte, sie bewusst herunterzuspielen. Das volle Ausmaß des Reaktorunfalls war nicht absehbar. Es wurden bloß immer wieder Warnungen in den Medien ausgesprochen, keine Pilze zu essen, keine Wäsche rauszuhängen und den Regen zu meiden. Offizielle Einschätzungen gab es da noch nicht, nur Chaos in den Medien. Es wurde schon gar nicht über einen Saisonabbruch beim Fußball diskutiert. Unser Betreuer sprach vor dem Spiel mit dem Trainer der gegnerischen Mannschaft und mit dem Schiedsrichter. Er erzählte dem Schiri, dass die Verunsicherung bei uns groß sei. Deshalb müsse er damit rechnen, dass unsere Mannschaft geschlossen den Platz verlassen würde, sobald der erste Regen fällt.
Wir hatten mehrere Studenten in der Mannschaft, ebenso junge Ingenieure und Azubis. Ich besuchte noch die Oberstufe der Gesamtschule, und es sollte eine Weile dauern, bis die Schuljahreszeugnisse ausgeteilt wurden. Normalerweise hätte ich zu der Zeit bereits mein Abi in der Tasche gehabt, wenn ich nicht sitzen geblieben wäre. Somit fiel Tschernobyl genau in dier Abi-Prüfungsphase meiner ehemaligen Klassenkollegen. Das war aber ganz sicher kein Grund zur Schadenfreude. Für mich stand am Ende dieses Schuljahres erstmal die Fachhochschulreife an, die ich schlussendlich verpasste, was zu meinem Schulwechsel an die Gesamtschule führte.
      Einige bezeichneten unser Team als Intellektuellenmannschaft. Deshalb sahen wir die Austragung des Spiels in Eidertal-Molfsee, südwestlich von Kiel, dementsprechend kritisch. Ich will den Verein TSV Eidertal nicht schlecht reden, aber diese Mannschaft aus Kreis Rendsburg-Eckernförde war das, was wir abwertend als Bauerntruppe bezeichneten, nicht nur von der Spielweise, sondern auch von der Denke. Jedenfalls sagte der Schiri, er würde das Spiel pünktlich zur angesetzten Anstoßzeit anpfeifen. Es würde keinen Spielabbruch wegen Regen geben. Es sollten die gleichen Maßstäbe gelten, wie zu jedem anderen Spieltag. Der Schiri gehörte zu der Spezies, die in Tschernobyl keine Gefahr sah und nicht an radioaktiven Regen glaubte. Also zogen wir uns um – bis auf Harry. Harry stand später am Spielfeldrand in der Nähe der Umkleidekabinen. So hätte er sich schnell in Sicherheit bringen können, wenn die ersten Regentropfen fielen.
Das Spiel verlief bei unserer Mannschaft sehr unruhig. Ob das auch bei TSV Eidertal der Fall war, kann ich nicht beurteilen, denn ich kannte die Truppe nicht. Es standen auch ein paar Zuschauer direkt am Spielfeldrand, allerdings deutlich weniger, als drei Jahre zuvor, als sie dort als Jungschiedsrichter pfeifen musste. Bloß dass diesmal nicht gepöbelt wurde, und niemand wollte mir an die Wäsche. Es kann sein, dass einige Zuschauer mich wiedererkannten, auch wenn ich aktuell deutlich längere Haare hatte. Die wenigen Zuschauer blieben ruhig. Nur die gegnerischen Spieler wirkten sehr kibig und hartnäckig. Das Spiel endete schließlich 2:2 unentschieden. Es brachte keinen Spaß, unter diesen Voraussetzungen zu spielen, da die ständige Angst mitspielte, dass es tatsächlich regnen könnte. Ich habe nie wieder ein Spiel erlebt, bei dem wir so sehr auf die Wetterbedingungen geachtet haben. Immer wieder blickten wir in den Himmel, um abzuschätzen, ob Regen drohte. Zwischendurch gab es mehrmals Fehlalarm:
      „Ich glaube, ich habe einen Tropfen abbekommen.“
      „Ich bisher nicht.“
Eidertal hatte einen recht guten Fußballplatz, der von Knicks umgeben war. Hinter der rechten Spielfeldseite und hinter dem gegenüberliegenden Tor befanden sich gepflügte Äcker. Die Zuschauer standen zumeist auf der linken Seite vor einem Knick und ziemlich nah am Spielfeldrand. Die Duschen und Umkleidekabinen waren eine Katastrophe. Ich kann mich an Spiele dort erinnern, nach denen wir nicht einmal duschen konnten oder die Duschen kalt waren.
In der Halbzeitpause war wieder Stress angesagt. Wir stritten weiter, was geschehen sollte, würde es zu regnen beginnen. Wir waren da wirklich gespalten. Zum Glück hat es an diesen Tag nicht mehr geregnet. Aber es sollten ja noch weitere Spiele in der unmittelbaren Nach-Tschernobyl-Zeit folgen.
Die Nachrichten kamen Schlag auf Schlag: belastete Milch, endlos lange Zugkontainer voll mit radioaktivem Molkepulver, keine Pilze mehr essen, Vorsicht in der Sandkiste, keine Wäsche raushängen, Regenschutzkleidung und Regenschirme tragen, Jodtabletten ausverkauft, und so weiter.
Jahre später hieß ist, die Evakuierung der Stadt Pripjat nahe Tschernobyl soll in gleicher Panik verlaufen sein wie die in 1941, als die Deutschen kamen.
Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl fiel genau in die Phase der schriftlichen Abiturprüfung. Ich hätte in dem Jahr auch Abi gemacht, wenn ich nicht zwei Jahre vorher bereits sitzen geblieben wäre. Mir tut jeder sensible Mensch leid, der wegen Tschernobyl durchs Abi geflogen ist oder eine schlechtere Note erhalten hat, besonders in Fächern wie Bio und Physik. Die Schülerschaft war immer schon gespalten in Atomkraftbefürworter und -gegner, wahrscheinlich auch die Lehrerschaft.
      Mein Schulzeugnis für die 12. Klasse wurde am 19.06.1986 ausgestellt, also knapp zwei Monate nach Tschernobyl. Ich erreichte die Fachhochschulreife nicht. Mir fehlte ein rettender Punkt im Bio-Leistungskurs, Thema Ökologie. Nach den Bio-Klausuren stand ich glatt auf vier Punkten. Das galt als Vierminus. Der Lehrer gab mir die Chance mich mündlich während des laufenden Unterrichts prüfen zu lassen, was mir ohnehin Spanisch vorkam. Ich sah bei dieser Prüfung nicht sonderlich schlecht aus, als es darum ging, unvorbereitet ein Diagramm zu analysieren und zu interpretieren. In dem Diagramm war eine Problematik aus der Ökologie dargestellt, ein maritimes Ökosystem, das von bestimmten Faktoren beeinflusst wurde. Ich sagte etwas dazu, erklärte Einzelheiten, beantwortete Fragen, ohne dass mir ein gravierender Fehler unterlief, so mein Eindruck. Ich war der Meinung, mir sei der mündliche Test ganz gut gelungen. Doch das war ein Irrtum. Der Lehrer hatte mir diese Chance eingeräumt, um von den vier Punkten runterzukommen. Es ist mir schleierhaft, weshalb ich am Ende das Klassenziel nicht erreichte. Und auch noch bei dem brandaktuellen Thema Ökologie, als wollte der Bio- und Klassenlehrer einen Selbstmord triggern. Ich hätte diesen einen Punkt verdient gehabt aufgrund der Umstände, weil wir in der akuten Phase nach Tschernobyl waren, zumal ich genau das tat, was der Bio-Lehrer von mir verlangte, das Diagramm interpretieren und die Fragen des Lehrers beantworten. Aber wahrscheinlich hatte der Bio-Lehrer einen Dachschaden durch die Reaktorkatastrophe und vom Frustsaufen.
      In den folgenden Wochen stieg die Verunsicherung in der Bevölkerung, denn es kamen immer mehr Details zur Reaktorkatastrophe ans Licht. Wir sprachen in der Schule kaum darüber, als hätte es einen Maulkorberlass gegeben. Die Tagesschau und die Heute-Sendung starteten täglich mit einem umfangreichen Nachrichtenblock über Tschernobyl mit den neuesten Berichten über das Katastrophenmanagement und alle weiteren Nachwirkungen. Es gab für Bayern andere Warnungen als für den Norden. Es folgte Hiobsbotschaft auf Hiobsbotschaft und niemand konnte abschätzen wie sehr Mitteleuropa wirklich betroffen war. Am meisten redeten wir beim Fußball über Tschernobyl, denn alle waren verunsichert, wie wir uns bei Regen im Training und in den Punktspielen verhalten sollten. Wir brauchen das Training mehrmals bei aufkommenden Regen ab. Teils joggten die Spieler in die Kabine, teils sprinten sie sogar aus Angst vor radioaktivem Regen. In der Schule gab es, wenn überhaupt, frustriert abwertende Statements, als schickte es sich nicht, sachlich über den Atomunfall zu diskutieren. Wie denn auch? Nach wie vor war die Nachrichtenlage prekär und die Atom-Lobby unter den Lehrern und Schülern sah ihre Pro-Atomkraft-Argumente gefährdet.
An unserer Schule kam es am Ende dieses Schuljahres zu einer riesen Fotosession, die jedoch nicht in den Klassenräumen stattfand, sondern draußen. Jede Klasse und jeder Oberstufenkurs sollte jetzt für Klassenfotos im Park der Schule fotografiert werden. Mit den Fotos sollte später ein kostenpflichtiges Fotobuch herausgebracht werden. Das ging alles recht fix. Ich sah auf dem Foto sehr frustriert aus, ja sogar depressiv und wandte mein Gesicht leicht von der Kamera ab. Zu der Zeit hatte mein Klassenlehrer mir bereits offenbart, dass ich in Bio das Klassenziel nicht erreicht habe und trotz der mündlichen Nachprüfung nur 4 Punkte erhalten würde. An dem Tag, an dem er mir das mitteilte, machten wir mit unserem Bio-Leistungskurs statt der Doppelstunde Bio einen Spaziergang runter zum Wasser Richtung Brücke Bellevue. Niemand wusste von meinem Dilemma, niemand unterhielt sich mit mir. Als ich am Ende des Schuljahres mein Zeugnis erhielt, das besagte, dass ich die Fachhochschulreife verpasst habe, ging ich sofort zur Gesamtschule in Friedrichsort, meldete mich dort für das kommende Schuljahr 86/87 an, ging danach wieder zu meiner alten Schule und teilte meinem Klassenlehrer, dem Biolehrer, meinen Schulwechsel mit. Ich war mir nie einer Entscheidung so sicher, als ich meiner alten Schule den Rücken zukehrte.
Ich überreichte meinem Klassenlehrer das Schreiben, dass meinen Schulwechsel ankündigte. Er nahm es ohne ein Wort entgegen und wünschte mir auch kein Glück oder Erfolg an der neuen Schule.
Ich fuhr zu der Zeit sehr häufig in die Diskotheken in der Bergstraße, meistens ins DNA, saß sehr diszipliniert am Tresen und versuchte mich in der Disco über den neuesten Stand der Reaktorkatastrophe zu informieren, denn wir wussten bald nicht mehr, was und woran wir glauben sollten. Doch so schnell war der Spuk nicht vorüber.
Es war durch die Reihe Frustsaufen angesagt. Auch beim Fußball fehlte eine Weile die Freude. Ich bin mir sicher, dass ich spätestens in der Zeit nach Tschernobyl zum Alkoholiker wurde und mir die Gesundheit ruinierte. Die Ärztin offenbarte mir bald, dass mit meinen Leberwerten etwas nicht stimmte. Ich solle den Alkoholkonsum deutlich reduzieren und dürfe am Abend maximal sechs kleine Biere trinken.
Im Nachfeld der Tschernobyl-Katastrophe kam ein Punk-Sampler auf den Markt, “CHERNOBYL – Endless Tragedy“. Als ich von dem Sampler erfuhr, war mir klar, dass ich den unbedingt haben musste. Darauf waren nicht nur Punksongs von Propagandhi, Schwartzeneggar, Jello Biafra & Mojo Nixon sowie mehrere Redebeiträge von Künstlern und Wissenschaftlern. Ich fragte bei Blitz-Records in Kiel, ich fragte bei Läden in Berlin. Doch es sollten ein paar Jahre vergehen, bis ich den Sampler endlich gebraucht erwerben konnte.








Die Friedenswerkstatt am Exer

Als mir klar war, dass ich verweigern würde, wurde mir empfohlen, mich in der Friedenswerkstatt am Exer beraten zu lassen. Ich habe keinen blassen Schimmer, wer das anregte, vermutlich jemand aus dem Sportverein oder der Punkszene, denn von der Schule konntest du so etwas nicht erwarten. Ich schaffte es, nüchtern in das kleine Büro auf dem Hinterhof zu gehen und war verunsichert, da ich nicht wusste, was mich dort erwarten würde. Es waren tatsächlich Althippies, die in den Räumlichkeiten eine Handvoll verweigerungswillige Teenager beraten wollten. Die Friedenswerkstatt war sehr gut ausgestattet mit Infomaterial, entweder als DIN A4-Infoblätter oder kleine kopierte DIN A5-Broschüren mit ungefähr 16 Seiten. Diese Broschüren waren nur ansatzweise vergleichbar mit den Fanzines der Punkszene, denn Fanzines waren punkig-chaotisch auf die Geschmäcker der Punkszene ausgerichtet. Das konntest du von den pragmatisch-informativen Blättern und Broschüren der Friedensbewegung nicht behaupten. Die wirkten eher wie geordnete professionelle Printprodukte, hatten jedoch keinen Humor, kein Esprit, kein mitreißendes Design und keine geschnippelten Collagen. Vieles war für mich unlesbar. Die Texte wimmelten nur so von Polit-Jargon, die mich eher abschreckten, als dass sie die Hoffnung vermittelten, unbeschadet durch den Zivildienst zu kommen. Ich hatte Angst von den Polit-Hippies indoktriniert zu werden. Mit der Spezies Hippies hatte ich doch schon genug Probleme am besetzten Haus Sopienhof und an der Alten Sattlerei, das Headquarter der Friedrichsorter Hippie Kommune. Außerdem kamen mehrere Lehrer der Gesamtschule aus der linksalternativen Hippie-Szene.
      Bei meinen Besuchen mittwochabends in der Friedenswerkstatt am Exer standen immer Kaffeebecher und Kannen mit Heißgetränken bereit. Notfalls wurde eine frische Kanne Hagebutten- oder Pfefferminztee aufgesetzt. Kriege gab es auch damals schon reichlich auf der Welt, da musste ich nicht unbedingt mitmischen. Außerdem hatte ich immer noch mein Alkoholproblem und vergleichbare Nachlässigkeiten und Schwachstellen, und plante trotz schlechter Noten demnächst das Abi zu absolvieren. Jetzt musste ich obendrein eine Verweigerung formulieren, in der ich glaubhaft darlegen musste, was dagegen spricht zum Uniformträger zu werden.
      Ich wusste ja, dass $abrinas Schäferhund Leik alle Uniformträger ankläffte, ja sogar an gespannter Leine die Zähne fletschte und in Richtung Uniformierte schnappte. Das kann nur ein gesunder Instinkt des Hundes gewesen sein. Langsam dämmerte es: Die einzige Uniform, die ich jemals mit Stolz tragen würde, wäre die Karate-Uniform.
Ich erfuhr jetzt Mittwoch für Mittwoch zwischen 18 und 20 Uhr alles über die Geschichte der Kriegsdienstverweigerung oder Wehrdienstverweigerung, wie es synonym an anderer Stelle hieß. Uns wurde der Unterschied verklickert zwischen Totalverweigerung und Wehrdienstverweigerung, die Sanktionen, die bei einer Verweigerung nach Antritt des Wehrdienstes drohten. Uns wurde berichtet von Kriegsdienstverweigerung im Dritten Reich, was mit dem sofortigen Tod geahndet werden konnte, blutige Verweigererschicksale mit Horrorshow Strafen wie Erschießungskommandos, religiöse Gründe und politische Gründe, die nicht akzeptiert wurden und schließlich die Verweigerung aus Gewissensgründen, die für uns, die Kids of the 80s, in Frage kam. Begriffe wie Drückeberger, Wehrkraftzersetzer, Desertation, zivile Verteidigung, ziviler Widerstand, ziviler Ungehorsam, Tyrannenmord und Gewissensprüfung wurden uns zurecht eingeimpft, und wir konnten jetzt damit jonglieren. Bis in die 70er hinein waren Pseudo-Gerichtsverhandlungen mit Fangfragen für die Verweigerer obligatorisch, bis stattdessen schlussendlich schriftliche Verweigerungen akzeptiert wurden. Bis dahin hieß es in Fangfragen:
      „Was würden Sie tun, wenn Sie als Verweigerer aus Gewissensgründen in den Wald gehen und sehen wie ein russischer Soldat ihre Mutter vergewaltigt. Vor Ihnen liegt die Kalaschnikow des Russen?“
      „Ich würde die Waffe nehmen und den Russen erschießen!"
Wer diese Fangfrage so beantwortete, fiel durch die Gewissensprüfung und musste zum Militär. Zum Glück gab es diese Gerichtsverhandlungen inzwischen nicht mehr.
Uns wurde unter anderem ein ziviles Verteidigungskonzept vorgestellt, das angeblich in der Tschechoslowakei eingesetzt wurde. Bei diesem Konzept würden vor dem Einmarsch der feindlichen Truppen alle Straßenschilder und Verkehrsschilder abmontiert, damit der Feind sich in der Stadt nicht mehr orientieren konnte und so auf massive Probleme stieß. Zusätzlich würden  weiße Fahnen aus den Fenstern gehängen.
Es wurde diskutiert, ob es nicht besser sei, angesichts der Übermacht eines Aggressors sofort landesweit die weißen Fahnen rauszuhängen. So könnten Mord und Zerstörung verhindert werden. Ein weiteres großes Thema war das Konzept des Tyrannenmordes, das legitim sei, sobald eine Führer*in sich Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig machte oder Angriffskrieg plante. Das Konzept des Mordkomplotts gegen einen Tyrannen wirkte zunächst etwas beschämend, und es schoss mir durch den Kopf:
      „Das ist doch lächerlich. Wer den Führer abknallt, stirbt doch selbst Sekunden später im Kugelhagel. Wer will das schon? Das ist doch Selbstmord. Außerdem kriegt doch jeder, der hier solche Mordpläne ernsthaft propagiert von Vater Staat etwas auf den Deckel.“
Der Mitarbeiter der Friedenswerkstatt beteuerte, es gehe darum, größeres Übel zu verhindern, indem ein Diktator rechtzeitig aus dem Verkehr gezogen wird. Dies müsse geschehen, sobald absehbar war, dass der Diktator Verbrechen, Kriege und Killings plante. Es wurde diskutiert, wer einen Tyrannen umbringen könnte, denn nicht jeder kommt an ihn heran, da er mitunter von seinen Schergen und Sicherheitsleuten abgeschirmt war. Und nicht jeder, der als Tyrann oder Diktator betrachtet wird, ist gleich ein Massenmörder oder Kriegstreiber. Als Paradebeispiele dienten immer wieder die Anschläge auf Adolf Hitler, die alle zurecht für legitim hielten, keine Frage, ja sogar für unausweichlich. Zu der Zeit meiner Verweigerung fiel immer wieder der Name des ugandischen Herrschers, Bloody Idi Amin, als Paradebeispiel eines afrikanischen Diktators. Gespaltener Meinung waren alle beim Anschlag auf Ronald Reagan. Der Mann trieb zwar das SDI Weltraumverteidigungsprogramm und die Atomaufrüstung mit Pershings und Cruise Missiles voran und war verantwortlich für die Iran-Contra Affäre. Jedoch galt Ronald Reagan bei vielen als ganz normaler US-Präsident ohne Makel.
      In der Friedenswerkstatt standen mehrere Ordner mit Verweigerungsschreiben mit geschwärzten Namen der Verfasser. Ich hätte jetzt am liebsten laut Punkrock in der Friedenswerkstatt gehört, die Füße auf den Tisch gelegt, mit meinen alten Punkkumpels Alkohol getrunken, ein Zigarettchen geraucht und mich herrlich daneben benommen. Diese Gefühle löste das Ambiente der Friedenswerkstatt in mir aus mit Anti-Kriegs-Postern an den Wänden und überzeugenden Anti-Kriegs- und Friedensparolen. Der moderne Punkrock sprach sich in seinen Lyrics ohnehin klar gegen den Krieg aus, ob "Warhead", "The Final Bloodbath", “Tin Soldier“, “Bombs of Peace", "Chemical Warfare", "Last Rockers“, „ABC-Alarm“ oder "Army Life". Inzwischen gab es Tausende von Songs aus der 80er-Punk- und sogar Metal-Szene, welche die Sinnlosigkeit des Krieges anprangerten. Leider gab es eine ganze Reihe von Songs, die eher wie Kriegsverherrlichung wirkten, besonders in den verschiedenen Subgenres der Metal-Szene, und deshalb keine Antikriegslieder waren, sondern Kriegslieder.
     Jetzt taten mir die Verfasser der Verweigerungstexte leid, als die Kopien dieser privaten Verweigerungen an uns junge Leute verteilt wurden, damit wir sie durchlesen konnten. Wir sollten uns ein Bild machen, wie wir die eigenen Texte formulieren müssten. Einige der Verweigerungen wurden im Kreise der angehenden Zivis verlesen, bis wir wussten was zu tun sei. Wir wurden auf allerlei Fettnäpfchen hingewiesen. Mehrere der Besucher der Friedenswerkstatt waren unentschlossen, ob sie nicht gleich totalverweigern sollten, was einen Knastaufenthalt zur Folge haben würde.
      „Die Leute verbauen sich ihr Leben, sind vorbestraft und ecken überall an.“
      „Das wäre mir egal. Auch Zivis sind Teil des militärischen Komplexes und müssen im Ernstfall sogar Blindgänger entschärfen.“
      „Das habe ich auch schon gehört.“
Bei diesen zwei Themen, Zivis im Kriegsfall und Totalverweigerung breitete sich grundsätzlich immer Depression aus. Du hörtest Worte der Verzweiflung und Frustration über das System.
Schließlich setzte ich mich an die Schreibmaschine meines Vaters, musste bei jedem gravierenden Tippfehler neues Schreibpapier einspannen, bis ich endlich die vier Seiten Verweigerungstext mit über 1500 Wörtern fertig gestellt hatte.
      Zu der Zeit als ich die Verweigerung schrieb hatte ich wieder massiver Probleme in der Schule. Dennoch schaffte ich es, das Schreiben in den Wochen vor meinem Abi ’88 fertigzutippen und einzureichen. Das war ein ziemlicher Kraftakt. Ein paar Monate nach dem Abi, im August, kam schließlich das Anerkennungsschreiben. In dem Schreiben vom Bundesamt für den Zivildienst hieß es:

„Auf Ihren Antrag vom 13.04.88, festzustellen, daß Sie zur Verweigerung des Kriegsdienstes mit der Waffe berechtigt sind, ergeht folgender Bescheid:
Sie sind berechtigt den Kriegsdienst mit der Waffe zu verweigern. Dieser Bescheid ist unanfechtbar.“

Erleichterung machte sich breit. Ich ging gleich einen Saufen und hing für Monate an der Flasche und rauchte riesen Tüten. Mehrere Mannschaftskollegen vom Fußball, die ebenfalls zu verweigern planten, sich jedoch nicht in die f*cking Friedenswerkstatt trauten, entliehen sich meine Verweigerung und kopierten sie einfach. Daraufhin kursierte meine f*cking Verweigerung im ganzen Stadtteil, was ich nicht korrekt fand. Immerhin war mein Name in Verbindung mit den Gewissensgründen auf dem Papier zu lesen. Daran hätten sich Behörden wie das Kreiswehrersatzamt stoßen können, wenn später nicht mehr eindeutig erkennbar gewesen wäre, wer der Urheber der Verweigerung war. Wohlmöglich hätte mir der Vorwurf des Abschreibens oder des Plagiats gemacht werden können. Ich hatte Angst vor Strafe und hakte bei meinen Teamkollegen noch mal nach.
      „Sag mal hast du den Text etwa wortwörtlich übernommen?“
      „Das weißt du doch nicht!“







Horrortrip nach Berlin

Ich muss mindestens dreimal mit $abrina in Berlin gewesen sein, vielleicht war es auch viermal. Zwei- oder dreimal fuhren wir mit der Mitfahrzentrale, einmal nahm uns ihre Mutter mit, die gebürtige Berlinerin ist und ehemalige Deutsche Meisterin im Kunstradfahren. $abrinas Schäferhund saß mit im beige-grauen Volvo und hechelte erwartungsfroh. Bei unseren Trips via Mitfahrzentrale trampten wir jedes Mal auf dem Rückweg ab Trampstelle Reinickendorf. Theoretisch hätten wir bereits auf der Hinfahrt trampen und uns am Gewerbegebiet Wellsee an die Bundesstraße stellen können. Doch da fuhren uns zu viele Acer und Autoposer, was Probleme hätte erzeugen können.
Auf einem unserer Berlin-Trips war Heimerich dabei. Wenn $abrina bei den Touren via Mitfahrzentrale Sause, den wir sehr schätzten, ihren Hund Leik dabei hatte, stand auf dem Vermittlungsschein mit den Daten zur Fahrt der Vermerk „Dog“, womit dokumentiert war, dass sie einen Hund mitführte. Die Mitfahrzentrale befand sich zu der Zeit im Königsweg zwischen der Kampfsportschule Tangun und den Hehlerläden, bevor sie zum Sophienblatt umzog.
      Wenige Wochen nach meinem Abi wollten wir zu dritt nach Berlin. Also buchten $abrina, Heimerich und ich die Fahrt bei der Mitfahrzentrale Sause. Ein freundlicher Iraner nahm uns mit, der gute Laune ausstrahlte. Während der Fahrt lief das Radio. Als wir mitten auf der Transitstrecke waren, kam im Radio eine Sondermeldung.
      „Ein Passagierflugzeug der Fluggesellschaft Iran Air ist über der Straße von Hormus abgestürzt.“
In kurzen Abständen folgten weitere Meldungen. Das Flugzeug sei irrtümlich von einer Rakete getroffen worden, die ein US-Marine Kreuzer vom Persischen Golf aus abgeschossen hatte. Der Fahrer geriet in Verzweiflung und fluchte fortwährend über die Amerikaner, sodass sich unsere Mägen umdrehten. Er griff sich in seiner Verzweiflung immer wieder an den Kopf, schlug fast gegen seine Stirn und ließ den Emotionen freien Lauf. Jetzt schlug er mehrmals mit beiden Händen gleichzeitig aufs Steuerrad, sodass wir einen Schreck bekamen. Wir drei Mitfahrer sahen uns schweigend und betroffen an. Allmählich bekamen wir Angst, der Fahrer könne wegen der Hiobsbotschaft ausflippen und die Kontrolle über das Fahrzeug verlieren oder es absichtlich in einen Unfall steuern. Das geschah an einem Sonntag, am 3. Juli 1988, also nur wenige Wochen nach meinem Abi.
     Einen weiteren bemerkenswerten Berlintrip unternahm $abrina mit mir ’88 noch vor meinem Abi. Vielleicht war es sogar ’87. $abrina trug eine Jeans, ihre schwarzen 8-Loch-Docs, eine Jeansjacke mit Leopardenstoff auf den Schultern sowie eine Leoparden-Schiebermütze.
Ich trug zwar Boots, aber keine Docs, wie ich auf den Fotos später erkennen konnte. Auf der Hinfahrt trug ich keinen Hut und hatte auch gar keinen mitgenommen. Doch wir nahmen uns vor, gleich am ersten Tag in die Kilo-Boutique Garage in der Einemstraße nahe dem Straßenstrich zu gehen. Hier kaufte ich mir während des Berlin-Trips tatsächlich einen Herrenhut, den ich für die restliche Fahrt aufbehielt. Ich kann euch sagen, es wurde ein ziemlicher Horrortrip.
      Auf dieser Tour pickte uns zunächst ein Pärchen mit ihrem Passat Variant an der Mitfahrzentrale Sause auf. Herr Sause wünschte eine gute Fahrt. Als die Grenzsoldaten hinter Gudow in Zarrentin unsere Reisepässe turnusmäßig einkassierten, die aufs Fließband gelegt werden sollten, wurden das Auto plötzlich aus der Schlange gewunken und musste direkt neben die Fahrbahn parken. Ein Grenzsoldat stellte die Ostversion der Lübecker Hütchen um das Auto herum, sodass wir nicht weiter konnten. Hier wurden wir jetzt eine Dreiviertelstunde festgehalten. Das war pure Schikane. Wir hatten eine Höllenangst und wurden immer unruhiger. Schließlich kam ein Grenzsoldat und gab uns die vier Reisepässe zurück. Er sagte
      „Das Auto hat einen Achsenbruch. Damit lassen wir sie nicht über die Transitstrecke der DDR.“
      „Mit dem Auto ist doch alles okay?“
sagte der beunruhigte Fahrer.
      „Nein, es hat ein Achsenbruch. Damit kommen sie nicht weiter. Das ist zu gefährlich.“
Der Grenzsoldat blieb hart. Wir konnten es gar nicht fassen. Also mussten wir wenden und über die Brücke zurück auf die andere Seite der Raststätte Richtung Hamburg.
Wir waren doch komplikationslos von Kiel bis zum Grenzübergang gefahren. Von der Telefonzelle riefen wir den ADAC, der kurze Zeit später eintraf. Der Mechaniker checkte das Auto und sagte
      „Also. Ich kann hier keinen Achsenbruch feststellen. Das Auto ist vollkommen intakt.“
Da waren wir extrem baff und verunsichert.
      „Und was machen wir jetzt?“
      „Also ich habe ein mulmiges Gefühl.“
      „Sollen wir es noch mal versuchen?“
      „Wenn die uns wieder stoppen und nicht rüber fahren lassen? Was machen wir denn dann?“
Schließlich entschieden wir uns für einen zweiten Versuch.
Diesmal kamen wir in einem Rutsch durch. Wir erhielten unsere Reisepässe zurück und durften einfach weiterfahren.
      „Das ist ja irre.“
      „Hatten die inzwischen Wachablösung?“
    „Also der Grenzsoldat von vorhin hätte uns garantiert nicht durchgelassen.“
Erleichtert fuhren wir die Transitstrecke bis nach Berlin. Das Pärchen ließ uns irgendwo im Zentrum raus, und wir fuhren mit der U7 nach Neukölln.
$abrinas Cousin Ritchie wohnte in der Elbestraße. Er machte für ein paar Tage Urlaub und hatte uns die Wohnung überlassen. Als wir in die Küche kamen, stand die ganze Spüle voll Abwasch, und Pilzkulturen wucherten auf dem Geschirr.
      „Igitt, der hätte wenigstens abwaschen können.“
Es war ein wirklich abgefahrener Trip. Wir machten einen riesen Kneipenbummel durch Westberlin und landeten in unzähligen abgefuckten Kneipen und in mehreren Discos. Am frühen Abend hatten wir einen Fahrer gefunden, der uns durch Berlin schipperte, mit dem wir sogar einen Punk von der Grenze abholten, der gerade frisch aus der DDR ausgebürgert wurde. Der sah aus wie Jeffrey Lee-Pierce und saß die ganze Zeit mit auf der Rückbank ohne auch nur ein Wort zu sagen. Wir saßen zu viert im Auto und zogen anfangs zu viert durch Kneipen und Bars. Am späten Abend waren nur  $abrina und ich übrig, und wir mussten uns alleine durchs westberliner Nachtleben schlagen. Wir landeten in einer Disco. Diese wirkte wie ein Sparring beim Boxen. Ich kann mich an eine Bar erinnern, in der nur Typen waren, alle mit alten Anzügen, Hemden und Boots. Wenn tatsächlich ein paar Frauen darunter waren, so waren die sehr maskulin gestylt und auf den ersten Blick nicht als Frauen zu erkennen.
Am nächsten Morgen fuhren wir nach dem Frühstück mit der U-Bahn nach Kreuzberg. Hier besuchten wir einen von $abrinas alten Kumpels, der am Görlitzer Park im Parterre eines Altbaus wohnte. Es war der letzte Wohnblock in der Görlitzer Straße zwischen Cuvrystraße und Görlitzer Ufer. Der Punk war tatsächlich zu Hause. Wir saßen im Wohnzimmer, in dem er ein Motorrad stehen hatte, an dem er sporadisch bastelte. Das Wohnzimmer roch deshalb pervers nach Werkstatt, Öl und Benzin. Auf dem Dielenboden vor dem Motorrad lagen ein paar Einzelteile und Werkzeug. Wir bekamen einen starken Kaffee serviert und hörten zum Start in den Tag leichte Unterhaltungsmusik, die “Swordfishtrombones“ von Tom Waits und „Fünf auf der nach oben offenen Richterskala“ von Einstürzende Neubauten. Später besuchten wir weitere Leute, die $abrina auf früheren Berlin-Trips während ihrer harten Punkzeit noch mit Iro kennengelernt hatte.
      Das war eine wirklich abgefahrene Atmosphäre in der Endphase des geteilten Berlin. Überall fuhren Transporter mit der Aufschrift Betondemontagetechnik durch die Straßen. Wir freuten uns jedes Mal
      „Guck mal, da kommt wieder die Betondemontagetechnik!“
      „Ja, tatsächlich.“
      „Geil.“
Am nächsten Tag fuhren wir nach Ostberlin. Bevor es los ging, schoss ich von $abrina ein Foto auf der Toilette sitzend, als sie sich dort im Stadtmagazin Zitty festgelesen hatte. Wir nahmen den Rucksack von $abrinas Cousin mit, der ein bisschen was mit Shit zu tun hatte. Wir verließen die U-Bahn an der Haltestelle Friedrichstraße und mussten durch die Grenzkontrollen im Tränenpalast. Dort zeigten wir unsere Reisepässe vor, wurden kurz durchgecheckt und mussten schließlich die Taschen leeren. Die BW-Rucksäcke wurden einer besonderen Kontrolle unterzogen. Der verwaschene olivgrüne Rucksack von Ritch war natürlich ein Risiko, denn es befanden sich Müllreste in den Seitentaschen. Der Grenzsoldat checkte Ritchies Rucksack, zog plötzlich etwas aus einer Seitentasche. Der Uniformträger hielt das Piece gegen das Licht und betrachtete es. Da bekam ich schon einen riesen Bammel, denn dieses Teil sah aus wie die Dope-Stücke, die die Dealer in der Bergstraße vertickten.
      „So was ist das denn hier?“
Ich spürte aufsteigende Hitze, bis der Grenzsoldat Entwarnung gab.
      „Okay, das ist nur eine Apfelbietze.“
      „Puuuh.“
Wir waren erleichtert.
Jetzt waren wir durch die Grenzkontrolle, verließen das Gebäude und blickten in den Himmel Ostberlins. Es war alles so anders hier in Ostberlin. Zunächst gingen wir schnellen Schrittes zu Fuß Richtung Brandenburger Tor, das wir von der Ostseite sehen und fotografieren wollten. Wir planten möglichst nahe ran zu gehen. Wir eierten etwas um die Häuserblöcke. Auf dem Weg fanden wir nahe dem Grenzstreifen eine pissgelbe Telefonzelle, taten so, als würden wir telefonieren und posten mit obszönen Gesten, auch mit der Onaniergeste auf Hüfthöhe. Wir schossen gegenseitig Fotos. $abrina fotografierte mich beim Wildpinkeln. Als wir nahestmöglich auf der Ostseite am Brandenburger Tor standen, schossen wir weitere Fotos und hatten Angst, von der Grenzpolizei unterbrochen zu werden. Bei dem Shooting zeigte $abrina mir den Vogel mit dem Brandenburger Tor und Grenzsoldaten im Hintergrund. Das war schon ein ziemlicher Thrill. Danach gingen wir zurück Richtung Friedrichstraße, der Straße wohlbemerkt und nicht dem Grenzübergang, und wollten weiter in Richtung Campus der Humboldt-Uni. Aus irgendeinem Grund war ich der Überzeugung, dass es dort die besten Kneipen und Cafés geben müsste, da sich da das Ost-Berliner studentenmilieu rumtreiben müsste. Allerdings hatten wir nicht wirklich die Orientierung, denn das Hauptgebäude der Humboldt-Uni befand sich ein Stück weiter runter Unter den Linden in Richtung Berliner Dom. Wir jedoch gingen die Friedrichstraße hoch in Richtung Oranienburger. Auf halber Strecke stoppte plötzlich schräg vor uns links neben dem Straßenrand ein pissgelber Wartburg. Zwei Personen stiegen aus, die uns den Weg versperrten und unsere Reisepässe forderten. Da schlackerten wir schon mit den Beinen. Wir blieben ruhig und händigten den zwei Schergen die Reisepässe aus. Jetzt wurden wir erneut für eine Weile festgehalten. Das dauerte ungefähr eine halbe Stunde, die wir als halbe Ewigkeit empfanden. Der eine trug einen 70er Fu Manchu Hufeisenschnurrbart, also ein Acerbart, der als typischer Bart bei die Stasi galt. Der Scherge stand direkt vor uns und blockierte den Weg. Er sprach kein Wort. Auch wir sagten nichts. Wir standen einfach nur da auf dem Bürgersteig, zitterten und durften nicht weiter. Der andere Scherge stieg in den pissgelben Wartburg und betätigte das Funkgerät. Er gab unsere Daten durch, damit sie festgehalten und überprüft werden konnten. Dessen waren wir uns sicher, auch wenn wir den Funkverkehr nicht hörten. Es war kaum Verkehr auf der Friedrichsstraße. Sie wirkte hier eher wie eine Dorfstraße.
      Nach einer gefühlten Ewigkeit bekamen wir die Reisepässe zurück und durften weitergehen. Die zwei Schergen waren ernst, unfreundlich und absolut humorlos. Der pissgelbe Wartburg fuhr geradeaus weiter, und als er nicht mehr in Sichtweite war, fingen wir erst wieder an zu sprechen.
      „Oh Gott, das war die Stasi!“
sagte ich.
      „Gottverdammte Scheiße!“
schrie $abrina in Panik
      „Ich bin total mit den Nerven fertig.“
      „Ja, frag mich mal.“
      „Warum wolltest du denn überhaupt zu dieser scheiß Uni laufen?“
      „Die hätten uns doch so oder so gekrallt.“
Jetzt verlief die Friedrichsstraße über eine Brücke. Kurz davor ging rechts eine Seitenstraße ab, in die wir gut 50 Meter hinein gingen. Es war Am Weidendamm. Hier fühlten wir uns unbeobachtet und sicher. Links von uns verlief die Spree, rechts befand sich ein riesen Gebäude, das auf dem ersten Blick verlassen erschien. Plötzlich fetzten wir uns richtig und schrien uns an. $abrina drehte endlich mal wieder so richtig durch, und es war wieder kurz vor Handgreiflichkeiten. Jetzt blickten wir nach rechts in Richtung oberer Etagen des Altbaus… . Überall standen wie in einem Puppenhäuschen sowjetische Offiziere an den geöffneten Fenstern, alle mit schachtelförmigen Offiziershüten auf den Köpfen. Sie blickten uns schweigend an. Da verstummten wir sofort und starrten aus der Froschperspektive hoch zu den Offizieren der Roten Armee. Diese Situation dauerte fast eine Minute, bis nach und nach jeder einzelne Offizier vom Fenster zurücktrat, sich umdrehte und im Raum verschwand. Das wirkte surreal. Denn das geschah nicht gleichzeitig wie auf Kommando, sondern jeder einzelne Offizier entschied, wann er genug hatte und vom Fenster wegging und somit für uns nicht mehr zu sehen war. Das wirkte subkutan, es ging unter die Haut. Der Spuk war erst vorbei, als der letzte russische Offizier vom Fenster verschwunden war. Da drehten auch wir uns um und gingen zurück zur Friedrichstraße, über die Brücke und weiter hoch in Richtung Oranienburger. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite sichteten wir eine Kneipe. Wir überquerten die Friedrichstraße und gingen in diese Trinkstube, die wir für die nächsten Stunden nicht mehr verließen. Hier war Frustsaufen angesagt. Wir kippten sprichwörtlich ein Bier nach dem anderen, auch Kurze, und versuchten das, was wir eben erlebt hatten, zu verarbeiten. Die Kneipe war voll mit Ostberlinern. Auch viele ältere waren darunter, die sich hier einen reinsoffen. Uns gegenüber stand ein älterer Herr, der immer wieder zu uns rüber blickte, dessen Gesicht sowas von faltenübersät war, wie ich es nie zuvor gesehen hatte. Solche Menschen gab es bei uns nicht. Er beobachtete uns fortwährend und schienen sich zu freuen. Wir trauten uns zunächst nicht, wieder raus auf die Straße zu gehen, da wir Angst hatten, erneut Stress mit der Staatsmacht Ost zu bekommen. Als wir schließlich hackevoll waren, gingen wir die paar Hundert Meter bis fast zur U-Bahn-Station und erneut durch den Tränenpalast. Wir wurden erneut durchgecheckt. Danach fuhren wir zurück nach Neukölln in die Wohnung und waren Fix & Foxy. Es ging überhaupt nichts mehr. Am nächsten Tag ging es zurück nach Kiel.
      $abrina gab beim Trampen alles. Mehrere Herrhausen-Style Anzugträger in Luxuslimousinen drosselten das Tempo wie am Straßenstrich und beugten sich nach rechts. Einige schien zu stören, dass sie einen Macker mit Lederjacke dabei hatte. Das schnallten wir bald per Auge. Deshalb stand ich zuletzt nicht mehr direkt neben $abrina, sondern separat ein paar Meter vor ihr, mal ein paar Meter hinter ihr. Das war immer ein guter Trick, um Autos zum Anhalten zu motivieren, die zwar eine vereinzelte Frau mitgenommen hätten, aber kein Pärchen. Als Typ schnellte ich zum Auto, sobald $abrina die Tür aufriss. So konnten wir versuchen den Fahrer zu überrumpeln, dass wir beide einsteigen durften.
      Wir saßen beide hinten. Der Fahrer saß breitbeinig wie ein Grashüpfer am Steuer. Das Auto roch neuer als neu. Jetzt rasten wir mit der Mega-Limousine mit eingelassenem Merzedes-Stern auf der Kühlerhaube die Transitstrecke entlang bis Gudow. Als wir später von Gudow nicht mehr weg kamen, wir sahen recht geschlaucht aus und liefen teils hektisch duchs Tankstellenrestaurant, um Leute anzuquatschen, mussten wir einen Plan B aushecken. Wir hatten es uns mit den Rastplatzbesucher*innen verscherzt, zumal hier eh nur ältere Oldies but Goldies Rast machten, und schon gar nicht irgendwelche Punk- oder Wave-Style Szene-Gänger, wie es Freitag- oder Sonntagnachmittag der Fall gewesen wäre. Als wir von Gudow nicht mehr los kamen, rief $abrina kurzentschlossen von der Telefonzelle ihren Kumpel Fence in Kiel an, den sie aus ihrer ERROR-Kaffee-Clique kannte, der ein Auto besaß. Fence fuhr sofort los und holte uns in Gudow ab. Ich kannte ihn aus der dark-wave Disco Subway, wo er auch in der Kneipenmannschaft spielte. Während der Fahrt kamen wir immer wieder auf die Sache mit dem Achsenbruch und die Personenkontrolle auf offener Friedrichstraße zu sprechen, als uns die Stasi mit dem f*cking Wartburg stoppte. Zum Glück hatte Fence ein paar Dosen Bier dabei, was unseren Nerven sichtlich gut tat. $abrina bekam wieder richtig rote Wangen, als sei sie Rotkäppchen.
      Nach diesem Horrortrip hat sich meine Beziehung zu $abrina letztendlich nicht mehr stabilisieren können. Wir waren durch den Trip einfach nervlich zu zerrüttet. Hinzu kamen weitere Negativerlebnisse, die eine Fortführung der Partnerschaft unmöglich machten. Es war Schluss mit lustig. Noch vor der Wiedervereinigung war mit unserer Zweisamkeit Schluss, und wir kackten unabhängig voneinander ab.







Stress in der Schilkseer Schwimmhalle

Kurz vor den Abi war der Streit in der Familie so unerträglich, dass meine Eltern mich rauswarfen. Ich verbrachte zunächst ein paar Nächte in Dorf Pries bei meinem Kumpel Pajo, dem Sohn von Pinten-Heide, der Wirtin der „Hansa Pinte“. Pajo wohnte im Haus neben meinen Großeltern in einer  garagengrößen Wohnung. Vielleicht war es tatsächlich ursprünglich eine Garage. Nach ein paar Tagen in der Garagenwohnung kam ich schlussendlich in Dänischenhagen bei $abrina unter, wo ich ein halbes Jahr wohnte und sogar eine Einmalzahlung Sozialhilfe in Höhe von 100 D-Mark vom Sozialamt Dänischenhagen erhielt, die ich als Spende betrachten sollte.
      Ich fuhr jetzt mit $abrina regelmäßig von Dänischenhagen aus in die Schilkseer Schwimmhalle. Wir fuhren meistens früh morgens, da wir uns gut im Griff hatten. Die Bademeister hatten uns von Anfang an auf dem Kieker, da ihnen unsere Frisuren nicht passten. Das Übliche. Wir hatten eine 20er-Karte und fuhren mit dem Fahrrad zum Schwimmen, in Hochphasen fast täglich. Hier wurden wir fast jedesmal von den Bademeistern gemaßregelt oder barsch angefahren, so dass das Schwimmen schon gar keinen Spaß mehr brachte. Es war einfach nur ätzend, was sich die Bademeister aus den Fingern saugten, um uns zu zeigen, dass wir in der Schwimmhalle unerwünscht waren. Es herrschte ein wirklich ätzende Umgangston, nahezu herrisch, und wir wurden mit Blicken gemustert, die hätten töten können. Doch wir hatten Bock auf Sport.
      Die Bademeister waren allesamt städtische Mitarbeiter, die früher bei der Marine gedient hatten, wodurch Ihnen bei der Stadt Kiel, besonders beim Ordnungsamt, alle Türen offen standen. Diese Leute waren zwischenmenschlich asozial, da sie intolerant waren und Menschen, die ihnen nicht passten einfach zur Schnecke machten, drangsalierten und langfristig wegekelten. Diese primitiven Bademeister machten uns klar, dass wir Persona non grata waren. Sie sagten schon mal „Halt’s Maul“ zu den jungen Badegästen und drohten plump. Wir wollten lediglich früh morgens schwimmen gehen, und etwas für die Fitness tun. Doch schon am frühen Morgen waren die Bademeister hasserfüllt, da sie keine gefärbten Haare und rasierten Seiten sehen wollten. Sie erfanden immer wieder Gründe uns zu schickanieren. Sie mochten auch $abrinas Tattoos nicht.
Die durchweg männlichen Bademeister, oder Schwimmmeister, wie es heutzutage heißt, achteten schon gar nicht mehr auf die anderen Badegäste, ob dort Kinder oder alte Leute abgluckerten oder Leute vom Beckenrand oder vom Sprungbrett geschubst wurden. Sie hatten nur uns im Auge und fixierten uns mit Blicken, um einen weitern Grund zu finden, uns zu maßregeln. Sie hatten die Hasskappe auf. Trotz Schwabbelbauch bewegten sie sich wie Arnold Schwarzenegger.
Dies ablehnende Verhalten hattest du nicht nur in Schwimmhallen, auch in einigen Sportvereinen, bei der KVAG, bei der CDU und beim Restaurant Petersen.
Wir überlegtens schon, in Zukunft mit Badekappen schwimmen zu gehen, damit unsere Haare verborgen blieben und somit eine Reizquelle weniger vorhanden war. So könnten uns die Bademeister vielleicht im Wasser nicht sofort als Zielscheiben ihres Hasses identifizieren.
Meistens war etwas mit unseren Tickets nicht ok, so behaupteten sie. Immer wieder weigerten sie sich die Sammelkarten zu akzeptieren. Es hieß,
      „Die Tickets sind nicht mehr gültig. Sie sind längst abgelaufen!“
      „Aber letzte Woche durften wir doch damit schwimmen.“
      „Nein, die sind ab jetzt abgelaufen.“
Es gab zu der Zeit 10er-, 20er- und 30er-Tickets, teils zu unterschiedlichen Tarifen, so auch für Schüler und Studenten, Rentner und ganz normale Sammelkarten.
Die Sammelkarten hatten also ein Verfallsdatum, das im Ermessen der Bademeister lag. Und es war kein Verhandeln mehr möglich, auch kein Draufzahlen, um auf den vollen Preis aufzustocken, was für uns immer noch eine Ersparnis bedeutet hätte.
Sie gaukelten uns vor, die Tickets seien wegen irgendwelcher Stadtstatuten und Hausordnungen nicht mehr gültig, und wir dürften sie nicht mehr verwenden. Als ich schließlich ein Verbot erhielt meine 20er-Karte aufzubrauchen, da auch diese angeblich abgelaufen sei, suchte ich mir einen anderen Tag zum Schwimmen aus, an dem eine andere Person an der Kasse sitzen würde, die von dem Streit um die Tickets nichts wusste. Das war die Alte mit den Brillengläsern wie Korngläser. Also kam ich mit der Karte ein weiteres Mal in die Schwimmhalle. Doch einer der Bademeister vermutete, dass ich immer noch die angeblich ungültige 20er-Karte verwenden könnte, auf der ich auch $abrina abstempeln ließ. Deshalb kontrollierte der f*cking Bademeister nach dem Schwimmen und nach dem Duschen unser Ticket erneut.
      „Ich möchte mal bitte eure Eintrittskarte oder den Stempel für heute sehen.“
Als er feststellte, dass es das gleiche Ticket war, dass ein anderer Bademeister an der Kasse bereits für abgelaufen erklärt hatte, wurde mir Betrug vorgeworfen. Da lernte ich, dass Beschwerden in Kiel nichts brachten, da diese Marine-Mafia, die sich untereinander die besten Jobs zuschanzte, alle unter einer Decke steckten. Es brachte gar keinen Spaß mehr, sodass wir langfristig den Kürzeren zogen, und aufs Schwimmen verzichten mussten, um uns nicht mehr diesen Nachstellungen der Bademeisterheinis aussetzen zu müssen. Es war einfach nur ätzend.
Inzwischen verstand ich mich mit meiner Mutter wieder, die mir ihre alte 10er-Karte für die Schilkseer Schwimmhalle mit ein paar Resteinheiten vermachte. Sie war mit der Karte gerade mal zwei- oder dreimal schwimmen gegangen. Als ich diese Karte jedoch in der Schwimmhalle vorzeigte, gab es erneut Stress, und mir wurde wieder betrügerische Absicht vorgeworfen, denn die Karte wurde als abgelaufen klassifiziert.
      „Und wehe, Du zeigst die Karte bei meiner Kollegin vor und versuchst die gleiche Tour erneut.“
Also gab ich die Karte einvernehmlich an $abrina weiter in der Hoffnung, dass sie damit schwimmen gehen könne.
Es kann sein, dass ich sogar infolge der Sammelkarten-Affäre Hausverbot erhielt, sodass $abrina eine Zeitlang sowieso nur alleine ohne mich in die Schwimmhalle fuhr, bis sie schlussendlich wegen ihrer Tätowierungen oder sonst was rausgeekelt wurde und vorerst auf regelmäßiges Schwimmen verzichten musste. Die Schergen der Schwimmhallengilde hatten gesiegt. Ich fragte mich, wo leben wir denn überhaupt. Aber so ist Deutschland, unfreundlich, intolerant und ablehnend, auch wenn städtische Werbekampagnen der Öffentlichkeit ein anderes Bild zu vermitteln versuchten.
      Die Gerüchte über das uns unterstellte Fehlverhalten wurden wie eine Täterlegende oder Kriminellenvita von Bademeistergeneration zu Bademeistergeneration weitergetragen. Wahrscheinlich sind wir auch abfotografiert worden oder diese Stadtschergen konnten auf bereits bestehende Bilddateien zurückgreifen. Die Rufmordkampagnen in verschiedenen gesellschaftlichen Domänen waren ein typisches Phänomen der 80er. Wer einmal verteufelt war, musste leiden und wurde gedrängt, die Erwartungshaltung zu bestätigen.
Auch ein älterer Bademeister fühlte sich damals von unserer puren Anwesenheit angegriffen. Der Mann mit grauen Haaren versperrte mir sogar mal in der Eingangshalle den Weg und versuchte mich einzuschüchtern:
      „Du siehst so krank aus.“
und meinte damit wahrscheinlich meine Frisur.
      „Häh?“
Hier wurden sogar Studentenausweise aus anderen Bundesländern als Hamburg und Schleswig-Holstein nicht für eine Ermäßigung akzeptiert.
      „Bei uns bekommen nur Studenten aus Schleswig-Holstein und Hamburg Ermäßigung.“
Das war schon ein starkes Stück.
Ein paar Jahre später kam es in dieser Halle zum totalen Show-Down. Es ist besser, wenn ich darüber bis an mein Lebensende schweige, zumal das HV auf Lebenszeit festgesetzt wurde. Nur so viel: Mir wurde erst vorgeworfen, ich würde auf der Ruhigschwimmerbahn zu schnell schwimmen. Später hieß es, ich würde im Schnellschwimmerbereich nicht auf die Ruhigschwimmer achten. Außerdem stieß es auf wenig Gegenliebe, als ich für einen Freund fragte, ob die Duschen behindertengerecht gestaltet sind.
      Und als ich irgendwann versuchte, in Kiel am Rettungsschwimmen der Wasserwacht teilzunehmen, wurde mir erneut die menschliche Kälte dieser Szene bewusst. Jemand erkannte mich, und mir wurde der Laufpass erteilt. Sie fühlten sich als Elite, nur weil sie mal bei der Marine waren, und wer nicht zu ihnen gehörte, wurde platt gemacht und verscheucht. Das war das andere Kiel.







Mannschaftsfahrt in die f*cking DDR

Ich spielte nach wie vor Fußball, auch wenn es in der Kabine nicht nach Schweiß roch, sondern nach Marihuana und Hasch. Es ging sogar zweimal zu Freundschaftsspielen ins Ausland, zuerst nach Manchester zum Mount Villa FC, danach in die DDR zu Traktor Herzberg.
Unser Verein, der SV Friedrichsort, hatte sich unter dem Vereinspräsidenten Jogi Baudax beim DFB für den Deutsch-Deutschen Sportaustausch beworben, der letztendlich per Losentscheid entschieden wurde. Der Baudax war in Personalunion Manager in der Panzerbaufirma, was vielen missfiel und nicht nur mir.
      Da die Spieler aus der Ligamannschaft alle Schiss hatten in die DDR einzureisen, ein Großteil arbeitete in der Rüstungsindustrie, musste das letzte Aufgebot herhalten, um die Ehre des Vereins zu retten. Zu diesem letzten Aufgebot gehörte auch ich. Deshalb rechne ich mir dieses Spiel und das Spiel später gegen die Mannschaft aus Manchester als Ligaeinsätze an.
Doch auch aus meiner Mannschaft hatten mehrere Spieler die Reise gar nicht erst angetreten. Auch sie hatten Angst vor beruflichen Konsequenzen. Das waren zumeist Fußballer, die in unserem Stadtteil im Panzerbaubetrieb tätig waren, zumeist als Ingenieure. Diese Fußballer hatten die Befürchtung, sie könnten von den DDR-Behörden festgehalten und ausgefragt werden. Das fand ich etwas paranoid, aber es entsprach dem Zeitgeist. Einige Vereinsmitglieder behaupteten, sie würden nicht einmal über die Transitstrecken nach Berlin fahren wollen, sondern für diese Fälle ein Flugzeug besteigen. Und das fand ich richtig paranoid.
     Wir sollten auf unserer kleinen DDR-Tour ein Freundschaftspiel absolvieren und als einzige Westmannschaft an einem Turnier mit mehreren DDR-Teams teilnehmen. Electronic Neuruppin war eins der DDR-Teams, gegen die wir während des Turniers spielten. Lang ist's her. Bei mir an der Wand hängt sogar noch der Wimpel von Neuruppin. Heute heißt der Verein MSV Neuruppin.
      Der DFB hatte uns in Absprache mit seinem Counterpart DFV Einladungsschreiben zukommen lassen, die jeder einzelne PKW am Grenzübergang Gudow vorzeigen musste. Wir reisten mit vier oder fünf PKW an, wie bei einem normalen Auswärtsspiel in der Region Kiel. Wir durften komplikationslos einreisen und an der Abfahrt Herzberg die Transitstrecke mir nichts dir nichts eigenmächtig verlassen. Ich hatte einen Stapel Spiegelmagazine dabei, die ich an die DDR-Fußballer verteilen wollte, um sie mit westlichem Gedankengut zu konfrontieren.
Als wir uns auf den Weg in die DDR begaben, nahm ein Mittelfeldspieler eine anständige Menge Dope mit, die er in der Mitte des Lenkrads unter der Abdeckung der Hupe versteckte. Der Fahrer setzte uns erst über das Dope in Kenntnis, als wir bereits im Auto saßen. Als er das Zeug plötzlich im Lenkrad verstaute, kommentierte er das mit den folgenden Worten:
      „Ohne was zu Kiffen fahre ich nicht in die DDR.“
      „Oha, und wenn die das Auto auseinander nehmen?“
      „Wir werden an der Grenze sowieso durchgewunken.“
Sofern ich das als Laie beurteilen kann, waren das bestimmt 15 Gramm Hasch. Einige Autos hatten einen kleinen Biervorrat im Kofferraum, für den Fall, dass es nicht genug gab. Doch es sollte reichlich Bier geben, denn Fußball ist Fußball.  
      Unser Team wurde damals im örtlichen SED-Heim in Herzberg einquartiert, was wir Spieler jedoch erst am Abend kurz vor dem Schlafengehen erfuhren. Das SED-Heim erinnerte in seiner Bauweise und in seiner weißen Schlichtheit stark an das Hermann-Böttcher-Heim in Pries-Friedrichsort. Es sind beides keine besonders schönen Gebäude. Jetzt zogen vereinzelte Dope-Schwaden durch  das SED-Heim.
Am Samstag hatten wir das Freundschaftsspiel gegen die Mannschaft von Traktor Herzberg. Der Sportplatz befand sich in unmittelbarer Nähe zum SED-Heim. Der Verein hieß zwar seit 1968 schon BSG Herzberg 68, doch es war immer von Traktor Herzberg die Rede.
Am Sonntag waren wir ins Sportleistungszentrum Fehrbellin am Fehrbelliner See eingeladen, wo wir an einem Turnier mit mehreren DDR-Mannschaften teilnahmen. Wir spielten in einer großen vollverspiegelten Sporthalle, sodass ich mich wie auf dem Jahrmarkt in einem Spiegellabyrinth fühlte. Es nervte, beim Bandespielen den Ball temporär doppelt zu sehn. Außerdem hatte ich den Eindruck, dass nicht zweimal fünf Spieler auf dem Parkett standen, sondern dass sich hier zwanzig bis dreißig Leute tummelten, die sich teils wie beim Ballet oder in einem Kaleidoskop bewegten. Es war mehr als psychedelisch, aber es brachte Spaß, weil diese ganze Aktion so bizzar anmutete. Bei dieser Gelegenheit spielten wir auch gegen Electronic Neuruppin, die uns vor dem Anstoß ihren blau-weißen Vereinswimpel überreichten. Es war mir peinlich, dass wir keinen Friedrichsorter Wimpel zum Tausch dabei hatten. Wir hatten an alles gedacht, an Dope, an gebrauchte Spiegelmagazine, um die DDR-Fußballer zu indoktrinieren. Bloß die Wimpel hatten wir vergessen.
Wer mit stechschrittähnlichen Fouls rechnete, wurde enttäuscht, denn Fair ging auch im Osten vor. Ebenso war die DDR-Sportlerbekleidung nicht assi.
Die Mannschaften waren unterschiedlich stark. Trotzdem gewannen wir mindestens ein Spiel. Nach dem Turnier, das ein DDR-Team gewann, wurden wir als einzige der Mannschaften in einem großen Speisesaal des Leistungszentrums mit einer typischen Sportlermahlzeit verköstigt, wie sie sonst nur DDR-Elitesportler zuteilwurde. Ein Teil unserer Spieler nahm die Mahlzeit unter Zurückhaltung zu sich, teils mit makaberen Kommentaren als Referenz zu der bekannten Doping-Misere im DDR-Leistungssport. Ich meine, es gab auch einen DDR-Bratling, wenn in meiner Zeitachse nicht etwas verschoben ist.
Die Gastgeber unternahmen mit uns auch eine Führung durch das Leistungszentrum. Sie zeigten uns die Zweibettzimmer, wir durften die Trainingsstätten besichtigen, wir sahen Konferenzräume, DDR-Kunst, Spinde, die Großküche. Das war wirklich spannend und lehrreich.
      Wir hatten zwar am Rande unserer DDR-Fahrt immer wieder mit Funktionären zu tun, die nicht versuchten, uns zu indoktrinieren. Uns blieben auch Reden erspart, wie wir sie aus Friedrichsort von Funktionsträgern kannten, besonders von Bubi Hetzler und vom Vereinspräsi Jogi Baudax. Letzterer kam später für zwei Jahre in den Knast. 
      Ein Spieler aus Herzberg berichtete, welche Funktionsträger und Funktionäre von Traktor Herzberg für die Stasi arbeiteten. Sein Statement wirkte ehrlich, als wollte er sich ausweinen. Es war absolut menschlich. Das geschah ganz privat und freundschaftlich, während wir vor dem Haupteingang des SED-Heims lecker DDR-Bier tranken. Der Ost-Kicker informierte uns besonders über das Alkoholproblem in seinem Verein. Es seien nicht nur Spieler, sondern auch die örtliche Polizei in Herzberg, die angeblich regelmäßig Alkoholfahrten absolvierten. Das wusste angeblich jeder. Das tolerierte jeder. Dort wurde niemand gestoppt, um die Promillezahl zu kontrollieren. Wir wunderten uns über die Null-Promille-Grenze vorort, was den Bericht des Spielers etwas relativierte. Es fiel wiederholt der Name des Stasi-Offiziers, der in der Vereinsführung tätig war. Dieser Spielerkontakt ging unter die Haut, und wir gaben uns Mühe, den Mann zu akzeptieren. Er schien nicht zu checken, dass er sich draußen vor dem Eingang mit Hardcore-Kiffern unterhielt, die alles durch den Dreck zogen und kicherten, auch wenn sie sich während des Gesprächs weitestgehend zusammenrissen.
      Als wir die Rückfahrt antraten, lagen die Spiegel-Magazine immer noch auf der Fensterbank des Autos des langhaarigen Spanisch-Studenten. Das Dope war jedoch aufgebraucht, auch wenn ein Stürmer, der mal bei den Living Deads war, plötzlich was auf Tasche hatte. Auch die Rückfahrt war hoch interessant. Wir waren gespannt, ob das am Grenzübergang wieder reibungslos klappen würde. Es klappte.
Der Gegenbesuch von Traktor Herzberg in Friedrichsort fand erst unmittelbar nach dem Mauerfall statt. Einige Spieler berichteten, der ehemalige Stasi-Funktionär sei postwendend Unternehmer geworden und sei voll im Geschäft. Er könne auf seine guten Verbindungen aus Stasi-Zeiten zurückgreifen. Es wurde weiter berichtet, das Spieler von Traktor Herzberg, der Verein der heute VfB Herzberg 68 heißt, im Friedrichsorter Rüstungsbetrieb Arbeit fanden. Danach hörten wir nie wieder etwas von der Liäson zwischen dem SV Friedrichsort und der BSG „Traktor Herzberg“, als hätte es dieses Deutsch-Deutsche Sportmeeting nie gegeben.








Das Bad Brains Konzert im Metropol

(Mein letzter Berlin-Trip vor der Maueröffnung)

In den Wochen vor der Maueröffnung war ich zum vierten und letzten Mal im alten Ost-Berlin. Wir fuhren mit der Mitfahrzentrale, die sich zu der Zeit immer noch im Königsweg in der Nähe der Kampfsportschule Tangun befand. Wir konnten da nicht ahnen, dass sie drei Wochen später die Mauer öffneten und sich die Welt radikal verändern würde.
Wir quartierten uns für ein paar Tage bei Zosch ein, der inzwischen in der Utrechterstrada im Wedding wohnte. Zosch, Steff und ich hatten uns schon wochenlang auf das Bad Brains Konzert gefreut. Zosch hatte bereits Tickets für uns mit bestellt. Sie lagen jetzt in seiner kleinen Wohnung im Wedding für uns bereit.
Wir wollten unbedingt an einem Nachmittag nach Ostberlin rüber um Bücher und Platten zu kaufen. Das war genau an dem Tag als Erich Honecker zurücktrat. Wir hatten am frühen Nachmittag bei der Landesbank B. „illegal“ Geld getauscht. Scheißegal. Der Kurs war an diesem Tag 1 zu 14. Für zehn Westmark gab es 140 Ostmark. Als wir die Landesbankfiliale betraten, sagte Zosch
      „Es ist ja nicht mehr erlaubt, in Berlin mit einem Motorradhelm Bankfilialen zu betreten. Da wird neuerdings sofort Alarm ausgelöst.“
            „Einige nehmen den Helm ja erst während des Gehens ab.“
    Zu dritt nahmen wir den Grenzübergang Bornholmer Straße, wo wir den Zwangsumtausch von 25 D-Mark pro Person bar zahlen mussten im Tausch gegen 25 Ostmark. Dass wir das schwarz getauschte Geld importierten, war eine Straftat. Es hätte deshalb Probleme geben können.
     Wir erlebten hier einen wirklich tollen Nachmittag. Zum Abend hin wurde es feucht-fröhlich.
Als wir durch Ostberlin liefen, hielt plötzlich ein Fahrradfahrer und sprach uns an:
      „Vielleicht können wir ja bald auch mal zu euch rüber kommen und euch im Westen besuchen?“
Er hatte währenddessen das Fahrrad zwischen seine Beine geklemmt und wirkte kurz angebunden. Der Mann wurde unruhig, stieg gleich wieder auf um weiter zu fahren, als hätte er plötzlich Verfolgungswahn.
      Wir waren schon ziemlich besoffen als wir uns entschlossen, mit den Einkaufstüten den Weg zurück zum Grenzübergang Bornholmer Straße zu bestreiten. Wir hatten uns jede Menge Bücher und Schallplatten in Ostberlin gekauft. Die Schallplatten holten wir in einem geräumigen Plattenladen in direkter Nähe zum Alexanderplatz, auf der gegenüberliegenden Straßenseite vom Interhotel Stadt Berlin. Ich kaufte mir unter anderem eine Platte mit sibirische Volksmusik, eine LP mit Beiträgen für das Festival des politischen Liedes, eine LP mit Vogelstimmen und eine mit antifaschistischen Widerstandsliedern. Ich kaufte Bücher von Marx und Engels, ein Buch über die krakauer Avantgarde, ein Buch mit dem Titel Sprecherziehung sowie eine Sammlung mit Stücken von John Paul Sartre, erschienen bei Reclam Leipzig.


Einkaufsliste Ostberlin:

Bücher
Engels; Briefe über den historischen Materialismus (1890 - 1895)
Engels; Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen
Engels; Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats
Marx; Zur Kritik der politischen Ökonomie
Der Mensch in den Dingen; Programmtexte und Gedichte der Krakauer Avantgarde
Sprecherziehung
Sartre; Stücke


Schallplatten
Rushing Troika; Russian Folk Songs
The Urals Precious Stones; Folk Songs and Tunes
19. Festival des politischen Liedes
Stimmen der Vögel Südosteuropas
Siberian State Folk Choir
Lied-Wort-Dokument (im deutschen antifaschistischen Widerstand 1933 - 1945)


Das wirkte alles wie umsonst, spottbillig, hinterher geschmissen, wie ein Schnäppchen. Das restliche Geld brachten wir in Restaurants und Kneipen durch.
      Als wir nun stark betrunken am Grenzübergang Bornholmer Straße eintrafen, mussten wir über den Mauerstreifen und durch die Grenzkontrolle. Es war längst dunkel zu der Uhrzeit, nach 21 Uhr.
      „Oh Mann, guckt dir mal den ganzen Wahnsinn an!“
Die Scheinwerfer an den Grenzanlagen wirkten wirklich bedrohlich. Das künstliche Licht blendete wie ein Blick ins Flutlicht auf dem heimischen Grantplatz. Von der Farbe Grau-Schwarz passte es auch. Überall hingen Unmengen nagelneuer Stacheldraht.
      Unter freiem Himmel mit viel Flutlicht mussten wir erst den Fußweg über den Grenzstreifen nehmen. Rechts neben uns stand einer dieser typischen Wachtürme. Plötzlich kam ein uniformierter Grenzsoldat ans Geländer des Wachturms gestürzt, anscheinend ein Offizier in seiner grauen Uniform der Grenzarmee mit einer grauen schachtelartigen Militärmütze. Allein das war schon traumatisch. Jetzt fing dieser wichtige und übergewichtige fleischige Typ mit seinem hochroten Kopf auch noch an uns von oben herab auszuschimpfen. Wahrscheinlich war er besoffen.
     „Wie lauft ihr denn überhaupt herum. Könnt ihr euch keine anständige Kleidung leisten? Und so betretet ihr die Deutsche Demokratische Republik?“
Besoffen wie ich war, gab ich ihm gleich Kontra.
„Was beleidigen sie uns denn so? Meinen Sie mit ihrer alten Uniform sehen viel besser aus?“,
schrie ich mutig die zehn Meter zu dem aufgedunsenen Uniformträger hoch. Da packte Zosch mich gleich am Ärmel und zog mich weg vom Ort des Wortgefechts, zog mich weiter in Richtung der anstehenden Grenzkontrolle. Der Wachsoldat auf seinem Betonwachtturm rief uns irgendwas hinterher, wahrscheinlich irgendeinen Fluch. Schweigsam und in fast panische Angst gelangten wir zur Grenzkontrolle, die in einem kleinen Pavillon stattfand. Wir hatten panische Angst da wir pro Person Waren im Wert von über 100 DDR-Mark bei uns trugen. Steff winselte
     „Oh Gott, das checken die, dass das mehr als der Zwangsumtausch ist.“
      Wir drei überlegten kurz, die Einkaufstüten einfach irgendwo am Todesstreifen abzustellen. Doch beim Grenzsoldaten mussten wir lediglich unsere Reisepässe vorzeigen. Der junge Uniformierte schien sogar ein wenig erheitert, als hätte er den Terz gerade eben mit seinem Dienstkameraden mitbekommen. Er sah oder roch sicherlich, dass wir betrunken waren, denn wir hatten eine ziemliche Alkoholfahne. Die Erleichterung war groß, als wir ohne weitere Umstände passieren durften. Wir eierten aus dem Kontrollpavillon und befanden uns mit dem nächsten Schritt in Westberlin, im Bezirk Wedding.
      Als wir jetzt durch den Wedding liefen, auch durch die die Müllerstraße, sahen wir in den Schaufenstern der TV-Händler auf den unzähligen Bildschirmen überall das Konterfei von Erich Honecker.
      „Guck mal, auf allen Bildschirmen ist Honecker zu sehen. Da muss irgendetwas passiert sein.“
      „Oh, ist Honecker Tod?“
Später checkten wir, dass Honecker an diesem Tag zurückgetreten war.
     Auch in der Folgezeit sammelten wir weitere beklemmende Eindrücke aus der geteilten Stadt. Mit das schrecklichste in Berlin waren die Geisterbahnhöfe, die einige U-Bahnen während der Fahrt immer wieder passierten. Das waren U-Bahnhöfe, die aufgrund der Teilung der Stadt nicht angefahren werden durften. Hier zischte die U-Bahn einfach durch. Diese verlassene Bahnhöfe wirken grau und verstaubt und irgendwie ausgestorben. Sogar die alten Schilder waren abmontiert oder schimmerten durch Staub und Dreck. Es brannte aber immer ausreichend viel Licht, dass du den Bahnhof überblicken konntest.
      Groß waren immer die Momente, wenn vorbestellte Konzert-Tickets aus dem Umschlag geholt wurden und an die anderen verteilt wurden. So war es auch mit unseren Bad Brains -Tickets.
      Das Konzert sollte im Metropol am Nöllendorfplatz stattfinden. Das Konzert fand genau einen Tag nach dem Honecker-Rücktritt statt, der am selben Tag von seinem Nachfolger Egon K. als DDR-Staatschef abgelöst wurdet. Die Vorband Jingo De Lunch aus Berlin galt zu der Zeit als beste deutsche Punkband. Die Sängerin sang als Kanadierin ein perfektes Englisch. Der Saal bebte. Wir kannten die erste LP bereits. Jetzt sahen wir sie live und es haute uns um.
Als plötzlich der Massen-Pogo beim Bad Brains-Konzert losbrach, hatten alle im Pogo-Pulk einen freien Oberkörper. Und das im Oktober. Es ging so krass ab wie wir es von Aufnahmen von den derbsten Hardcore-Veranstaltungen aus den USA kannten mit Stagediving, Crowdsurfing und krassen Pogo-Mob. Wir waren halt in Berlin und nicht in Kiel.
Viele trugen lange, dicke Rasta-Zöpfe, sowohl auf und hinter der Bühne als auch bei den Besuchern, Männer und Frauen gleichermaßen. Als schließlich der Song “Sailing on“ lief, brachen alle Dämme und der Massen-Pogo eskalierte. Da stürzte auch ich in den Massenpogo und trug dabei meine enge Lederjacke. Als ich mich rücksichtslos in den Pogo-Mob stürzte, poste ich wie ein Irrer, wurde mit der Pogo-Meute getrieben, bis ich ein paar Songs später wieder bei meinen zwei Kumpels landete, die auf der linken Seite am Rande des Pulks standen. Das reichte mir an Pogo für den Abend. Ich war erschöpft genug und eh nur ein Pseudo. Und ich fühlte mich wie nach einem 500-Meter-Sprint unter Doping-Einfluss. Das Konzert war atemberaubend. Später behauptete ein Berliner Punk mir gegenüber, dass der standardmäßige Sänger der Bad Brains HR an diesem Tag krank war und ein Ersatzsänger einspringen musste. Die Behauptungen konnten wir bis auf den heutigen Tag nicht eindeutig klären.
      Als wir am nächsten Morgen bei Zosch frühstückten, der Rote hatte extra eine große Tüte voll Brötchen besorgt, schalteten wir einen lokalen Fernsehsender ein, sowas wie TV-Berlin oder was auch immer. Plötzlich lief ein Bericht über das Jingo de Lunch und Bad Brains Konzert vom Vorabend. Wir waren schier außer uns, als wir einen Kameraschwenk von schräg oben durch das gesamte Metropol sahen, bis die Kamera plötzlich das Zentrum des Pogos fokussierte. Genau in diesem Moment sahen wir, wie eine Person mit einem kurzen, breiten Iro und einer Lederjacke in den Pogo-Mob stürmte, bei dem alle einen freien Oberkörper trugen. Der Punk in der Lederjacke bockte auf seinen Vordermann auf. Da war uns klar, dass der vereinzelte Lederjackenträger im Pulk nur ich gewesen sein konnte. Ich war mächtig stolz und fühlte mich für ein paar Augenblicke nicht mehr als Pseudo.
      „Das in der Lederjacke da ist Shelter. Siehst du ihn?“
      „Ja, das bin ich. Supergeil.“
Wir freuten uns mal wieder wie die Schneekönige, dass unser Konzertbesuch obendrein im westberliner Regionalfernsehen dokumentiert war, und dass wir mich im Pogo-Mob identifizierten.
      Wir soffen bei Zosch die Tage wie die Wahnsinnigen, hatten wie gewohnt Wodka und Bier am Start. Zosch trank auch Cidre. Als wir abends losziehen wollten, stellte ich die leere Wodkaflasche auf ein Regal oberhalb seiner Matratze die auf dem Boden lag. Ich stellte die Wodkaflasche so auf den Rand des Regals, dass fast 50% der Standfläche über die Kante des Regals hinausragten, sodass sie sicher bald herunter gepurzelt wäre, wenn wir weiterhin laute Musik gehört hätten. Ich hatte halt zu der Zeit sehr viel Unfug im Kopf. Wir hörten an dem Abend Bands wie Thatcher on Acid, Wat Tyler und Chumbawamba, aber auch ruhige Sachen wie Nikki Sudden & Rowland S. Howard mit “Kiss You Kidnapped Charabanc“ sowie eine LP der 10,000 Maniacs, auf die Zosch so abfuhr. Er war halt intellektuell.
      Schließlich wollten wir auf unseren Berlin Trip noch zum Wannsee fahren. Ein Spaziergang im Strandbereich des Sees stand auf dem Plan, zumal der See im Südwesten Berlins in den 80ern vor allem durch den Kult-Film „Am Wannsee ist der Teufel“ bekannt geworden war. In dem Film spielte sogar ein kleines Grüppchen Punks mit, die in vertrauter Weise punk-style berlinerten. Deshalb wollten wir auch mal zum Wannsee, obwohl wir bereits Oktober hatten.
      Zu der Zeit war das S-Bahn surfen in aller Munde. Es gab wieder und wieder Fernsehberichte über die Waghalsigkeit und Todesfälle durchs S- und U-Bahnsurfen, und es wurde eindringlich davor gewarnt. Es war eine lebensgefährlicher, weltweiter Trend, der in kurzer Zeit unzählige Todesopfer gefordert hatte. Automatisch unterhielten wir uns auf der Fahrt über diesen gefährlichen Trend des S-Bahnsurfens, bis ich plötzlich mal wieder einen Ausraster hatte und zur nächsten Tür des S-Bahnwaggons rannte.
Zosch schrie
      „Hör auf. Bloß nicht!“
Doch da riss ich bereits die Tür auf, während die Bahn mit Hochgeschwindigkeit immer geradeaus fuhr. Ich lehnte mich rückwärts aus dem Wagon und hielt mich an den Außengriffen der zwei Schiebetüren fest. Selbst das hätte schon schlimm enden können, denn ich konnte die Kräfte nicht einschätzen, die dort wirkten. Meine Surf-Aktion war natürlich nicht so spektakulär und waghalsig, wie man jetzt denken könnte. Ich kletterte natürlich nicht am Außengehäuse der S-Bahn entlang, wie die Hardcore-S-Bahnsurfer es taten, die sich im Extremfall in gehockter Position am Rahmen eines aufgeklappten Seitenfensters festhielten und so seitlich am Wagon über längere Strecken mitfuhren und im Extremfall aufs Dach der S-Bahn kletterten. Sie schlossen auch die Schiebetüren von außen, sodass die beiden Schiebegriffe direkt nebeneinander lagen. Da brauchte nur eine Brücke oder ein Tunnel zu kommen oder eine entgegenkommende Bahn, um das Surfen mit dem Exitus zu beenden. Es wurde immer wieder in kurzen Zeitungsberichten über die vielen Todesfälle berichtet. Es war ein gefährliches Metier, dass den jungen Leuten Spaß brachte. Die Leute kamen teils aus der Hardcore-Szene, teils aus dem Hip-Hop und Grafitti-Bereich. Viele verloren einfach den Halt, überschätzten sich oder rutschten ab. Oder die greifenden Hände hielten die Kräfte nicht aus. Diese Gefahr spürte auch ich, als ich mich die paar Sekunden rückwärts aus der geöffneten Tür des S-Bahnwagon lehnte. Ich stand mit der Sohle der Boots halb auf dem Eingangstrittbrett wie auf einem Kantstein. Doch es gab unkalkulierbare Kräfte, und es bestand die Gefahr, dass sich die Tür während der Fahrt bei einem Ruckeln oder bei plötzlicher Geschwindigkeitsveränderung schloss, während ich draußen baumelte, oder dass ich mit den Boots abrutschte. Außerdem wirkte meine enge Lederjacke für solche Wagnisse ungeeignet, ebenso wie meine schwarzen Doc Martens 8-Loch mit relativ glatter Sohle. Turnschuhe wären das bessere Schuhwerk fürs S-Bahnsurfen gewesen. Das erkannte ich sofort. Aber ich lehnte mich ja lediglich aus der geöffneten Tür und genoss den Fahrtwind und den Kick. Ich bekam eine Sturmfrisur.
Meine zwei Kumpels flippten fast aus und schrien laut
      „Bist du wahnsinnig? Komm wieder rein!“
      „Komm von der Tür weg.“
Das beherzigte ich sogleich und hiefte mich wieder in den Wagon, was gar nicht so einfach war. Ich zog die Schiebetür hinter mir zu, was sonst erst nach Verlassen der nächsten Haltestelle automatisch geschehen wäre. Meine zwei Kumpels redeten pädagogisch auf mich ein.
      „Das machst du aber nie wieder. Das ist einfach zu gefährlich.“
Ich sah ein, dass das vollkommen idiotisch von mir war. Der Vorfall ereignete sich auf der langen Strecke der S-Bahn zwischen Grunewald und Nikolassee, wo die S-Bahn kilometerweit geradeaus durch begrünte Bereiche fuhr. Meine Kumpels waren beunruhigt. Sie sahen sich bestätigt, dass es in mir nicht richtig tickte. Das war auch zu krass von mir. Das muss ich ehrlich zugeben. Ich wusste wieder mal nicht, was mich da geritten hatte. Deshalb an dieser Stelle mein dringlicher Appell an meine Leser*innen, diesen Wahnsinn nicht nachzuahmen.
      Hier im Wedding aß ich zum ersten Mal in meinem Leben eine Falafel, in einem arabischen Imbiss in der Utrechterstrada. Ansonsten tanzten wir die Nächte im Trash in Kreuzberg, wir tanzten im Rocket in Neukölln. Überall wurde der neue Song von Abwärts „Alkohol“ gespielt, ebenso Songs von der zweiten Bad Brains, Sachen von Fugazi, meistens “Waiting Room“ und Bad Religion. Wir tranken Kaffee im Tax Moon und im Schwarzen Café. Wir flipperten irgendwo und spielten Billard. Wir hatten ein paar geile Tage.
      Am letzten Abend, bevor Steff und ich wieder mit der Mitfahrzentrale nach Kiel fuhren, nahm ich mit Zoschs Radiorekorder eine Sendung der John Peel Show auf, die in ganz Berlin ohne Rauschen zu empfangen war. Ich weiß bis auf den heutigen Tag nicht, ob die Sendung im Westen ausgestrahlt wurde, also vom BFBS, oder im Osten von Radio DT-64. Ich verstaute die Aufnahme später in einem großen Karton voll mit John-Peel Radio-Mitschnitten. Wir kamen komplikationslos durch die Grenzkontrollen und über die Transitstrecke.









Die Konken-Festivals

( … oder als die Cops Angst vor einer zweiten Meierei bekamen und alles in die Waagschale warfen)

Es war einmal ein Getränkeabholmarkt mit kistenweise, ja sogar türmchenweise Bier bis fast unter die Decke. Nebenan befand sich ein Aldi-Markt, der durch einen Zaun auf einer kleinen kniehohen Mauer vom Gelände des Getränkemarktes abgegrenzt war. Jedoch war es mit dem Parken bei Aldi schwierig, während es auf der Seite des Getränkeabholmarktes recht geräumig war. Du konntest am Getränkemarkt vorfahren und hinten an den Garagen wenden. Doch der Getränkemarkt ging bald pleite. Zu dem Zeitpunkt hatten die türkischen Mitbürger in unserem Stadtteil ein Aufenthaltsproblem, denn ihr altes türkische Café weiter oben in der Ortschaft musste schon vor einer Weile schließen. Jetzt bemühte sich ein türkischer Geschäftsmann um den geräumigen ehemaligen Getränkeabholmarkt, um ihn zu pachten und zu einem schlichten, aber gemütlichen türkischen Café umzubauen. Wenig später eröffnete das Café mit dem Namen Konken, mit zweckdienlicher Auslegeware, einfachen Tischen und Stühlen, einem langen Tresen, geräumigen Toiletten für beide Geschlechter, mehrere kleine Räume hinter dem Tresen, eine Dartscheibe ein Flipper ein Video Spielautomat, aber vorerst keine Geldspielautomaten, denn die Ausspielungsgeräusche hätten gestört. Auch ein Billardtisch wurde aufgestellt. Es gab eine Kellertür, hinter der sich eine lange Treppe befand. In dem Café lief ständig türkische Mainstream Folklore.  Der Laden lief und war von Anfang an gut besucht von türkischen Herren mittleren Alters. Türkinnen sah ich hier nie. Bis auf die Kinder der Betreiber waren hier keine jungen Leute zu sehen. Der ehemalige Getränkeabholmarkt bestand aus zwei kleinen Hallen, die über einen Durchbruch miteinander verbunden waren. Die türkischen Gäste tranken hier ihren türkischen Tee aus den typischen türkischen Teetassen. Manche tranken Kaffee, zumeist mit viel Zucker. Es wurde bevorzugt Rummikub gespielt, ein Brettspiel, bei dem die Teilnehmer eine Reihe von markierten Steinen in Reihen auf einem Brett liegen hatten, so dass die anderen Spielteilnehmer den Wert der Steine nicht erkennen konnten. Wer als erstes alle Steine ausgespielt hatte, war der Gewinner. Die türkischen Herren spielten sehr diszipliniert, hochkonzentriert und mit vielen typischen orientalischen, spielbegleitenden Gesten. Die Verlierer kippten ihr Spielbrett zumeist nach vorne, sodass die verbliebenen Steine ein paar Zentimeter über die Tischdecke rutschten, was sehr professionell wirkte und als Zeichen gewertet werden konnte:
      „Schau mal, ich war auch kurz davor das Spiel zu gewinnen“.
Mit der Zeit ließen sich immer mehr einheimische Jugendliche in dem türkischen Café blicken, zunächst aus Neugierde, bis sie feststellten, dass sie stets willkommene Gäste waren. Sie spielten bald die erste Partie Billard, tranken mal einen Kaffee oder, selbst das wurde angeboten, eine Flasche Holsten Export oder Edel. In Zukunft waren gegen Abend immer häufiger Jugendliche zugegen, die zumeist an nur einem Tisch saßen, tranken, rauchten, sich unterhielten und zwischendurch Dart oder Billard spielten. Irgendwann verschwand der Billardtisch. Stattdessen wurde umso mehr gedartet und immer häufiger geflippert oder an der Videokonsole gespielt, an der ein virtueller Parcours mit einem Skateboard abgefahren werden musste, um Punkte zu sammeln. Die Jugendlichen stammten zumeist aus einem prekären Milieu, waren zwar alle ortsansässig, aber häufig arbeitslos, Schüler, aufgrund von Drogenproblemen arbeitsunfähig oder hielten sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser, hatten teils im Lokomotivbau, Panzer- und Motorenbau oder bei der Schiffswerft gelernt. Andere besuchten die lokale Gesamtschule oder die Realschule. Alle befanden sich im Zerwürfnis mit den Arbeitsbedingungen oder der Philosophie dieser Betriebe, ob sie persönlich dort arbeitete oder nicht. Es wurde viel gelästert, über Umweltverschmutzer, Rüstungsprojekte und Internas aus den Betrieben. Es entstand eine richtig angenehme und spöttische Szene, die vieles kritisch sah. Wer wollte, durfte hier sogar vorsichtig seinen Joint rauchen. Es störte niemanden, dass zunächst nur türkische Musik lief. Der Treffpunkt wurde immer beliebter, sodass nicht nur abends werktags gute Stimmung herrschte, sondern besonders zum Wochenende nahezu Partystimmung angesagt war. 
      Am Nachmittag sahst du fast ausschließlich ältere, männliche Türken in dem Kaffee. Ab dem späten Nachmittag kam es zu einem Schichtwechsel, wenn die türkischen Daddy's langsam nach Hause aufbrachen und die Jugendlichen den Sitzbereich an der Dartscheibe in Beschlag nahmen. Zu der Uhrzeit änderte sich neuerdings auch die Musik in dem Café. Während eben noch türkische Folklore und türkischer Pop liefen, kamen aus der HiFi-Anlage jetzt westliche Songs, besonders Independent Musik war dabei. Das lief eine ganze Weile so, bis der Chef sich dazu entschied, den Tresen weiter zu vergrößern und auch an anderen Stellen in das Café zu investieren. Fortan reichte der Tresen einmal über die gesamte Querseite und war damit der längste Tresen im Stadtteil. Die Türken spielten weiterhin ihr Rummikub tagsüber und tranken Kaffee oder Tee. Am Abend erhielt das Konken immer mehr Party-Charakter. Bald durfte ab einer bestimmten Uhrzeit die Musik der jungen Leute gespielt werden, zumeist Depri-Songs wie “Wonderful Life“, “Everything Is Coming Up Roses“ oder “Everyday Is Like Sunday“. Punk hörten wir nicht.
Bald gesellten sich die ersten Türken zu den feiernden Jugendlichen. Auf der anderen Seite waren die Jugendlichen immer häufiger am Nachmittag an den Tischen der Rummikub-Spieler zu sehen, wo sie das Spiel allmählich erlernten. Es wurde sogar Wodka und Raki verkauft. Irgendwann kam jemand auf die Idee, eine kleine Bühne in den hinteren Teil des Cafés zu bauen, um Konzerte veranstalten zu können. Plötzlich ging allen die Fantasie durch. Im Keller könnten Übungsräume gebaut werden, eine PA könnte angeschafft werden und sogar Festivals mit deutschen und türkischen Bands waren im Gespräch. Sie überlegten, langfristig immer mehr arbeitslose Jugendliche in das Projekt zu integrieren. Das gefiel dem Chef sehr, denn seine geschäftliche Situation hatte sich seit Eröffnung des Cafés kontinuierlich verbessert. Der Plan besagte, das Café zu einem angesehenen Veranstaltungsort auszubauen. Dieser Plan wurde an einem feuchtfröhlichen Abend an dem Tisch in der Nähe der Dartscheibe ausgeheckt. Noch war es eine fixe Idee, bis der Chef schließlich versprach, er werde in der nächsten Woche anfangen, eine circa 50 cm hohe Bühne zu bauen, direkt an der Wand, an der bisher der Flipper und das Videospiel standen. In nächster Zeit wurde nur noch der vordere Bereich des Cafés genutzt, während im hinteren Bereich Schritt für Schritt die Bühne zusammengezimmert wurde, bis sie endlich stand. Auf der Bühne wurde die gleiche Auslegeware verlegt, die auch für das restliche Café verwendet wurde, eine Art blau-grauer Teppich. Nach dem folgenden Wochenende war die Bühne fertig. Doch zunächst geschah dort weiter nichts. In den folgenden Wochen wurde die Bühne nicht genutzt und nahm nur Platz weg, auch wenn darauf temporär ein Tisch und mehrere Stuhle standen. Der Flipper und das Videospiel standen jetzt an der Wand zwischen der Dartscheibe und dem Eingang. Doch bei den Jugendlichen fing es an zu brodeln. Sie überlegten, was sie dort veranstalten könnten. Schließlich waren sich alle einig, hier sollten unbedingt Konzerte mit lokalen Bands stattfinden, vielleicht sogar ganze abendfüllende Festivals. An Musikveranstaltungen hatten hier selbstverständlich alle Interesse, auch wenn die Geschmäcker stark auseinanderklafften. Aber nur ganz wenige der Gäste beherrschten ein Instrument. Jedoch kannte fast jeder in seinem Umfeld Leute, die in einer Band spielten, probten und mitunter bereits improvisierte Auftritte vorzuweisen hatten, wenn auch nur in einem Gartenhäuschen, in einer Garage oder auf einer Privatparty in einer Wohnung. Schließlich machte jemand den folgenden Vorschlag:
      „Wir könnten doch ein kleines Festival veranstalten mit drei Bands an einem Abend. Wir müssten bloß eine entsprechende Bühnenanlage besorgen und das Festival ausreichend ankündigen.“
Die Bands müssten eine symbolische Gage erhalten: pro Band gebe es eine Kiste Bier und pro Bandmitglied einen Döner. Folglich sollte das Festival „Döner- und Bierfestival“ heißen. Da waren alle gleich Feuer und Flamme, sogar der Chef und seine türkischen Mitstreiter. In einem nächsten Schritt hörten die Leute sich in ihrem Umfeld um, ob es Nachwuchsbands gibt, die Interesse hatten bei diesem Festival aufzutreten. Es wurde verhandelt, es wurde geworben, es wurde überzeugt, bis schließlich drei Bands gefunden waren, die spontan zusagten: Sargent Slaughter, Voigt-Kampff test sowie die Wrongs. Ich absolvierte zu der Zeit gerade meinen Zivildienst in einer Behinderten-WG in Kiel-Mettenhof, hatte Schichtdienst, in einigen Fällen sogar 48-Stunden-Schichten am Wochenende. Ich war ausreichend frustriert, um mich auf etwas Neues einzulassen, um den durch den Zivildienst erzeugten Stress zu kompensieren. Da ich mich sowieso regelmäßig im Konken aufhielt, ja sogar täglich, wenn ich nicht gerade Spätschicht hatte oder Fußballtraining, sah ich meine Stunde gekommen, um in meiner Freizeit etwas zu organisieren. Deshalb nahm ich das Zepter in die Hand, das erste „Döner- und Bierfestival“ erfolgreich auf den Weg zu bringen. Ich organisierte ein Vorabtreffen mit den Bands im Konken, zu dem die Musiker etwas Informationsmaterial über ihre Bands mitbringen sollten. Wir einigten uns auf die wichtigsten Eckpunkte, aufs Datum und die Uhrzeit, auf Ankündigungstexte in den Stadt-Magazinen, auf Poster und Flyer. Von Sargent Slaughter kannte ich den Sänger und Gitarristen Nille, mit dem ich zusammen Zeitung in Dorf Pries austrug: er „Gooden Dag Leeve Lüd“, ich den „Kieler Express“. Manchmal machten wir Arbeitsteilung, wenn einer von uns an einem Tag mal nicht austragen konnte. Den Kontakt zu den Wrongs erhielt ich von meiner damaligen Freundin Elli, die über ihre Freundin Brigit mit dem Wrongs bekannt war. Voigt-Kampff test kannte ich aus Dänischenhagen aus dem Punkhexenhaus. Der Schlagzeuger Tonn war der Bruder meiner Ex. Mit Gitarrist Vollki und dem Bassisten Marku, auch Präsi genannt, hatte ich etliche Male in Dänischenhagen Party gemacht, ja sogar kleine Übungsraum-Sessions, zumal ich noch zu Schulzeiten mit meiner Ex in der Gesamtschulband spielte, die leider aufgrund von übermäßigem Alkohol- und Marihuana-Konsum nicht lange hielt. Ich erstellte ein Plakat und daraus später den Flyer. Beides kopierte der Chef an seinem Arbeitsplatz in der Panzerbaufirma in hohen Stückzahlen in unterschiedlichen Farben.
Ich fuhr die Tage mehrmals mit Nille in die Stadt, um Plakate zu kleben und Flyer zu verteilen. Wir hatten sogar an einem Abend einen 10-Liter-Eimer mit Tapetenkleister dabei, um die Plakate fest anzukleben, nicht nur wie sonst mit Klebestreifen. Wir klebten die Plakate an den unmöglichsten Orten. Ich tapte sogar kleine Poster und Flyer in die Busse und verteilte in Bussen jede Menge der Handzettel. Doch wir bekamen bald zum ersten Mal Stress. In der Traumfabrik warfen wir mehrere Stapel Flyer oben von der Empore, als dort eine gut besuchte Disco-Veranstaltung stattfand. Die Flyer rieselten auf die Discobesucher nieder. Ich hatte da schon mit einem Hausverbot gerechnet. Doch niemand beschwerte sich, weder das Personal, noch, und damit hatte ich eher gerechnet, die Discobesucher, die sich von dem Flyer Regen belästigt gefühlt hätten. Trotzdem kassierten wir zu der Zeit ein paar Hausverbote. Im Error verteilten wir oben im Café Flyer. Da kam sofort jemand vom Tresen herangeschnellt und gab uns Hausverbot, ohne zu erfragen, was wir da verteilten.
Beim Eisverkäufer neben dem Fotogeschäft in Friedrichsort bekam ich Hausverbot, nachdem ich ohne zu fragen einen Stapel Flyer auf die Ablage links neben dem Eingang ablegte, auf dem ohnehin schon mehrere Werbeprospekte lagen. Der Besitzer wurde richtig rabiat, schubste mich aus dem Laden und warf mir die Flyer hinterher. Da merkte ich schon, dass es in Friedrichsort schwierig werden könnte.
Kurz vor dem Festival machte Vollki mich darauf aufmerksam, dass ich Voigt-Kampff test auf Plakat und Flyer falsch geschrieben hatte. Er teilte mir zuvor verbal mit, wie ich den Schriftzug auf dem Poster zu gestalten habe. Das setzte ich nicht korrekt um, schrieb VoidkampffTest statt Voigt-Kampff test. Jetzt war es zu spät, das zu ändern. Vollki war sauer. Die Wrongs schafften es sogar einen Artikel mit einer Ankündigung des Festivals inklusive Bandfoto im Kieler Express zu lancieren.
Auf den letzten Drücker konnten wir die Bühnenanlage organisieren. Ein kieler Musikalienhändler stellte das Equipment für diesen Samstag zur Verfügung. Ich hatte bis zu dem Termin auch wirklich jedem Menschen, den ich traf, einen Flyer in die Hand gedrückt. Obwohl fast niemand die Bands kannte, war das Interesse sehr groß, da endlich mal etwas in Kiel-Nord in unserem verschlafenen Stadtteil stattfand. Für den Samstag baute der Chef extra einen Dönerspieß hinter dem Tresen auf. Er sollte an diesem Festivalabend insgesamt über 200 Döner fertigen. Im Laufe des Abends füllte sich das Konken immer weiter. Ich kannte fast alle Besucher*innen persönlich und führte viele freundschaftliche und spannende Gespräche. Mir wurde viel Lob zuteil, dass ich endlich mal etwas organisiert hatte, und das sogar bei freiem Eintritt. Das Festival wurde ein voller Erfolg. Die drei Bands durften ihr Programm herunterspielen, erhielten dazu die versprochene Kiste Bier und den versprochenen Döner pro Person, bei Bedarf vegetarisch. Den ganzen Abend herrschte eine hervorragende Atmosphäre mit vielen freundschaftlichen Gesten und Gesprächen. Zum Abschluss des Abends gab  es eine kleine Jam-Session mit Musikern aller drei Bands, auch Festivalbesucher und Tresenmitarbeiter durften sich einbringen und das ein oder andere Instrument testen. Das kam sehr gut an. Am Ende prostete der Chef mir mit leuchtenden Augen zu, denn er hatte den erwünschten Umsatz erzielt. Schlussendlich waren alle hochzufrieden, das erste Döner- und Bierfestival erfolgreich hinter sich gebracht zu haben.
      In der Folgezeit ließen wir den Erfolg zunächst sacken. Es war logische Konsequenz eine Fortsetzung des Festivals ins Auge zu fassen. Deshalb planten wir schon bald das „2. Döner- und Bierfestival“, und wir wollten unbedingt eine türkische Band dabei haben. Doch niemand von uns kannte eine solche türkische Band. Es sprach sich jedoch herum, dass mehrere der jungen friedrichsorter Türken Instrumente spielten. Deshalb wurde der Plan gefasst eigens fürs kommende Festival eine türkische Folklore-Band zu gründen, die später ihren Schwerpunkt auf Perkussionsinstrumente legen sollten, begleitet von einer Saz Bağlama. Ab jetzt probten sie regelmäßig. Sie offenbarten mir den Bandnamen: Grup Gençler, auf Deutsch Gruppe der Jugend.
      Für das abendfüllende Festival brauchten wir jedoch weitere Bands. Ich fragte in meinem Umfeld und wurde fündig. Ein paar ehemalige Schulkollegen von der Hebbelschule hatten eine Combo auf die Beine gestellt, die sich Wasville B‘s nannte. Auch Nille fand eine Band in seinem Umfeld, die genug Songs beisammen hatte, um damit einen Auftritt zu wagen. Deshalb veranstalteten wir schon bald die Vorbesprechung für das zweite Festival, um alle Programmpunkte auszuloten. Schlussendlich standen drei Bands fest: Grup Gençler, The Wasville B‘s und Daydreamer‘s Nightmare. Wir gingen bei der Planung schon deutlich professioneller zu Werke, auch wenn vieles immer noch ziemlich dilettantisch wirkte.
Bei dieser großen Besprechung gaben die Bands Fotos ab, und wir einigten uns auf kurze Infotexte für die Stadtmagazine. Wir mussten uns an die Deadlines halten.
      Jetzt vereinbarte ich mit dem Chef, dass er eine günstige PA anschaffen sollte, die wir jedes Mal während der Festivals zum Abmischen der Bands verwenden könnten. Ich handelte mit ihm aus, dass die PA später einmal, wenn sie ausgedient haben sollte, als Gegenleistung für mein Engagement in meinem Besitz übergehen würde.
      „Das können wir gerne so machen, wenn sich alles rentiert“
sagte Kadik, der Inhaber des Konken.
Ferner war im Gespräch, eine gebrauchte Spiegelreflexkamera anzuschaffen, über die ich weitestgehend verfügen würde, um damit vorab Bandfotos für die Presse und Aufnahmen auf den Festivals schießen zu können. Also schafften wir eine gebrauchte Canon AE-1 an. Das zweite Festival rückte immer näher. Ich traf mich rechtzeitig vor dem Redaktionsschluss der Stadtmagazine mit der türkischen Band auf dem Hof des Konken, um Bandfotos zu schießen. Ich schaffte es, die Fotos und die Info Texte mit den genauen Daten des Festivals rechtzeitig bei den Redaktionen der Stadtmagazine Station und Ultimo abzugeben. Die Sache war geritzt.
Neun Tage vor dem zweiten Döner- und Bierfestival fiel die Berliner Mauer. Entsprechend turbulent verliefen die letzten Vorbereitungen. In den Tagen vor dem Festival wurde jeden Abend in Konken kräftig gefeiert, und die ersten Ostdeutschen ließen sich blicken.
Plötzlich offenbarten Grup Gençler, sie müssten ihre Teilnahme an dem bevorstehenden Festival absagen, da es Probleme in der Band gebe. Doch  die Poster und Flyer waren längst erstellt und größtenteils verteilt und geklebt. Deshalb brachte ich all meine Überredungskünste auf, um die Band doch noch zu einem Auftritt zu bewegen.
Wir hatten jetzt zwar eine eigene PA, doch mit der restlichen Bühnenanlage gab es erneut einen ziemlichen Tanz. Buchstäblich in letzter Minute bekamen wir die Zusage des Musikalienhändlers, das Equipment an dem Samstag ausleihen zu dürfen. Da fiel uns ein Stein vom Herzen. Die Beschaffung  wirkte wie eine Guerilla-Aktion nach Ende der Ladenöffnungszeiten.
      Vom Grundkonzept verlief das zweite Döner und Bierfestival genauso wie das erste. Es gab wieder einen Döner für jedes Bandmitglied, und jeder Band stand eine Kiste Bier zu Verfügung. Es kann sein, dass das bei Grup Gençler nicht der Fall war, denn die Band hielt sich wirklich nur für die Zeit ihres Auftritts im Konken auf. Es wirkte als hätten die jungen Türken aus Sicht ihrer Vätergeneration, die Stammgäste des Konken, dort über den Auftritt hinaus nichts zu suchen, denn sie waren alle unter 18. Grup Gençler spielten ergo als erste Band des Abends. Diese perkussionsorientierte türkische Folklore war ein angenehmer Einstieg ins Festival. Jedoch hielten vieler die türkische Saz Bağlama, ein Gitarreninstrument, für eine Sitar.
      „Geil, die türkische Band spielt sogar mit Sitar.“
Diese Fehleinschätzung war bezeichnend für unsere Ahnungslosigkeit bezüglich der türkische Kultur. Grup Gençler spielten ausschließlich Instrumentalstücke.
Als zweites spielten die Wasville B’s ihr punkiges Repertoire. Ihr eingängiger, melodiöser Punkrock erinnerte von der Machart an die ersten zwei Clash-LPs. Zu The Clash bekannten sie sich auch. Bei ihrem Auftritt waren etliche ehemalige Schulkolleg*nnen von der Hebbelschule anwesend, die der 4-köpfigen Band die Daumen drückten. Zu guter Letzt enterten die  Daydreamer‘s Nightmare die Bühne und spielten einen wavigen Gitarren-Punk. Sie trugen weiße Hemden und schwarze Krawatten. Das war das wohl ausgefeilteste Konzert des Festivalabends.
      Ich hatte an diesem Tag zum ersten Mal mein Tapedeck und ein Mikrofon im Einsatz, womit ich alle drei Konzerte auf TDK SA 90 Kassetten aufnahm. Ich schloss das Tape Deck lediglich an die Stromzufuhr an, stöpselte ein einziges Mikrofonkabel in den Mikrofoneingang, nahm etwas Klebeband und eine Trittleiter, befestigte das Kabel mit Klebeband unmittelbar hinter dem ISR-Stecker an der Decke. Das Mikro baumelte wie eine Christbaumkugel von der Decke. Ich musste bloß den richtigen Moment vor Beginn jedes einzelnen Auftritts abpassen, um weder Aufnahmezeit zu verschenken oder den Auftakt zu verschwitzen. Am Ende der Konken-Zeit sollte ich stolze 14 Live-Aufnahmen aus dem Konken zu Verfügung haben. Ich nahm mir vor, daraus irgendwann einen Sampler zusammenzustellen. Bei den Live-Aufnahmen passte der Auftritt von Grup Gençler auf eine Kassettenseite. Doch bei den anderen Bands musste ich die Tapes rechtzeitig vor Ablauf der ersten 45 Minuten umdrehen. Es gelang mir so einigermaßen. Leider gingen Aufnahmen verloren, denn ich bin mir absolut sicher, die Wasville B’s und  Kommando Wolfgang Overath mit dem Tapedeck aufgezeichnet zu haben. Wahrscheinlich waren die Aufzeichnungen als B-Seite zusammen mit einer anderen Combo auf einem Tape, und jemand hatte das Tape direkt nach dem Auftritt abgegriffen.
      Ich hatte für die Festivals vorab Sampler mit Songs aus meiner Plattensammlung aufgenommen, die ich in den Pausen von der Anlage hinter dem Tresen abspielte. Ich legte dabei Wert auf eine passende Musikauswahl. Ich las die Tage in einer Musikzeitschrift eine Annonce des Plattenlabels Rough Trade, das plante, ein internationales Netzwerk mit DJs aufzubauen. Die DJs sollten in eine DJ-Kartei aufgenommen und regelmäßig mit Neuerscheinungen des Rough Trade Labels beliefert werden. Die DJs  wiederum sollten die Neuerscheinungen bewerten und ein Feedback-Formular ans Label zurücksenden. Also schickte ich meine Kontaktdaten an Rough Trade und bekam zu meiner Überraschung in Zukunft regelmäßig Pakete mit Maxi-Singles zugeschickt. Da die Musikindustrie gerade auf CDs umstellte, waren den Paketen immer häufiger CDs beigelegt, zumeist Rough Trade-Sampler, die die wichtigsten Neuerscheinungen enthielten. Auf den Formulare sollte ich die Resonanz auf der Tanzfläche bei bestimmten Songs protokollieren. Wir hatte jedoch nicht den Drive, die Platten und CDs in Konken aufzulegen. Ich blieb bei den Tapes, die ich vorab zusammenstellte und bezog die Promo-Platten von Rough Trade ein, kopierte ausgewählte Songs der Promo-Scheiben auf die Sampler-Tapes.
      Ich schoss auf diesem 2. Festival zum ersten Mal Fotos mit der beschafften Canon AE-1. Ich verschoss fast zwei komplette 36er Aqua-Filme. Auch am Ende dieses 2. Döner- und Bierfestivals gab es eine Jam-Session mit Bandmitgliedern, Besuchern und Mitarbeitern. Nach Beendigung des Festivals waren wir uns einig, dass wir weitermachen werden.
Doch im Trubel der Wiedervereinigung ging bei den folgenden Veranstaltungen leider das Motto „Döner- und Bierfestival“ verloren. Jetzt setzten sich zunehmend andere Köpfe durch.
Zum Jahresende nahmen die Wrongs das Zepter in die Hand. Sie organisierten ein kleines Festival, bei dem sie nicht nur einen Auftritt planten, sondern auch eine improvisierte Pressekonferenz gaben. Sie luden als zweiten gleichrangigen Live-Act die kieler Punkband Black Nivea ein. Dieses dritte Festival war im Prinzip eine Zwei-Band-Show, die auf den Flyern mit dem Titel “North European Worshipper Tour ’89“ angekündigt wurde. Black Nivea besaßen bereits Bühnenerfahrungen und galten als gestandene regionale Punkgröße. Die Planung lief fast ausschließlich über die Wrongs und das Café. Ich hatte mit Planung und Ablauf kaum etwas zu tun. Es war eine wirklich tolle Veranstaltung, sehr stilvoll mit schriller Kleidung und nach Protokoll durchorganisiert. Die Bühnenshow der Wrongs war Glam-Post-Punk pur mit viel Schminke und Kunstblut, etwas horrormäßig und sehr emotional. Black Nivea spielten einen astreinen Punkrock, wie jeder Punk-Fan ihn sich wünscht. Das war das einzige Festival, bei dem Stühle in Reihen für Zuschauer bereit standen, zumal die Wrongs vorab für die sitzenden Teilnehmer eine Pseudo-Pressekonferenz veranstalteten.
Anfang 1990 fand die erste große Party im Konken statt, bei der tatsächlich DJs auflegen. Hier wurden 60s-, Mod- & Soul-Stücke gespielt. Ich habe keine Erinnerung mehr an diese Veranstaltung, die von Lurz organisiert wurde, weiß jedoch, dass ich ohne zu zahlen an der Kasse vorbeidurfte.
Am 3. März fand das vierte Konken-Festival statt. An diesem Festival nahmen größtenteils Bands teil von Leuten, die aus der Errorszene bekannt waren, darunter die Stoneage Stompers, Kommando Wolfgang Overath und Mescalino Desert. Im Error in der Holtenauer Straße wurde weiterhin linientreu Dark Wave, Gothic und etwas Punk gespielt. Es wurde das Festival mit den bisher meisten Besuchern. Der Laden war zum Bersten voll. Das war der Durchbruch des Konken. Das Festival wurde immer noch unter dem Synonym „Döner- und Bierfestival“ angesprochen, auch wenn dieser Titel nicht mehr auf den Postern und Flyern stand.
      Die Stoneage Stompers hatten irgendwo in der Stadt ein Stroboskoplicht geliehen, das vorne an der Bühne platziert wurde. Viele Besucher schmerzten und nervten die grellen Lichtblitze. Es war brechend voll. Nach Ende des Festivals gab es Probleme mit der Busverbindung in die Stadt. Deshalb irrten unzählige Error-Gäste lange durch den Ortskern von Friedrichsort, bis sie einen Weg fanden, zurück ins Error zu fahren. Im Nachfeld des Abends hieß es, mehrere Friedrichsorter Bürger hätten sich beschwert, da nachts so viele Gruftis durch den Ort liefen.
Ansonsten gab es mit Nachbarn kaum Probleme. Viele freuten sich, dass endlich mal was los war im verschlafenen Friedrichsort. Wenn da nicht die Mieter über der Spielhalle gewesen wären. Denen waren die Festivals im Konken zunehmend ein Dorn im Auge, besonders der Menschenschlag, der das Konken frequentierte, die Jugendlichen, die die Konzerte besuchten. Die Polizeieinsätze später wurden von eben diesen Anwohnern provoziert, was dazu führte, dass dem Konken das Garaus gemacht wurde. Da wäre kaum ein Kompromiss möglich gewesen, so verhärtet waren die Fronten.
      Plötzlich hatte die Metal- und Crossover-Szene aus Kiel-Nord Blut geleckt. Ich erhielt zum ersten Mal Demotapes von Bands, die sich offiziell für das nächste Festival bewerben wollten, darunter Tapes von Schizophrenia aus Altenholz, von A.L.D.I., deren Sänger aus Schilksee kam, und von Mind Bomb, die in Dänischenhagen im Punkhexenhaus probten. Das nächste Festival war schon fast zum Selbstläufer geworden, und andere kümmerten sich ums Poster- und Flyer-Design. Das Festival sollte den Namen “Screammetal meets Quellcore-Festival“ tragen. Bei diesem nunmehr fünften Konken-Festival erschien zum ersten Mal das Gegen Nazis-Logo auf den Flyern und Plakaten, da wir es für wichtig hielten, bestimmte Personengruppen von Anfang an für unerwünscht zu erklären und fernzuhalten. Das gelang uns ohne Wenn und Aber.
Das Konken war an diesem Abend gerappelt voll. Jede der drei Bands, sowohl Schizophrenia, A.L.D.I als auch Mind Bomb zog ihr eigenes Klientel, bei dem es deutliche Überschneidunge gab. Ich verschoss zwei 36er Schwarz-Weiß-Filme und war an diesem Abend besonders deshalb sehr glücklich, da sich die zwei Rollstuhlfahrer Kalli und Uve blicken ließen, die ich während meines noch laufenden Zivildienstes betreute. Sie wurden eigens vom Fahrdienst gebracht und wieder abgeholt.
Im Verlauf des Festivalabends gab es leider zum ersten Mal Probleme mit den Schergen, die von Anwohnern gerufen wurde, Anwohner, die rund 50 Meter entfernt über der großen Spielhalle wohnten. Die Polizeiautos in Kiel-Nord hießen damals Möwe 1, 2 oder Möwe 3. Das nahe 7. Polizeirevier entsandte zwei ihrer Polizeiautos zum Konken. Die zwei grünen Fahrzeuge parkten direkt rechts neben dem Eingang zum Konken. Der Revierleiter hieß Rolf C., der zweite Revierleiter Kai B. Letzterer war sogar anwesend. Vielleicht hatte die Polizei inzwischen Angst, dass sich in Friedrichsort eine Art zweite Meierei entwickeln könnte.
So richtig interessant wurde es, als das Umfeld der ehemaligen Punkband Scapegoats aus Klausdorf-Schwentine etwas fürs Konken plante. Aus diesem Umfeld waren Bands wie Go Ahead und Tiny Giants entstanden. Allerdings fand damit auch ein Umbruch der öffentlichen Wahrnehmung statt, denn in Zukunft tauchte immer häufiger die Polizei bei den Konken-Veranstaltungen auf, um Warnungen auszusprechen und mit Abbruch zu drohen.
Als Nächstes erlebte das Konken eine Record Release Party, auf der die Hardcore-Band Go Ahead ihre neue Platte vorstellte. Die Altpunks wurden an diesem Abend von einer Band aus Lübeck namens Midget Allstars unterstützt. Go Ahead galten deshalb als prominent, da der Gitarrist das Fanzine „Die Moderne Ratte“ machte, der Sänger und zweite Gitarrist früher bei den Scapegoats spielte und beim Fanzine Anti-System mitwirkte.
      Beim darauffolgenden Festival mit dem Titel „Kontrast Orgasmus – Trash – Hardcore – Posers“ waren erneut drei Bands am Start: Jig Saw aus Postfeld, Tiny Giants aus Preetz und Keziah Mason aus Mettenhof. Das Konken als Veranstaltungsort wirkte inzwischen durchweg etabliert und akzeptiert. Allerdings wurde der Festival-Titel „Kontrast Orgasmus“ vom Wrongs-Schlagzeuger stark kritisiert. Zu recht.
Die Festivals gewannen eine gewisse Eigendynamik, besonders, wenn außenstehende Personen oder Gruppen das Zepter in die Hand nahmen, um Bands nach ihrem Gusto einzuladen und Werbung mit Flyern, Plakaten und Veranstaltungshinweisen zu organisieren. Das war nicht nur bei Lurz Veranstaltungen oder „Meetings“ der Fall, der Anfang des Jahres den Abend mit Mod-Style Disco und Eintritt organisiert hatte und jetzt ein kleines Festival mit internationalen Bands plante - The Beatpack, The Exist, The Out - , die aus Holland, England und Deutschland anreisten. Das Festival lief über zwei Tage an einem Wochenende Anfang Juni. Ich war wieder Vermittler zwischen Veranstalter und Konken, und das aus Spaß an der Freud, und weil ich an einer weiteren positiven Entwicklung des Konken glaubte und arbeitete. Ich bekam derweil immer mehr Demotapes von Bands zugesteckt, die gerne mal im Konken auftreten wollten - teils dermaßen schlecht beschriftet, dass ich sie später nicht mehr zuordnen konnte.
      Das Publikum wurde derweil immer bunter. Mal ließ sich die Meierei-Szene blicken, mal schaute die lokale Fußballerszene rein. Plötzlich tauchte eine richtige Eskimofrau namens Marei auf, die ihren Wohnsitz von Grönland nach Friedrichsort verlegt hatte, die nur gebrochen Deutsch sprach. Sie wurde immer ganz traurig, wenn sie nach ihrer Heimat Grönland gefragt wurde und rutschte bald in die Drogenszene ab.
      Grundsätzlich musste seit dem Umbruch die Lautstärke jedes Mal reduziert werden, wenn die Polizei restriktiv eingriff. Daran hielten wir uns. Grundsätzlich sollten die Konzerte in Zukunft um 1 Uhr nachts enden. Wir hofften, das irgendwie zurechtbiegen zu können. Wie sich später herausstellte, war die Abwicklung des Konken längst besiegelt. Niemand wurde darüber informiert. Es waren die üblichen Tricks von Polizei und Ordnungsamt in Kooperation mit der Immobilienbranche. Es hieß zunächst, die paar Anwohner, die über der großen Spielhalle wohnten, hätten sich beschwert, da ihnen die Festivals zu laut waren. Niemand wollte vermitteln. Uns wurden auch keine Namen von Beschwerdeführern genannt, was einen Kompromiss erschwerte. Das Verwunderliche war, dass es in den Wohnungen über der Spielhalle ohnehin recht laut war. Die Spielautomaten machten bis ein Uhr nachts einen Höllenlärm, besonders wenn es zu Ausspielungen und Gewinnausschüttungen kam, wenn Verlierer mit den Fäusten gegen die Automaten schlugen oder wenn Billardkugeln aufeinander prallten.
Auf den letzten zwei Festivals war die Polizei ab spätestens 22 Uhr permanent anwesend, um das Treiben am und im Konken zu kontrollieren. Es parkten stets mindestens zwei Polizei-PKW mit offenen Türen und zurückgelassenen Vordersitzen, jedoch, ohne dass die Polizisten nach der anfänglichen Warnung und der Aufforderung, die Lautstärke zu drosseln, ein weiteres Mal ausstiegen. Ich sah einen hochgewachsenen 2-Meter-Polizisten auf dem zurückgeschobenen Fahrersitz eines der Polizeiautos sitzen. Er hatte lange Beine wie ein Grashüpfer. Gegen ein Uhr drängten die Polizisten auf Abbruch. Unsere Ratlosigkeit war enorm.
Dabei hatte dies Festival vielleicht noch 15 oder 30 Minuten länger dauern sollen plus Musik aus der Konserve. All das war nicht mehr möglich. All das  war nicht erwünscht. In der Folgezeit hagelte es Auflagen, die einzuhalten waren, wenn noch ein weiteres Festival stattfinden sollte. Doch diese Auflagen waren zu hart.
      Das Ende des Konken ist schnell erzählt. Die zwei letzten Festivals  fanden im Juli statt. Als die zwei Veranstaltungen terminiert waren, rechnete noch niemand damit, dass das Konken rund ein Jahr später von den Behörden dem Erdboden gleichgemacht sein würde.
Beim vorletzten Konken-Festival erlebten die Besucher ein Hardcore-Festival unter der Regie der Hardcore-Gemeinde Kreis Plön. Es spielten die Bands Go Ahead, Tiny Giants und Otherwise. Eine vierte Band, Charlys War, hatte kurzfristig abgesagt. Dafür sprangen Breaking Through aus Bad Honnef ein. Wahrscheinlich war das Festival mit diesen vier Bands der regional-politische Totalschaden des Konken. Die Cops waren den ganzen Abend vor Ort, betraten das Konken jedoch nicht. Sie zitierten den Chef immer wieder nach draußen, um ihm wieder und wieder die Anweisung zu geben, die Lautstärke zu drosseln. Ebenso sollten sich die Gäste auf dem Vorplatz des Konken  leise Verhalten oder am besten verschwinden. Die neidischen Anwohner riefen an diesem Abend mehrmals die 110, da ihnen die Szenerie zu laut war. Die Anweisungen der Cops gab der Chef schließlich an uns Veranstalter weiter, auch an den Sänger der Tiny Giants. Um 1 Uhr reichte es den Cops. Allerdings betraten sie weiterhin den Laden nicht. Sie gaben die ultimative Order, die Musik sofort abzuschalten, da sonst die Bühnenanlage konfisziert würde. Die Drohungen der Polizei wurden ernst genommen und das Festival schlussendlich um Punkt 1 abgebrochen.
      Ein allerletztes Konken-Festival sollte am folgenden Wochenende stattfinden, und wir hofften immer noch, dass es danach weitergehen könnte. Das war das gemeinsame Konzert von Mind Bomb in alter Besetzung und der Fun-Metal-Band A.L.D.I. Jedoch lag bereits ein Hauch von Abschied in der Luft. Die Zwischenrufe und Kommentare via Mikrofon und aus dem Zuschauerpulk waren sehr derbe, destruktiv und zynisch. Auch die draußen wartenden Cops wurden verbal wieder und wieder thematisiert. Der Sänger von A.L.D.I. schrie noch „Rollant, die Cops sind da!“ Auch an diesem Abend verfügten die Cops einen Abbruch.
      Unmittelbar nach dem Festival erhielt das Konken Post vom Ordnungsamt. Sie schrieben, dass alle weiteren Veranstaltung im Konken bis auf Weiteres untersagt seien. Es sei denn, ein Maßnahmenkatalog würde in nächster Zeit umgesetzt.
      Das Ordnungsamt machte radikale Auflagen für den möglichen Weiterbetrieb. Diese besagten, dass eine Wiederaufnahme der Musikfestivals nur gestattet sei, wenn Schallschutzwände in das Gebäude eingebaut würden. Wir überlegten, eine einfache Schallisolierung im Do-it-Yourself Verfahren zu bauen, sogar die altbewährten Eierpappen wurden ins Gespräch gebracht. Doch das Ordnungsamt blieb hart und beharrte auf der Lösung mit der professionellen Schallschutzwand. Das Amt bezifferte die Kosten mit rund 10000 D-Mark. Zu dem Zeitpunkt stand jedoch der Abriss längst fest, der rund ein Jahr später erfolgte. Aldi benötigte das Gelände für einen neuen Kundenparkplatz und hatte das Grundstück bereits gekauft. Das war unredlich und hätte mitgeteilt werden müssen. Der Pächter des Konken musste sein Lokal aufgeben. Das war einfach nur unfair. Es ist fraglich, ob er eine Abfindung erhalten hat. Das Ordnungsamt hätte wissen und mitteilen müssen, dass der Abriss des Gebäudes bereits beschlossene Sache war.
An den Reaktionen des Chefs erkannten wir, dass er resigniert hatte. Der gute Mann verstarb kurze Zeit nach Abwicklung und Abriss an Herzversagen.
      Für die Polizei und das Ordnungsamt waren die telefonterrorähnlichen Beschwerden ein paar weniger Anwohner ein gefundenes Fressen. Deshalb konnten sie das Konken konsequent abwickeln. Das geschah innerhalb der folgenden zwölf Monate. Der Abriss begann. Schon bald stand kein Stein mehr auf dem anderen. Die Trümmer des Konken wurden abtransportiert, der alte Marinebunker im Keller des Konken wurde zugeschüttet und versiegelt. Dabei probten bis zum Ende noch Bands im Keller des Konken, auch die Wrongs und die Tauben Nüsse, eine Punkband aus Friedrichsort. Später wurde behauptet, es befände sich noch eine Gitarre begraben im Keller des Konken. Als ich eines Tages aus Berlin wieder nach Kiel kam, befand sich an der Stelle ein riesen Parkplatz, wie ihn Kiel-Nord noch nie gesehen hatte.
      Mit dem Abriss war immer noch nicht Schluss mit dem Theater. Der Vize-Revierleiter des 7. Polizeireviers, der auch während des Abbruchs des letzten Konken-Festivals anwesend war, lernte später meine Schwester kennen. Auf dem Kieler Karnevalsfest Schräger-Funken, an der Fachhochschule für E-Technik in der Legienstraße, bat er meine Schwester, mich mit ihm bekannt zu machen. Ich hatte zuvor von ihr für die Karnevalsveranstaltung ein Gratis-Ticket erhalten. Meine Schwester führte mich zu ihrem neuen Freund, ein hochgewachsener 2-Meter-Polizist, dessen Hintergrund mir noch nicht bekannt war.
      „Stell dich mal bei meinem neuen Freund vor!“
Sie führte mich zu dem Polizisten, der mir zur Begrüßung seine Hand reichte, und sich gar nicht mit mir unterhielt. Mir war nicht klar, dass er in die Abwicklung der Konken-Festivals involviert war. Kurze Zeit später gab das Pärchen seine anstehende Hochzeit bekannt, und sie heirateten. In den Jahren darauf leitete der Polizist in seiner neuen Funktion als Revierleiter eine Islam-Kontaktgruppen für muslimische Geschäftsleute in Kiel-Nord, die sich regelmäßig bei ihm vorstellen mussten.









Die Sorgen-Weg-Puppe

Mir fällt es grundsätzlich schwer, Heroinabhängige als Junkies zu bezeichnen, wenn ich diese aus besseren Zeiten kenne, als die Welt noch in Ordnung war und harte Drogen nicht stattfanden. Da passt eher das Wort Heroinkranke. Oder ist es vielleicht sogar besser, aus Selbstschutz, Heroinabhängige trotzdem abwertend als Junkies zu bezeichnen? Das Wort Junkie klingt so schön kurz, so kurz wie das Leben eines Junkies. Heroinabhängiger klingt formal, ist eher das Beamtendeutsch der Sozialpädagogen.

Wenn bekannt wurde, dass jemand auf Heroin war, wirkte das wie ein erdrutschartiger Vertrauensverlust. Bei vielen hattest du es nicht geahnt. Bei einigen wurde erst mit dem Tod bekannt, dass sie auf Heroin waren, weil das Heroin für den Tod verantwortlich war. Viele verharmlosten Heroin mit dem Standardspruch:
      „Ich habe das Heroin nur geraucht, nie gespritzt.“
Einige Leute, die zwar kaputt waren, von denen du das Junkietum wenn überhaupt erahnen konntest, waren plötzlich verschwunden. Über ein paar Ecken erfuhrst Du, die sind jetzt in Hamburg oder Anne-Christijanne ist jetzt in Paris. Oder zuletzt: Barnes frühere Freundin Anne-Christijanne ist in Paris an Eitsch gestorben.
      Ein Friedrichsorter Junkie namens Benny, der immer sehr betroffen war von der Umweltproblematik unten an der Förde, aber auch von der ausufernden Panzerbaukriminalität, der viel über diese Themen diskutierte, schenkte mir eines Tages eine Sorgen-Weg-Puppe. Was heißt schenken? Er drängte sie mir auf.
Benny, der Junkie, hatte wie so viele andere aus unserem Stadtteil in der Panzerbaufirma gelernt, wurde zunächst sogar übernommen und war inzwischen eine ganze Zeit arbeitslos.
Der Junkie war eine Zeit lang mit der Grönländerin Marai zusammen, die Grönland verlassen hatte, weil die Naturzerstörung zu weit fortgeschritten war. Ihr altes Dorf wurde einfach plattgemacht. Sie gehörte einer Eskimofamilie an, hatte langes schwarzes Haar, und wirklich ein ganz süßes nicht alltägliches Gesicht, halt ein Eskimolächeln. Wahrscheinlich hat sie mit ihrer traurigen Geschichte in Friedrichsort alle Herzen gebrochen und eine Depressionswelle ausgelöst. Viele konnten nicht begreifen, dass plötzlich in unserem Stadtteil eine richtige Eskimofrau wohnte. Das zog auch Benny runter, der Junkie, der mir die Sorgen-Weg-Puppe schenkte, als er immer häufiger mit Marai zusamen war.
Benny war nie Punk. Er war weder ein Hippie noch ein Rocker. Er war jedoch so tolerant, dass er sich freute, wenn Punk aufgelegt wurde. Bands wie Dead Kennedys kannte er, und er mochte diese Musik. Er fand sie sogar geil. Privat  hörte er viel eher die Musik, die in den Kieler Drogenhochburgen wie Pfefferminz und dem Hinterhof aufgelegt wurden. Es gab die abwertenden Bezeichnungen Hinterhof-Musik und Pfefferminz-Musik, ja sogar Far Out Musik, auch wenn letztere ihm zu schicki-micki gewesen wäre.
Der Junkie Benny verwendete schon gar nicht mehr Worte wie Bulle, Polizist oder Cop. Für ihn gab es nur „die Schergen“. Als er mit den Friedrichsorter Speed-Dealern abhing, hörten Sie meistens EBM, also Front 242, Frontline Assembly und Psyche. Jedoch ebenso Einstürzende Neubauten non-stop und klassischen Wave wie Joy Division und Sisters of Mercy, die sie kurz Sisters nannten. Die Speed-Dealer waren später alle auf Eitsch, wofür die instabile Marktlage verantwortlich war, denn auch ohne Speed mussten die Scheine reinkommen. Dealer Tomb lässt grüßen.
      Ich hatte nie versucht, Benny zum Punk zu bekehren. Wenn überhaupt, gewöhnte er sich von Hodde P. und mir die Band Wire an, deren erste drei LPs “Pink Flag“, “Chairs Missing“ und „154“ sich in der Szene zunehmender Beliebtheit erfreuten.
Ich hörte zu der Zeit häufig die “Plastic Surgery Disasters“ von Dead Kennedys, blätterte im 20 mal 20 booklet und las die Texte mit. Ich war sehr angetan von dem Lied “Moon over Marine“, da es in unserem Stadtteil mit seiner Umweltproblematik wirklich unter die Haut ging. Für mich war der Song die Nationalhymne aller Küstenanrainer weltweit.
Als Benny mir jetzt die Sorgenpuppe anbot, wollte ich sie nicht haben, denn sie bereitete mir Angst. Ich wusste ja, dass Benny voll auf Heroin war. Er lief immer mit extrem glasigen Augen durch die Gegend, ob ich ihn in Friedrichsort traf oder im Hinterhof, wo er meistens ein Einbecker Bier in der Hand hielt. Und seine Stimme wurde zum Ende seines Lebens hin immer höher, immer schwächer und immer wahnhafter. Er sprach sehr gerne über den Kieler Drogenarzt, bei dem er zwar nicht Kunde war, dessen Tabletten aber trotzdem über Umwege bei ihm landeten.
Die Sorgen-Weg-Püppchen war kleiner als daumengroß, vielleicht nur so groß wie das oberste Glied meines Daumens, aber deutlich dünner. Sie sah aus wie eine Mini-Vogelscheuche aus dem Kaugummiautomaten. Sie war in den Farben Rot und Blau aus Stofffasern hergestellt mit einem Rumpf, Armen und Beinen und einem langen, schlanken Kopf ohne Gesicht. Das Püppchen war komplett aus festem Stoff zusammengewickelt und umschnürrt.
Benny sagte zu mir:
      „Schau mal, dass ist eine Sorgen-Weg-Puppe. Die schenk ich dir jetzt.“
Ich war gleich sehr skeptisch.
      „Na nimm sie doch einfach.“
Er legte sie mir auf die ausgestreckte offene Hand und sagte:
      „Die musst du unters Kopfkissen legen, wenn Du abends ins Bett gehst. Und am nächsten Morgen sind die Sorgen weg.“
Für Außenstehende muss das sehr mysteriös gewirkt haben, als liefe da ein Deal, als würde er mir Drogen auf die Handfläche legen und dazu eine Gebrauchsanweisung geben.
Das bereitete mir ziemliche Angst, dass dieser Junkie, der zu dem Zeitpunkt auch schon wirklich kaputt aussah, mir spontan diese Sorgen-Weg-Puppe schenkte. Wenn er mich nicht zufällig getroffen hätte, hätte er dieses do-it-yourself Püppchen wohlmöglich dem Nächstbesten geschenkt. Ich fühlte mich in irgendetwas hineingezogen. Keine Ahnung, ob das ein Junkie-Kult war oder auf dem Mist eines Therapeuten gewachsen war. Ich war überfordert. Jetzt hatte ich die Sorgenwegpuppe in der Faust, überlegte, steckte sie in die Jackentasche und fuhr mit dem Triton 50er-Jahre Herrenrad nach Hause.
      Mir war gleich klar, dass ich dieses Sorgenpüppchen nicht unter mein Kopfkissen legen würde, denn ich wollte sie nicht haben. Als ich zu Hause war, stand ich vor meinem Bett und überlegte kurz, ob ich Benny den Gefallen tun, und die Puppe tatsächlich unters Kopfkissen legen sollte. Doch mich grauste es vor dem Gedanken und der Angst vor schlaflosen Nächten und Alpträumen. Schlussendlich legte ich das Püppchen nicht unter das Kopfkissen. Stattdessen warf ich sie in eine Dose, in der sich bereits anderes Gedöns befand. Danach stellte ich die Dose beiseite.
Doch ich bekam zunehmend Angst, dass die Sorgen-Weg-Puppe eine Art Voodookult sein könnte, und ich wusste ja, dass der Typ, der mir die Puppe schenkte, ein Junkie war. Ich hatte die Sorgen-Weg-Puppe bereits in der Hand und überlegte, sie mir tatsächlich unters Kopfkissen zu legen.
Oder hatte er diese Pseudo-Voodoo-Puppe selbst gerade geschenkt bekommen? Vielleicht von einer unter- oder überqualifizierten Therapeutin, die es gut mit ihm meinte, und er verschenkte sie jetzt im Rausch aus falsch interpretierter Nächstenliebe an seinen Nächsten?
Schlussendlich entschied ich, dass die kleine rot-blaue Puppe vorerst in der kleinen Schatulle für Gedöns bleibt. Die Sache war mir zu heikel, und der Junkie starb leider sowieso kurze Zeit später an einer Überdosis.
Jetzt hatte ich die verflixte Sorgen-Weg-Puppe irgendwo in der Schatulle, und der Junkie lag schon lange auf dem Friedhof, ganz in der Nähe von meinem Cousin und vielen anderen Ex-Junkies. Ab diesem Moment hätte die Sorgen-Weg-Puppe ohnehin nur Depris erzeugt.
Ich öffnete die Dose noch einmal und sah darin unten in der Ecke die kleine rot-blaue Puppe liegen, die Worry Doll, die sich bereits halb aufgelöst hatte, und ich warf sie schließlich in den Müll. So war das halt in Friedrichsort.
Erst als Benny, der Junkie, bereits lange tot war, erfuhr ich etwas über die Bewandtnis dieser Sorgenpüppchen. Dahinter verbirgt sich eine alte Tradition aus Guatemala und Mexiko, wo diese Sorgenpüppchen Muñeca quitapena genannt werden, die Kleidung im traditionellen Maya-Stil tragen und aus Textilienresten und Draht hergestellt werden. Alpträume hatte ich damals ohnehin. Da hätte ich es im Nachhinein doch mit der Sorgen-Weg-Puppe versuchen können.









Trampen mit Iro und Helicoptereinsatz

(Unfall auf der B404)

Ich trampte mehrmals mit Nille zusammen nach Berlin. Zu der Zeit hielt sich das Gerücht, dass Nille nicht besonders viel Alkohol trank und auch sonst keine Ausfälle hatte, zudem ein gesitteter Mensch sei wegen der kirchlichen Bindung seiner Familie. Doch das lässt sich nicht bestätigen. An diesem Freitagnachmittag fuhren wir zunächst mit dem Bus ins Industriegebiet Wellsee und gingen die letzten paar Hundert Meter zur Trampstelle an der B404. Wir platzierten uns an einer kleinen Haltebucht und hielten abwechselnd den Daumen raus. Wir sahen sehr hart aus an dem Tag, hatten Lederjacken an, trugen Docs und breite kurze Youth Brigade-Iros. Ich meine sogar, dass wir uns gegenseitig die Iros rasierten.
Während des Trampens bekamen wir schon wieder Hass, weil die Reaktionen der vorbeirauschenden Autos unerträglich waren. Dazu nervten die Reaktionen der Fahrzeuge, die aus Tramprichtung kamen, die ja im Prinzip gar nichts mit unserer Fahrtziel zu tun hatten. Schließlich wurden wir von einem Lehrer aufgelesen, der jedoch nur bis Trappenkamp fuhr. Aber das kam uns gelegen. Hauptsache auf Piste und weg hier. Ich hatte nämlich früher schon mal die Situation, dass ich nahe der Alten Meierei am Anfang der B404 zu trampen versuchte und nach gut einer Stunde verzweifelt das Handtuch warf.
Als wir diesmal ab Wellsee trampten, war uns klar, dass wir wohlmöglich nicht in einem Rutsch bis zur A24 durchkommen würden. Das klappte nur in den seltensten Fällen. Der Lehrer ließ uns bei Trappenkamp raus. Dort positionierten wir uns kurz vor der Abfahrt, denn kurz hinter der Abfahrt war das Trampen problematisch. Jetzt kamen bei mir alte Erinnerungen hoch, denn hier in „Krabbenkamp“ waren wir damals zum Wikinger-Punk-Festival, das vom Pogophone-zine in Berlin hochtönend angekündigt wurde. Doch das Festival war kurzfristig abgesagt worden, was wir jedoch erst nach Eintreffen in Trappenkamp erfuhren, als wir von einer öffentlichen Telefonzelle beim Pogophone anriefen. Seitdem war Trappenkamp für uns ein rotes Tuch.
Also standen wir hier und hielten den Pollex raus. Mitten in Schleswig-Holstein waren die Autofahrer genauso primitiv wie bei uns weiter nördlich in Kiel, wenn nicht sogar noch primitiver. Es gab ja auch den Standardspruch „Gott behüt’ uns vor Wind und Böen und vor Fahrern aus Rendsburg und Plön“. Viele der aus Tramprichtung kommenden Fahrzeuge waren mit Gaffern besetzt, die sich offensichtlich an unseren Frisuren aufgeilten. Das erkannten wir an dem dummen Gelächter, den verdrehten Köpfen, dem Rumgehupe und der Schenkelklopferei. Auch die F*cking Beifahrer verrenkten ihre Köpfe aufs Extremste.
Die Verkehrssituation stellte sich nun so dar, dass hinter uns auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine kleine Landstraße auf die B404 traf, die von Koppeln umgeben war. An dieser Stelle befand sich eine fette Ampel. Das Problem bestand darin, dass die Gaffer ihren Kopf verdrehten, um uns beim Trampen zuzusehen und hämische Kommentare abzugeben. Das endete schlussendlich damit, dass ein PKW, der auf der B404 Richtung Landeshauptstadt fuhr, das rote Licht der Ampel übersah. Zur gleichen Zeit bog ein PKW nach links auf die B404 ein, um in Richtung Süden weiterzufahren. Doch die zwei PKW krachten mit führchterlichem Knallen, Scheppern und Klirren ineinander.
Wir waren geschockt, da wir beim Trampen ja genau in Richtung dieses spektakulären Unfalls sahen. Zunächst stellten wir das Trampen ein und blickten in Richtung des Unfallgeschehens. Um diese Uhrzeit am Freitagnachmittag war eine ganze Menge Verkehr auf der B404. Wir fragten uns, ob wir jetzt erste Hilfe leisten müssten, denn es sah wirklich sehr bedenklich aus. Doch es stoppten bereits andere Fahrzeuge, die anscheinend sogar einen Rettungsdienst alarmiert hatten. Aus dem Unfall resultierte ein größeres Verkehrschaos, mit dem wir in der Form nicht gerechnet hatten. Plötzlich ging nichts mehr auf der B404 und die Fahrzeuge stauten sich in beide Richtungen, weil entweder potenzielle Ersthelfer oder Gaffer immer langsamer führen, teils auch stoppten. Wir fragten uns inzwischen, ob wir Schuld an dem Verkehrsunfall waren, weil wir hier trampten. Wir waren uns sicher, dass dieser Unfall nicht passiert wäre, wenn wir nicht an dieser Stelle gestanden hätten. Kurz darauf verfluchten wir das Trampen, denn wir fühlten uns schuldig, und wir wussten nicht, wie es um die Personen in den verunglückten PKW stand. Das Fahrzeug, das den Unfall verursachte, weil Fahrer und Beifahrer gafften, während die Ampel auf Rot sprang, schien glimpflich davon gekommen zu sein.
     „Dieses scheiß Trampen! Ich hab das sowas von satt.“
sagte Nille.
     „Hoffentlich packen uns nicht die Bullen und werfen uns vor, wir hätten durchs Trampen den Unfall verursacht.“
     „Verdammte Scheiße, wir müssen hier so schnell wie möglich weg.“
Wenig später hörten wir ein Knattern in der Luft, und ein Rettungshubschrauber landete auf der Koppel neben der Landstraße. Das war wirklich oberhart, denn wir konnten nichts mehr hören aufgrund der Geräusche der Rotorblätter. Just in dem Augenblick hielt ein PKW, der uns mitnehmen wollte. Wir liefen zu dem Wagen, fragten nicht einmal, wo die Fahrt hingehen sollte, und stiegen einfach ein, denn wir wollten einfach nur weg hier. Beim Festschnallen sagten wir dem Fahrer, der uns fragte.
      „Fahr bitte einfach los, wir wollen nur weg hier.“
Wir sagten, dass er uns notfalls an der nächsten Kreuzung bereits rauslassen könnte, denn hier wollten wir nicht länger stehen. Während wir jetzt freie Fahrt hatten, stauten sich die Fahrzeuge in die andere Fahrtrichtung. Der Fahrer wollte weiter bis nach Schwarzenbek und Grande. Das bedeutete, dass er uns an der Auffahrt zur A24 rauslassen konnte, was auch so geschah. An der A24 wurden wir relativ schnell von einem weiteren Auto aufgepickt, und wir saßen während der ganzen Fahrt still, ohne auch nur ein einziges Wort zu sprechen. Wir waren vollkommen im Arsch, denn der Verkehrsunfall hatte an unseren Nerven gezehrt. In Berlin war die nächsten Tage Saufen angesagt. Wir landeten auch in der Russenbar.
Wir erfuhren nie, ob eine der unfallbeteiligten Personen sogar tot war. Wären wir schuld an dem Tod gewesen? Was wäre, wenn der Fahrer des unfallverursachenden Fahrzeuges der Polizei gegenüber sagte, dass er sich von zwei Trampern irritiert fühlte, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite trampten? Könnte die Polizei deshalb eine Fahndung herausgeben und nach zwei Leuten mit breiten Iros suchen? Wäre es da nicht besser, eine Zeit in Berlin abzutauchen, bevor die Cops uns den Autounfall anlasten könnten? Hätten wir wohlmöglich die zwei Unfallautos bezahlen müssen. Was ging in diesem Rechtsstaat? Vielleich ließ sich nachweisen, dass wir illegal trampten, da an dieser Stelle Trampen verboten war? Wir bekamen jedenfalls Muffensausen, dass unsere Trampaktion mit Zwischenstopp Trappenkamp ein erhebliches Nachspiel haben könnte. Am Ende hörten wir nie weider etwas von dem Vorfall. Die genaue Schadensbilanz blieb unbekannt. Selbst heutzutage habe ich Angst über diesen Fall zu sprechen oder ihn aufzuschreiben und das Geschehene an die Öffentlichkeit zu tragen, weil wir möglicherweise nachträglich für den Unfall mit Sach- und Personenschaden verantwortlich gemacht werden könnten. Vielleicht würden die Cops uns sogar alle im norddeutschen Raum von Trampern verursachten Schäden anhängen, ob zerstörte Straßenschilder, Lackschäden, Diebstähle aus Autos begangen durch Tramper, Dosen- und Flaschenwürfe, übergriffiges Verhalten und vieles mehr. Zum Glück trampten nicht so viele Lederjackenträger mit breiten Iros, sodass der Iro ein astreines Alibi für alle anderen Delikte war. Wir stellten uns schon den Fahndungsaufruf der Polizei vor:

      „Hier noch ein Fahndungsaufruf: Gesucht wird nach zwei jungen Männern in Lederjacken mit Youth Brigade-Iro.“

Wenn ich in Zukunft seit diesem Unfall an der Abfahrt Trappenkamp vorbei fuhr, musste ich ausschließlich an den Unfall mit Hubschraubereinsatz denken, aber nicht mehr wie in früheren Zeiten an das Wikinger-Punk-Festival, das ausfiel. Die alte Geschichte mit dem Pogophone und dem Wikinger-Punk-Festival war seit dem Autounfall überlagert und vergessen, als hätte es das Pogophone nie gegeben.








Hausverbot in der Madonna Bar

Die Grenze war jetzt abgebaut. Frisch in Berlin gingen wir in die Madonna Bar in der Wiener Straße. Der alte Drummer, der zu Besuch war, checkte gleich, dass am Tresen eine krumme Sache lief. Mehrere Personen waren in Verkaufsgespräche verwickelt. Es ging um Koks. Wir machte uns am Zigarettenautomaten zu schaffen. Das scheiß Ding hatte von Nille Geld geschluckt ohne Kippen auszuspucken. Irgendwas klemmte an dem Ding. Das konnten wir uns nicht gefallen lassen. Das war ein Automatentyp, der sonst auch draußen überall an Hauswänden hing. Es gab nur drei Optionen: Entweder wir bekamen das Geld am Tresen ersetzt, was höchst unwahrscheinlich war. Oder wir schafften es, das Geld wieder aus dem Automaten rauszukloppen. Letzteres war technisch unmöglich, sobald das Geld in die Kasse durchgefallen war, ohne den Auswurfmechanismus auszulösen. Möglichkeit drei bestand darin, dass wir den finanziellen Schaden hinnahmen, uns stattdessen jedoch am Automaten rächten, also ihm Schaden zufügten. Also knockten wir zunächst mit der Außenseite der Faust gegen die Seite auf Höhe des Einwurfschlitzes und frontal auf den Bereich zwischen Einwurfschlitz und Geldauswurfluke. Das erzeugte zwar Lärm, führte jedoch nicht zum Erfolg. Als nächstes verpassten wir dem Automat mehrere Tritte mit der Unterseite der Docs. Schlussendlich kamen harte Gegenstände zum Einsatz, sodass es laut schepperte. Auch Barhocker wurden verwendet.
      „Dieser scheiß Automat!“
Es flogen bereits Fetzen vom Automaten ab. Denn es kam Holzfällerfeeling auf. Es dauerte nicht lange, bis wir Hausverbot erhielten. Begründung: Wir wollten den Zigarettenautomaten knacken. Ja gut. Wir hielten uns ein paar Wochen daran, bis wir wieder auftauchten. Willkommen in Berlin.







Hausbesetzer-Punks in Muskelshirts auf dem  Varukers-Konzert

Ich wohnte bereits ein gutes halbes Jahr in Berlin, als bekannt wurde, dass die englische Kult-Punkband The Varukers demnächst im Supamolly spielen sollte. Nille hatte gerade das kleine Zimmer in der kleinen Zweier-WG nahe S-Bahnstation Ostkreuz übernommen. Sein Vorgänger war Hals über Kopf nach Kreuzberg in ein Studentensilo gezogen. Deshalb konnte ich nicht mehr dessen Plattensammlung abhören, darunter Bands wie Social Distortion, Goo Goo Dolls, EA80 und Bullet LaVolta. Er ließ mir allerdings seine zwei The Clash-Songbooks mit Akkord-Notationen da, damit ich „im Osten“ nicht untergehe.
      Bei uns im Nachbarhaus, im Quergebäude oder Seitenhaus, wie einige sagten, probte im Keller eine Band. Da schaute ich mal in den Übungsraum. Die Zustände waren mehr als dubios, denn die Kellerwände bröckelten schon auseinander, aufgeschwemmter Kalk trat aus, zerbröckelte beim Berühren und rieselte auf den Kellerboden. Es stank nach verwittertem Gemäuer. Später sah ich Leute aus der Band im Supamolly, der Nachbar aus dem Seitenhaus arbeitete sogar am Tresen.
      Das Varukers-Konzert sprach sich bis nach Kiel rum, und prompt kam übers Wochenende ein vollbesetztes Auto zu Besuch, um die Varukers live im Keller des Supamolly zu sehen. Sowohl der alte Drummer unserer längst aufgelösten Schulband mit seiner französischen Freundin, als auch Heimerich und der alte Bassist Årge, mit dem ich immer noch im Clinch lag, waren dabei. Jetzt knackten die Leute ein paar Tage in meinem Zimmer.
     Am Tag des Varukers-Konzerts soffen wir erst in der Wohnung in der Corinthstraße, gingen schließlich hoch in die Jessnerstraße ins Supamolly, drei Leute aus der alten Schulband, dazu Nille, Heimerich, die Freundin des Drummers und deren Hund Lola.
      Ich hatte Varukers oft und gerne gehört, hatte die “Die for your Government“ EP, die Ralle mir später abkaufte, hatte die “I don’t wanna be a Victim“ Single, die ich von Brandy gegen die Oi!-Sampler-EP “Back on the Streets“ eintauschte. Die “Bloodsuckers“-LP hatte ich, kurz nachdem sie in den Verkauf kam, von Töle ausgeliehen und auf Tape kopiert. Seitdem hatte sich jedoch bei den Varukers viel getan. Bei mir klafften Lücken, skinheadbedingt und psychobillybedingt.
      Der Weg in die Jessnerstraße war schon oberdesolat. Wir hatten irgendetwas konsumiert, das uns nicht gut bekam. Um uns die Relikte der Ost-Welt gaben Anlass zur Verwunderung und ließen den Weg zum Sightseeing mutieren. Wir bummelten. Ich machte den Scout.
      Die Punks hier wirkten nicht wie die Punks, wie ich sie aus den 80ern aus dem Westen kannte. Sie wirkten gestresst und runtergerockt, von den Ost-Behörden kleingemacht. Sie waren nicht komplett auf Punk gestylt für den Pogo bereit. Sie wirkten nicht, als gingen sie zu einem Hardcore-Punk-Konzert, sondern verpennt und ausgenüchtert zum Zigarettenholen. Diese Ost-Punks schienen den Punk-Dress-Code, den die Varukers predigten und ihre Early-80s-Arbeitskollegen wie One Way System und Chaotic Dischord nicht ernst zu nehmen. Was nützt dir deine aufwendig erstellte Do-It-Yourself-Nietenjacke, in die du teils Wochen, Monate oder Jahre investiert hattest, um sie zu beschriften und mit Buttons und mit Nieten zu versehen, wenn du sie zu solch entscheidenden Terminen zu Hause läßt? Schlabberlook und hängender Iro, Punks aus der Stadtflucht- und Neuansiedelungsphase Ostberlins nach der Niederkunft der Mauer. Im Schlabberlook, als kämen sie direkt von der Couch im besetzten Haus Scharnweberstraße oder vom Frühstück am Bauwagenplatz Ecke Revaler Straße. Ich vermisste das Orientierungssaufen vor dem Veranstaltungsort vor Beginn des Konzerts, so wie wir es aus Hamburg kannten.
      Um es kurz zu machen: Ich habe fast keine Erinnerung mehr an das Varukers-Konzert, da wir einfach zu breit waren. Jedenfalls brauchten wir eine Weile, bis wir checkten, dass wir in der Kneipe oben durch eine dicke Stahltür mussten und die Kellertreppe runter bis ins Kellergewölbe.
Ich weiß nicht mehr, wer als Vorband spielte. Kann mich nur erinnern, als wir irgendwann in den Keller des Supamolly gelangten, und dort brennende Fackeln am Spiel waren. Die Fackelshow muss auf der Bühne oder während des Konzertes vor der Bühne abgelaufen sein mit Fackeljonglieren und Feuerspucken. Vielleicht fand das Fackeljonglieren vor oder nach dem Konzert statt. Oder hatte ich gar nichts gepeilt und die Fackelshow lief auf einem Hinterhof? Ich habe alles nur schemenhaft vor Augen. Das was ich von dem Konzert sah, war die Hölle. Ich sah Fackeln, ich sah Schatten, ich sah dunkle Kellergänge, ich sah Hausbesetzer-Punks in Muskelshirts. Im Hauptraum dröhnte die Musik. In den Gängen, auf dem Treppenabgang und in den Nebenräumen waberte die Pogo-Musik dumpf. Jedoch machte ich keinen mir bekannten Song der Varukers aus, von denen ich doch die erste Pogo-Platten, zwei Singles, sowie einen Samplerbeitrag kannten. Ich fragte mich,
      „Wer spielt denn da?“
weil ich die Varukers nicht wiedererkennen konnte. Wir wunderten uns alle. Aber vielleicht waren wir einfach zu duhn? Viele der Punks vor der Bühne sahen so aus wie die Punks auf der Bühne. Es war ein wirkliches Erlebnis in Sachen Punk. Als wir das Supamolly verließen, fragten wir uns bereits, ob das wirklich die Varukers waren, oder ob es ein Konzert von berliner Hausbesetzer-Punks für berliner Hausbesetzer-Punks war. Sei es drum. Wir waren jedenfalls inspiriert und glücklich.
Irgendwie endete die Nacht in Friedrichshain oder im Prenzelberg. Sonntagmorgen war Frühstück am Kollwitzplatz angesagt, denn da wollte der Drummer unbedingt hin. Wir saßen da und diskutierten über Berlin. Sontagnachmittag Abfahrt nach Kiel, die Besucher waren befriedigt.
      Ab dem Tag gefiel mir das Supamolly immer besser. Ich verirrte mich immer häufiger hier her, entweder in die Kneipe oder in den Keller. Später bemerkte ich, dass der Bruder eines Abi-Kollegen aus Kiel, hier in der Crew des Supamolly mitwirtschaftete. Beide kamen ursprünglich aus Kanada.
      So konnte es jetzt in Berlin ruhig weitergehen: Punkstraßenfeste, Punkkonzerte in der Disco, Punkkonzerte auf der Spreeinsel, Mauerparkpogofestival, Punk an der Uni, Punk in der Potse, Punk im besetzten Haus, Punk auf Hinterhöfen, Punk im 1. Stock im Abrisshaus gesehen von der Straße aus, da die Fassade fehlte, KGB-Festival am Ostkreuz oder US-Punkfestival im Metropol. Berlin hatte was. This is Berlin, Not Ost-West-Konflikt.








Mein Weg zu den Misfits im SO36

Ich hatte nicht gepeilt, dass die US-amerikanische Horrorpunkband The Mistfits aus Kalifornien demnächst im SO36 spielen sollte. Zu der Zeit befand sich mein Wohnsitz in der Corinthstraße in Berlin- Friedrichshain, und ich hatte jede Menge Stress mit der Wohnungsbaugesellschaft und rechtsradikalen Nachbarn. Ich kann mich erinnern, was ich zu der Zeit las, Ulysses von James Joyce. Die Oberbaumbrücke war komplett gesperrt und eine Fußgängerbrücke führte stattdessen über die Spree, circa Hundert Meter links neben der Oberbaumbrücke, von Kreuzberg aus gesehen. Der KGB-Markt am Marktgrafendamm existierte noch nicht, allerdings der Autostrich auf der Zubringerstraße zur Halbinsel Alt-Stralau, seitdem bekannt war, dass dort das Olympische Dorf für Berlin 2000 errichtet werden sollte.
      Ich ging gerne auf Flohmärkte zum Stöbern, nicht nur an der Straße zum 17. Juni, sondern auch am Reichpietschufer oder selten mal auf dem Moritzplatz. Als ich schließlich an einem Sonntag auf dem Moritzplatz am Flohmarkt vorbeikam, ging ich einmal kreuz und quer übers Gelände und fing wie gewohnt an zu stöbern. Hier standen unsystematisch, eher kreuz und quer etliche Tapeziertische mit Flohmarktartikeln. Ich wollte nur etwas rum gucken und nichts kaufen, bis ich auf einem Tisch eine zerschlissene Lederjacke bemerkte. Ich probierte sie sogleich an, und sie passte wie angegossen. Sogar der Reißverschluss vorne funktionierte einwandfrei, bloß die Reisverschlüsse an den Taschen waren irreparabel, ebenso wie die Innentaschen. Vorne an den Ärmeln war das Innenfutter bereits verschlissen und hing lose, sodass sich der umgenähte Ledersaum vorne an den Ärmeln löste und abklappte. Deshalb waren die Ärmel geringfügig länger, vielleicht so um die ein bis zwei Zentimeter.
      „Wie teuer ist die Jacke?“
fragte ich und hatte die Jacke vorerst anbehalten, betrachtete meine Arme, wie sie sich in der Lederjacke bewegten und ob sie beim Bewegen der Schultern weiter stabil blieb und nicht einriss. Die Nähte hielten.
      „Zehn D-Mark!“
antwortete eine der beiden Frauen mit Kurzhaarfrisuren, die hinter dem Tapeziertisch standen. Ich betrachtete das Leder der angezogenen Jacke und sagte schließlich
      „Okay, die nehme ich!“
Ich war zu dumm zu Feilschen. Die Jacke zog ich gar nicht erst aus, latzte das Geld ab und schlenderte weiter über den Flohmarkt. Nach einer Weile gelangte ich zu einem Tapeziertisch, auf dem mehrere gebrauchte Band-T-Shirts lagen. Die T-Shirts waren so zusammengelegt, dass jeweils die obere Hälfte der Vorderseite des T-Shirts mit dem Aufdruck zu sehen war. Plötzlich erkannte ich den Schriftzug der Band Misfits.
Geil, dachte ich, nahm das T-Shirt, hielt es oben an den Schulterpartien fest, sodass das zusammengelegte Shirt nach unten aufklappte. Doch ich fand das T-Shirt-Motiv der Misfits ziemlich schlecht. Nicht nur, dass der Bandschriftzug sehr klein war. Die darauf abgebildeten Elemente wirkten eher wie eine Krickelzeichnung aus einem Zeichentherapiekurs. Es waren mehrere einzelne Zeichnung auf dem schwarzen T-Shirt abgedruckt, Fledermäuse, Hexenhüte, Grabsteine, Kreuze, Raubtiere und diverse schwer zu identifizierende Fabelwesen. Ich wollte es gerade wieder weglegen, als die Verkäuferin rief
      „Fünf D-Mark!“
Da zuckte ich zusammen, schaute mir das T-Shirt und den Stoff etwas genauer an und sagte schließlich
      „Okay, das nehme ich! Das ist es mir wert.“
Ich war erneut zu dummm zum Feilschen. Im Hinterkopf dachte ich an den nächsten Diskobesuch, bei dem ich mich mit dem Shirt zeigen könnte. Ich hatte schon per Auge gepeilt, dass es mir sicher passen würde. Außerdem trug es ein XL-Schildchen hinten im Nackenbereich. Doch so toll fand ich das T-Shirt ehrlich gesagt nicht. Aber es war besser als gar nichts. In nächster Zeit zog ich es hin und wieder an, wenn ich abends in Kreuzberg oder in Friedrichshain unterwegs war, oder, was auch wieder häufiger vorkam, im Prenzlauer Berg. Es war ja immerhin das T-Shirt einer US-Kultband, die ich damals zum ersten Mal hörte, als die Evil-live EP rauskam, die ich mir von Mongolei-Rolf auslieh, um sie auf eine TDK-Kassette zu kopieren. Doch die Band war mir damals nicht hart genug, sodass ich das Tape kaum hörte. Das Shirt war schon ziemlich verwaschen, der Aufdruck war nicht mehr weiß, sondern eher beige mit ersten Rissen im Linolaufdruck. Aber für 5 € war es akzeptabel.
Jetzt kam dieser besondere Samstagabend. Ich war alleine in Kreuzberg unterwegs und ging die Oranienstraße entlang. Ich plante an diesem Abend  in die Milchbar zu gehen, ins Franken, Wiener Blut oder in die Weiße Taube. Es war noch recht früh für eine typische, ausgelassene berliner Samstagabendkneipenatmosphäre.
Ich trug an diesem Abend sowohl das Fünf-D-Mark-Misfits-T-Shirt als auch die Zehn-D-Mark-Lederjacke vom Moritzplatz, an die ich mehrere Buttons befestigt hatte, darunter ein Crass-Button mit der Hand von “Your Country needs you“ und einen P.I.L.-Button.
Schließlich kam ich wie ferngesteuert zum Franken, und auf der gegenüberliegenden Seite befand sich das SO36. Alles wirkte wie ausgestorben, als ich plötzlich eine Klapptafel vor dem SO36 stehen sah. Ich wechselte sofort die Straßenseite, um zu sehen was auf der Tafel angekündigt war.
Ich bekam ein heißes Gefühl in der Magengegend, ja sogar Schmetterlinge im Bauch, als ich las dass an diesem Abend die Misfits im SO36 spielten, und das Konzert lief bereits. Jedoch war ich so gut wie pleite und hätte mir vielleicht zwei oder drei Biere leisten können, aber ganz sicher kein Konzertticket für die Misfits. Ich war jedoch dermaßen neugierig und unternehmungslustig, dass ich wie von Geisterhand getrieben das SO36 betrat, um es auf einen Versuch ankommen zu lassen, mich illegal an der Kasse vorbeizudrängeln. Ich ging zielstrebig immer weiter, als ich an der Kasse vier gut gelaunte Personen mit Punk-Frisuren sitzen sah, die sich vergnügt unterhielten. Als ich auf sie zuging lächelten sie, unterhielten sich weiter, während ich sie kurz ansah, und ging wie selbstverständlich schnurstracks geradeaus an den Typen vorbei. Ich machte mir gar nicht erst die Mühe einen Moment stehen zu bleiben. Schnellen Schrittes ließ ich die Kasse hinter mir und ging immer weiter geradeaus, wurde also weder gegrüßt noch nach einem Ticket gefragt. Ich ging immer weiter und weiter und erwartete insgeheim, dass mich jemand zurückpfeifen könnte oder so etwas wie „Stop!“, „Stehen bleiben!“, oder „Hast du ein Ticket?“ hinterher rief. Nichts dergleichen. Es hätte ganz sicher ein weiteres Hausverbot hier in Kreuzberg geben können und weitere Unannehmlichkeiten. Doch das Glück war mir treu. Ich ging immer weiter und weiter, trat in den Saal des SO36 und tauchte ein in die wunderbare Welt der Misfits. Es war wie ein Traum. Das, was sich hier abspielte, war überwältigend. Das Konzert schien mehr als ausverkauft zu sein. Ich stand jetzt da am Anfang der Halle mit offenem Mund und offener Lederjacke, sah die vier Misfits götzenhaft und gottgleich auf der Bühne stehen. Die Haut der Bandmitglieder war komplett weiß geschminkt, sowohl im Gesicht, als auch am Hals, den Armen und am gesamten nackten Oberkörper. Die Haare waren glänzend japanisch-schwarz und fielen in langen Strähnen Kamikaze-style ins Gesicht. Boots und Hosen waren schwarz, alles mit viel Nieten und Metall. Das SO36 kochte, und die Misfits waren die Sterne-Köche. Zu dem Zeitpunkt lief das Konzert bereits über den Daumen gepeilt eine halbe Stunde. Das erfuhr ich von dem freundlichen Punk, der neben mir stand. Doch die Misfits spielten ein volles Programm inklusive mehrerer Zugaben. Plötzlich war ich mittendrin statt nur dabei. Es war wirklich traumhaft und unvergesslich. Ich kaufte mir zwei Biere und war in meinem Element, kam mit weiteren Leuten ins Gespräch, bis plötzlich ein alter Kumpel aus Dänischenhagen nördlich von Hamburg vor mir stand. Wir umarmten uns. Die Freude war groß, nach so langer Zeit mal wieder aufeinander zu treffen. Doch in dem zunehmend ausufernden Konzertrummel verloren wir uns nach ein paar Minuten wieder aus den Augen. Der Abend war phenomenal.











Fragmente





Neuigkeiten aus Friedrichsort

In Friedrichsort passiert nicht viel. Ich ziehe dem Postboten Harald Orth ein Kondom über die Türklinke, damit er sich aufregt, wenn er von der Arbeit kommt. Pinten-Lothar pisst am Samstagnachmittag aus der Eingangstür der Pinte. Ich klaue mit Pajo, dem Sohn von Pinten-Heidi, Fleisch bei Minimal. Ackel Dosse kriegt von Kletke auf die Fresse, der angeblich Karate kann. Martin Örtel kackt vors Handballtor auf dem Abbi. Der Schiss ist tagelang existent, bis die Kinder ihn wegbringen. Uwe Sörks Mofa war defekt, weshalb er zu Fahrrad-Bichel musste, wo er selbstständig basteln durfte. Heroin-Holger macht in der Pinte Tresen, wird von einem Polizisten in Freizeitkleidung gewarnt, dass er aufpassen soll. Schurre f*ckt Susi Obst auf dem Billardtisch im Köm Deel. Unser Einbruch im Sportheim. Hannes, der Werfarbeiter, Arndts Onkel, zeigt uns in Unterhose Löcher in seiner Haut, die von Sandstrahlverletzungen herrühren. Er hat dabei Tränen in den Augen. Schwere Zeiten beim Fußball: Ein Mannschaftskollege kippt von der Schiffswand eines Doppelhüllentankers und ist sofort tot. Er kam von einem Tag auf den anderen nicht mehr zum Training. Uns erreicht die Nachricht während des Trainings auf dem Grandplatz. Alle sind betroffen. Wir bringen das Training an dem Abend mit Tränen in den Augen zu Ende. Die beiden Böhm-Brüder Alfons und Gerhardt hauen sich in der Friedrichsorter Straße gegenüber der Spielhalle tierisch auf die Glocke. Das geschah lange, bevor Leiche nach Friedrichsort zog. Ich kriege Silvester von $abrina auf die Fresse. Die Silvesterfeier fand in Dorf Pries bei Pajo in der Garagenwohnung statt. $abrina war der Meinung, dass ich der eingeladenen Subway-Tresenfrau hübsche Augen zugeworfen habe. $abrina sagte
      „Das geht auf keine Kuhhaut.“







Die Apposition f*cking

Ringo hatte inzwischen das Wort f*cking erfolgreich von seiner England-Tour importiert und in seinem Umfeld etabliert. Er sagte:
      „Die Engländer immer mit ihrem scheiß f*cking.“
Dabei benutzte er f*cking als Kieler wahrscheinlich häufiger als ein Großteil der Engländer. Er verwendete F*cking vor allem als Apposition bei Namen von Bekannten, über die er während deren Abwesenheit im Guten lästerte, also freundschaftlich. f*cking Hecker, f*ucking Wisent, f*ucking Spike, f*ucking Konz, f*cking Heimerich, f*cking Shelter, f*cking Jetzt-Keits. Das Wort konnte aber auch im Negativen verwendet werden: f*cking Karl Melitz, weil er auf Bloody Adolf abfuhr, f*ucking Konz (ab 1984), die f*cking Acer (im Hinterhof und Böll). Aber auch Körperschaften, Gegenstände und Gruppierung, ja fast alle Substantive konnten den Zusatz f*ucking erhalten wie in einer generativen Punk-Grammatik. Der f*cking Bierautomat, die f*cking Cops, die f*cking Gesamtschule, der f*cking Bus, der f*cking Busfahrer, die f*cking KVAG, das f*cking ERROR, die f*cking Bergstraße. f*cking hatte dabei die gleiche Funktion wie im Deutschen das Adverb „scheiß“ oder „verflixt“.








Ein Klassenkammerad erzählt, wie ich Sprengstoff herstellen soll

Ich stand ja schon länger in der Schusslinie meiner Klassenkollegen, sowohl aus dem linken als auch aus dem rechten Spektrum.
Jetzt sprach mich ein „Klassenkammerad“ an und wollte mir ganz unmotiviert erklären, wie ich in Eigenproduktion Sprengstoff herstellen kann. Ich weiß nicht, weshalb er sich dazu berufen fühlte. Er wohnte in einem Einfamilienhaus in Dänischenhagen in der Straße, in der sich das Sportheim befand. Er wirkte schon als Schüler wie ein kleiner Staatssekretär. Mir ist schleierhaft, weshalb er mir unmotiviert eine Einleitung ins Bombenbasteln verpassen wollte. Er führte den gleichen Nachnamen wie der Lateinlehrer aus Strande. Beide waren jedoch weder verwandt noch verschwägert.
Der Mitschüler hielt mir einen wahren Vortrag mit Bastell- und Bedienungsanleitung
      „Du kannst diese und du kannst jene Chemikalien dafür verwenden.“
      „Ach wat?“
Ich empfand dies Gespräch in der Pause vor der nächsten Unterrichtsstunde als Erholung, da er nur erzählte und ich nicht gefordert war. Er bezog sich immer wieder auf Düngemittel und Unkrautvertilger, aus denen sich der beste Sprengstoff erstellen ließe. Was er erzählte, wirkte informell, als ginge es darum, mich kurz und bündig über den Einsatz von Do-it-yourself-Sprengstoff zu informieren. Er verwies in punkto Menge und Sprengkraft auch auf andere Sprengstoffe wie Plastiksprengstoff und Nitroglytzerin.
      „Das hat eine Wirkung wie Nitroglytzerin.“
Am Ende seines Monologs versuchte er mich mehrmals zum Handeln zu motivieren.
      „Versuch das mal!“
und
      „Mach das mal. Das kannst du.“
 





Party bei Schlichti

Schlichtis Vater war Vorsitzender des Schleswig-Holsteinischen Tischtennisverbandes. Sie wohnten in einem großen Haus mit großem Garten in Melsdorf. Schließlich lud Schlichti alle seine Skinhead-Kumpels zu sich in den Garten ein. Es waren auch SKA-Leute dabei. Wir grillten auf der Terrasse und hörten Oi-Musik. Es gab keinen Zaun zwischen den beiden Grundstücken. Je voller wir wurden, desto unkontrollierter liefen wir durch den Garten und landen schlussendlich am wasserleeren Swimming Pool des Nachbarn. Wir überlegten, wie wir Wasser in den Pool einlassen könnten. In der Dunkelheit wurde versucht, andere Partygäste zum Sprung in den leeren Swimming Pool zu animieren. Zwischendurch irrten wir durch F*cking Melsdorf. Schlichtis dicke Freundin, die er am laufenden Band betrog, stritt wieder mit ihm. Sie stritten sich überall, wo sie gemeinsam auftraten, auch auf offener Straße in der Stadt. Keine Ahnung, ob das eine Show war.







Hakenkreuze zu Fensterkreuzen
  
Nachdem Gerd, der Scharfmacher, ihn über einen längeren Zeitraum stetig bearbeitet und zum Fascho mit dem Blubberkopf mitgeschleppt hatte, bekam er äußerst seltsame Anwandlungen. Während des Unterrichts war er  unkonzentrierter als sonst. Er kritzelte alles Mögliche auf den Tisch. Plötzlich fing er damit an, ein winziges Hakenkreuz auf die Holztischplatte zu kritzeln, das einen Durchmesser von weniger als fünf Millimetern besaß. Als er damit fertig war, folgte das nächste und das nächste. Es wurden immer mehr. Er war nicht mehr Herr seiner selbst. Bald war die gesamte Tischhälfte übersät mit kleinen Swastikas. Das war natürlich hochriskant, krank und pervers. Es sah zwar aus, als würde er schreiben, doch er kritzelte auf dem Tisch herum. Sein Tischnachbar war angewidert, trug den Regelverstoß aber nicht weiter. Es war bekannt, dass einige der Lehrer in den Pausen, vor den Klausuren durch die verlassenen Klassen gingen, um die Tische auf Spickinformationen zu überprüfen. Er hatte Glück, dass es niemand bemerkte oder bemerken wollte. Das hätte sein letzter Tag an der Schule gewesen sein können.
Und während er früher bei Spraydosenaktionen in Kiel-Nord die Namen von Punk-Bands an die Wände sprühte und auch mal ein Anarchiezeichen, sprühte der Idiot nach seiner Umpolung durch Gerd und den Blubberkopf plötzlich sowohl Punk-Grafittis als auch rechtslastige Parolen, irgendein Schwachsinn mit Anti-Kommunismus. Was war mit ihm los? Seine Großeltern waren doch auch schon mehr oder weniger in diese Fascho-Falle getappt.
Als ihm kurze Zeit später das ganze Unheil klar wurde und ihm der Wahnsinn dämmerte, saß er plötzlich wieder an seinem alten Schultisch, der immer noch übersät war mit kleinen Hakenkreuzchen. Jetzt fing er an, jedes einzelne Hakenkreuz mit vier Strichen vom jeweiligen Endpunkt zum nächsten Winkel auszuzeichen, sodass quadratische, umrahmte Fensterkreuze entstanden. Das war jetzt seine Hauptbeschäftigung, während vorne der Unterricht ablief. Er begann endlich gegen den Wahnsinn anzukämpfen, bis schließlich das letzte Hakenkreuz auf dem Tisch unkenntlich gemacht war. Sein Genesungsprozess hatte begonnen. Seine Skinhead-Phase war zwar ein für alle Mal vorbei, aber dennoch nicht ausgestanden. Die Leute, die ihren Irrtum erkannten und sich aus der rechten Szene freigekämpft hatten, sollten trotz allem wieder respektiert werden. Geschieht dies nicht, entstehen weitere Konfliktherde.
 
 




$ ERROR-Kaffee-Clique

$ zog inzwischen ganz andere Saiten auf und trank schon lange nicht mehr mit den Boot Boys auf offener Straße. Stattdessen startete sie eine kleine Kaffee-Clique, die sich regelmäßig im ERROR traf und meistens am Tresen saß und quatschte.
Sie saßen nebeneinander oben am ERROR Nachmittags-Tresen, rauchten eine nach der anderen und klatschten unaufhörlich. Nachts im Error war $ nicht anzutreffen. Trotzdem war sie bestens informiert über die Vorgänge in der Nacht. Das lag daran, dass viele nächtliche Vorfälle am ERROR-Nachmittagstresen rekapituliert wurden. Übrigens gehörte auch der Türsteher Artus dieser Kaffee-Clique an, und der saß nachts am Knotenpunkt des Geschehens, nämlich am Eingang. Er vermochte viele Vorfälle aus erster Hand zu berichten. Es wirkte wie ein Nachbesprechung der ERROR-Zwischenfälle.
Später traf ich $ oben im Error-Café. Im Error war zwar Café-Betrieb, jedoch war der Disco-Betrieb längst eingestellt und sollte nie wieder stattfinden. $ erzählte, dass ihr Hund Leik gerade vor ein paar Tagen gestorben sei. Ich sagte ihr, dass mir das Leid täte. Als ich jedoch fragte, ob sie sich einen neuen Hund zulegen möchte, drehte sie durch.
      „Du Schwein!“
schrie Sie und attackierte mich. Da erkannte ich, wie sehr sie an ihrem Hund gehangen haben musste, und dass ich ihre Gefühle verletzt hatte.







Der Hardcore F*ck

Ich fuhr nach dem Training zu $. Wir landeten schnell im Bett. $. hatte die Ratte vom Buchcover „Die Rättin“ auf den Unterarm tätowiert und war sehr gut gebaut. Als ich auf ihr lag und meinen Rhythmus fand, spürte ich plötzlich an zwei Stellen gleichzeitig ein Stechen auf dem Rücken. Sie hatte mir mit den Fingernägeln links und rechts gleichzeitig in den Rücken gekratzt, sodass ich laut vor Schmerzen aufschrie und innehielt. Das wirkte wie das Eindringen von Katzenkrallen ins Fleisch. Ich fing wieder an mit dem Rhythmus.
Sie stach mir erneut mit den Nagelspitzen ins Fleisch
      „Aaaah! Das tut weh!“
Wenig später ging es damit weiter, und sie kratzte mich erneut mit links und rechts. Sie kratzte wieder und wieder, sodass ich immer wieder den Rhythmus verlor. Am Ende sah ich aus wie Bruce Lee nach seinem härtesten Kampf, ein Kampf mit einem Tiger.
Ich spürte tagelang an einigen Stellen die vernarbten Wunden der blutig gekratzten Haut unter dem T-Shirt. Die Kratzwunden juckten wie Insektenstiche. Die Rabe war kirschfarben dunkelrot. Ich fühlte mich wie ausgepeitscht.
Als ich zwei Tage nach dem F*ck zum Fußballtraining ging und mich in der Kabine umzog, stand ich mit freiem Oberkörper mit dem Gesicht ausgerichtet zu den Kleiderhaken. Da schrie der erste Mannschaftskollege:
      „Oah, guck Dir das mal an. Warst Du bei einer Domina?“
Mir war das nicht so klar, wie schlimm die Kratzwunden auf meinem Rücken waren. Plötzlich umringte mich die ganze Mannschaft.
      „Was haben die denn mit Dir gemacht?“
      „Hattest Du Blutegel auf dem Rücken?“
      „Hast Du mit einem Raubtier gekämpft?“
      „Rollant, bist Du ausgepeitscht worden?“
Ich galt jetzt bei meinen Fußballjungs als Mann.






$abrina nimmt mir meinen besten Pullover

Es war wirklich mein bester Pullover. Ich hatte ihn von meinem Großvater geschenkt bekommen. Das gute Stück war rot und schwarz und ziemlich dick und schwer. Er passte mir perfekt. Es war das ideale Kleidungsstück für die Übergangszeit, für Zelten, Lagerfeuer und Ausflüge, wenn gegen Abend kühlere Temperaturen aufkamen. Ich wurde immer wieder wegen des Pullovers angesprochen, wo ich den her hatte und ob es den irgendwo zu kaufen gebe. Doch er war uralt. Ich bekam auch finanzielle Angebote. Das passierte mir sonst nur mit meiner braunen Lederjacke, die ich in Mettenhof auf einem Altkleiderkontainer gefunden hatte, die ich beim Türken kürzen und ein Hemd mit Tartanmuster als Innenfutter einnähen ließ. Die Lederjacke wurde mir später in Berlin geklaut. Der Pullover wurde mir 100pro in Dänischenhagen abgegriffen. Theoretisch kann es sogar Hecker gewesen sein. Das geschah, als ich temporär bei $abrina wohnte, da mich meine Eltern rausgeworfen hatten. Ich hatte auch ein paar Klamotten mit im Punkhexenhaus. Mein Ledermantel, den ich damals bei der Inbesitznahme des Hausbesetzer-Cafés durch die Punks trug, noch mit HB-Zigaretten in der Innentasche, gefiel $abrina so sehr, dass sie ihn unentwegt trug, bis ich ihn ihr zum Geburtstag schenkte. Da sie mittlerweile den rot-schwarzen Pullover meines Großvaters Willy trug, rechnete ich schopn damit, dass sie ihn mir ebenfalls streitig machen könnte. Wir schossen damals viele Fotos auf Partys und im Übungsraum. Wie mir später auffiel, trug $abrina auf den Fotos seltsamerweise meistens den schwarz-roten Pullover. Sie fragte mich mehrmals, ob ich ihr den schenken könne. Ich verneinte, da es mein bestes Stück war und sie bereits den Ledermantel hatte. Doch plötzlich war er weg, verloren für immer. Ich hatte No Feelings und ignorierte das. Ich betone das hier als Alt-Punk.







Diskussionen über Ideologien

Klar wurde auch mal diskutiert, was das bessere System sei, die BRD oder die DDR, ob der Kapitalismus oder der Sozialismus. Es wurde eingeschränkt, Kapitalismus sei ein Extrem, und wir leben gar nicht im Kapitalismus, sondern in der freien Marktwirtschaft. Dem wurde entgegengehalten, Kapitalismus seien die Auswucherungen, die Perversionen in unserem System der Sozialen Marktwirtschaft.
      „Das ist doch Kapitalismus, wenn es diese Auswucherungen gibt!“
      „Nicht freie, sondern soziale Marktwirtschaft, bitte.“
Ähnlich unklar verhielt es sich bei der Bewertung der DDR.
      „Das ist doch ein totalitärer Staat.“
      „Kommunismus und dessen Endphase Sozialismus sind doch nur eine Ideal.“
      „Das hat nichts mit Kommunismus zu tun, das ist ein totalitärer Staat. Die Leute werden unterdrückt und an der ‘Zonengrenze' erschossen.“
      „Jedes System scheitert an der Korruption, es kann noch so gut geplant sein. Der Mensch ist einfach nur schlecht und gar nicht in der Lage zu einem gerechten Staatssystem.“
      „Genau. Und wenn es anfangs gerecht zugeht, wird es in wenigen Jahren von der Korruption zerfressen sein, egal ob Marktwirtschaft, Demokratie, Kapitalismus oder Kommunismus.“
      „Das Problem ist nicht das System, sondern der Mensch.“







Kneipenfußball fürs Subway

Das Subway befand sich seit 1986 in der Damperhofstraße in den Räumlichkeiten des ehemaligen Damper Clubs. Im Damper hatte ich seit 1983 Hausverbot. Nach einem Jahr Existenz zog das Subway in die Bergstraße in die Räumlichkeiten des alten DNA und Prisma. Das Subway bediente meinen Musikgeschmack. Einer der DJs war zudem Plattenverkäufer des wichtigen Subkultur-Plattenladens Blitz, der seine Ursprünge nahm in der Schauenburgerstraße 37, zwei Hauseingänge links vom Nieselpriem. Das Nieselpriem wurde später temporär in „Lever duad as Slav“ unbenannt. Das ist ein Plattdeutscher Spruch, der so viel bedeutet wie ‘Lieber tot als Sklave’. Im Subway in der Bergstraße hingen wir manchmal mit unserer Schulband Wanking Willy ab. Das Subway rief bald eine Kneipenmannschaft ins Leben, die in der Kneipenliga spielte. Die holten mich wegen meiner Punkfrisur mit ins Team. Ich schoss ein Tor, dass der Besitzer von Blitz mir auflegte.