Mittwoch, 11. August 2021

More PSEUDO - Der pissgelbe Punkroman


Das Warten hat ein Ende.
Der Pissgelbe Punkroman ist da.
Während des ersten Lockdowns
in 2020 angefangen, konnte ich den
Punkroman "More PSEUDO"
jetzt endlich fertigstellen.



 



Hier ein Auszug:



Kapitel: Straight Edge statt Untergang?


"Konzerte die das Leben veränderten“ 


(Die Europa-Tour von Youth of Today und Lethal Aggression; Konzertabend am 9. Februar 1989 in der alten Meierei Kiel) 


Jetzt sollten Youth of Today und Lethal Aggression in der Alten Meierei spielen. Zwar gingen diese zwei US-Bands gemeinsam auf Europatour, doch widersprüchlicher konnte eine Bandzusammensetzung für einen Abend nicht sein. Während Youth of Today als Straight Edge Band galten, also nein zu Alkohol und Drogen sagten, war bei Lethal Aggression das genaue Gegenteil der Fall. Diese Konstellation war anscheinend so gewollt, damit diese Tour möglichst kontrovers diskutiert wurde und größtmögliche Widersprüche aufwarf. So dachten wir. Doch später sollte sich herausstellen, dass da ganz knallhart kommerzielle Gründe dahintersteckten. Auch wir diskutierten intensiv und kamen selbst Jahre später wieder auf diesen Konzertabend zurück. Die Materie Straight Edge beschäftigte uns schon länger, zumal Minor Threat das Thema publik machten und wir in der Vergangenheit alle teils ausufernde Alkoholprobleme hatten, allerdings nur marginale Drogenprobleme. Zwei aus der Clique mussten Alkoholtherapien bestreiten, die nur in einem Fall erfolgreich verliefen, jedoch trotzdem nicht zum erhofften Ziel. Denn was nützt dir eine Alkohol- oder Drogentherapie, wenn du danach arbeitslos oder perspektivlos herum vegetierst. Jetzt hatten die Tour-Veranstalter diese zwei absolut gegensätzlichen Bands zusammengewürfelt. Youth of Today warb mit Straight Edge und propagierte Vegetarismus. Die Band reformierte die Straight Edge Bewe-gung. Lethal Aggression hingegen verstanden ihre Musik nicht als Hardcore sondern als Drug-core. Sie waren von ihrer Lebenseinstellung so ziemlich das Gegenteil von Youth of Today. Die eine Band lebte diszipliniert, die andere ließ die Sau raus mit möglichst viel Party und Drogenexzessen. In der Pause zwischen den beiden Bands standen wir baff draußen. Die Gegensätze wurden uns jetzt erst so richtig klar, sie waren beklemmend und befreiend zugleich. Wir diskutierten ein paar Minuten in der Kälte vor dem Haupteingang der Konzerthalle, aber waren trotzdem aggressiv. Wir fragten uns, weshalb ausgerechnet diese gegensätzlichen Bands in eine Tüte gesteckt wurden. Das Fanzine Trust nannte die Tour der zwei Bands „das unmöglichste Package aller Zeiten“. Im Fanzine Kabeljau hieß es: „Die Zusammenstellung war schon recht dubios.“ Fast jeder sah das Thema Straight Edge anders. Für einige galten Trinkpausen als Straight Edge Phase. Also demnach konnte man zwei Wochen Straight Edge leben, um danach wieder voll durchzustarten. Ich verstand unter Straight Edge Totalverzicht auf Alkohol und Drogen. Rauchen wäre demnach akzeptabel und auch Fleisch. Doch andere definierten Straight Edge sehr viel radikaler, sodass selbst Rauchen und Fleisch inakzeptabel waren. Bloß beim Thema Sex schieden sich die Geister nicht, denn da durften alle Fraktionen voll Gummi geben. Das Thema Straight Edge wurde langsam aber sicher zum Dauerbrenner, und wir waren auf diese Diskussionen angewiesen. Temporär ging es nur noch um Straight Edge-Diskussionen und darum andere zu schelten, die zu viel soffen oder Drogen konsumierten. Einige Fragen standen bei jedem Treffen auf der Tagesordnung: „Bist du jetzt Straight Edge oder was?“ oder „Ist H. noch Straight Edge oder trinkt er wieder?“ Da konnten wir nicht anders als diskutieren. Allerdings konnten auch von der anderen Seite Vorwürfe geäußert werden. Und die Leute, die am meisten soffen, hielten am radikalsten entgegen: „

"Alter, willst du uns bekehren? Hör bloß auf zu predigen.“ „

"Du isolierst dich total, wenn du nicht mehr trinkst.“ „

"Der ist ja bis zur Unkenntlichkeit ausgenüchtert.“ 

Neuerdings fiel es gleich auf, wenn Leute Verzicht übten, doch sie wurden nicht mehr so krass gegängelt und als Schwachmänner bezeichnet, nur weil sie den Alkohol stehen ließen. Denn es existierte jetzt immerhin ein PunkGenre, bei dem Alkohol keine Rolle spielte. Immer, wenn wir über Straight Edge sprachen, war es im Prinzip schon wieder zu spät, denn bald Griff der erste aus Frustration bereits wieder zur Flasche mit der Begründung: „Nüchtern lässt sich das alles sowieso nicht aushalten.“ Das Konzert von Youth of Today und Lethal Aggression war wohl das letzte Konzert, bei dem wir mit unserer kleinen Saufklicke etwas gemeinsam unternahmen. Danach stritten wir immer wieder über Belanglosigkeiten und lebten uns so ziemlich auseinander. Das war zu der Zeit, als Entscheidungen anstanden wie Verweigerung, Zivildienst ja nein, Schule zu Ende bringen, Studieren, einen Beruf ergreifen. Das war eine krasse Umbruchphase. Die einen fingen mit Zivildienst oder Studium an, andere versackten. Als schließlich der letzte mit seinem Zivildienst, Wehrdienst oder was auch immer durch war, hatten wir uns so ziemlich auseinandergelebt, pünktlich zum Ende der 80er. Für die meisten 82er-Punks war Straight Edge kein Thema. Schon eher für Leute aus der Peripherie der Punkszene, die etwas Kreatives machten oder Sport trieben. Das Konzert war der Untergang des Hardcore, wie wir ihn kannten. Es war nicht nur eine Kopfnuss, es war sogar eine Bombe, die hochging. Der Auftritt dieser beiden Bands war mein bis dato härtestes Meierei-Konzert, obwohl wir dort schon so einiges erlebt hatten. Auch in Hamburg in Läden wie Fabrik, Markthalle, Molotow oder Knopf‘s Music Hall wurde uns nichts geschenkt. Wir sollten nie wieder so intensiv im Vorfeld und in der Folgezeit eines Konzertes über einen Konzertabend diskutieren. Denn endlich standen die Themen Alkoholverzicht, Drogenverzicht, Straight Edge, Fasten, Vegetarismus und gesundes Leben auf der Agenda, was für uns zuvor nahezu eine Terra incognita war. Klar gab es viele Konzerte, die unvergessen blieben. Doch bei diesem Konzert ging es um die Lebenseinstellung und das Pro und Contra zu Drogen und das Ja oder Nein zu Straight Edge und ein gesünderes Leben als das bisherige, das ohnehin nicht so weitergehen konnte. Allerdings klingelte es beim Tour-Veranstalter und den Platten-Labels ordentlich in der Kasse. Das war der Widerspruch. Zum Glück wurde den meisten aus meinem direkten Umfeld die Gnade der ausgebliebenen schweren Drogensucht zuteil. Wir sahen die Junkies wie die Fliegen sterben. Wir sahen die Drunkies verrohen und in Schieflage geraten. Wir sahen Leute nach Suchtproblemen rechtsradikal werden. Wir sahen die Superkriminellen durchstarten und größtenteils auf die Fresse fallen. Wir lernten die skrupellosen Dealer hassen. Wir lernten die Brutalos stilvoll zu meiden. Bald erkannten die ersten, dass die Helden auf Drogen gar keine Helden waren. Fast jeder versuchte mal eine Zeit lang Straight Edge zu leben. Einige waren „hier mal ‘n beten Straight Edge“ und „da mal ‘n beten Straight Edge“. Das brachte gar nichts, ganz im Gegenteil, es konnte zermürben. Wieder andere befürchteten, Straight Edge hätte etwas mit sozialer Isolation und Vereinsamung zu tun und führe in Trinker-Domänen nur zu unnötigem Streit. Glücklich schienen die, die einen Mittelweg fanden, also bei wenig Alkohol blieben und ihre Grenzen kannten. Das schien ein guter Kompromiss zu sein. Doch das war fast unmöglich und pendelte sich erst ein, wenn genug Negativerfahrungen gesammelt waren – oder auch nicht – und die Lebensumstände stabil waren. Leute aus der Punkszene, die langfristig auf Straight Edge blieben, waren uns zu der Zeit nicht bekannt. Aber das Genre war ja noch vergleichsweise jung. Später kam ein Video zu dieser Tour raus, auf dem mysteriöserweise nur Konzertausschnitte von Youth of Today zu sehen waren, aber nicht von Lethal Aggression. Dabei waren doch beide Bands gleichrangig auf Tour gegangen. Das war weiterer Sprengstoff.