Donnerstag, 31. Oktober 2024

Chaostage Hannover 1984 (Ein Nachbericht)

 



Aus Kieler Sicht verliefen die Chaostage ’84 wieder erfolgreich, da die Punks der Kieler Landeshauptstadt in der niedersächsischen Landeshauptstadt erneut Präsenz zeigen konnten. Viele, die die Chaostage 1983 verpassten, konnten 1984 endlich ihre Chaostage erleben oder erneut teilnehmen. Nicht nur die Punks um die Kieler Punkband Scapegoats machten sich auf den Weg in die niedersächsische Landeshauptstadt, sondern auch eine ganze Reihe von Wiker Punks, darunter der Hardcore-Punk Maxi.
      Schon frühzeitig hatte VINYL BOOGIE in der Pissgelben Punkliste angekündigt, dass es auch ‘84 wieder Chaostage geben wird:

 

 

Für den nächsten ChaosTag wird schon ganzsei-    
tig Reklame gemacht (4.8.84 zwischen Kröpcke&         
Maschsee). Ganz international solls aufgezogen             
werden. Ob das gut geht. Mittlerweile sollen                       
die Olympischen Winterspiele der Punker vorbe-              
reitet werden(10. oder 12.April-vergessen, wann        
genau.Pogophon weiß mehr,hoffentlich).This is          
Heidelberg,not Hannover.

(Auszug Pissgelbe Punkliste von VINYL BOOGIE)

Unmittelbar vor den Chaostagen 1984 hieß es In einer Ankündigung in der Pissgelben Punkliste:

HANNOVER 4.8. (3.-6.?)

Großes Antibreakdance,Antipunk-,                             antiskin-,antipsycho,antiigotisch-
Festival? Egal, was auch immer ihr
in Hannover tut,irgendjemand hat
das gleiche schonmal gemacht.
Hannover-Flugblatt legen wir Euch
auf Wunsch bei.
Wer nicht nach Hannover fährt,son-
dern nach Berlin,der kriegt an dem
Samstag bei uns zum Trost 1-2 Büch-
sen (11-16 Uhr offen).

(Ankündigung Hannoveraner Chaostage 1984 Vinyl Boogie)



In dieser Liste war auch eine nicht ganz ernst gemeinte Stadtkarte von Hannover abgedruckt, in die die Hotspots der kommenden Chaostage abgedruckt waren:
(Stadtplan Hannover; Chaostage ’84, Quelle: Pissgelbe Punkliste)

 

 

 

Schließlich war es so weit. Das erste Augustwochenende war gekommen. Hannover sollte für die anstehenden (Chaos-)Tage die Welthauptstadt des Punkrocks werden. Von überall her kamen die Punks und Skins angereist. Die Chaostage ‘84 starteten wie die Chaostage 1983 endeten - mit viel Freilufttrinken in der Innenstadt.
      1984 gab es in Hannover brutal-schreckliche Ausschreitungen. Auch das Motto „Punks & Skins United“ aus dem Vorjahr war in diesem Jahr ad acta gelegt. Es gab besonders wieder in der Innenstadt schwere Ausschreitungen zwischen Punks und Skins mit unzähligen Festnahmen durch die Schergen.
      Auch der Kieler Punk Maxi wurde festgenommen, nachdem er auf offener Straße von 5 hochgerüsteten Cops zusammengeschlagen und dingfest gemacht wurde. Danach brachten ihn die Schergen über Nacht in einen hannoveraner Knast. In der Zelle erlebte er jedoch eine ruhige Nacht. Im Knast waren sowohl Punks als auch Skins unterbegracht. Wenn jemand Streit suchte, wurde er damit bedroht, mit Punks oder Skins in eine Zelle gesperrt zu werden, jedoch mit dem jeweiligen Widerpart.
      Entsprechend Vinyl Boogie textete im Nachgang in der Pissgelben Punkliste:

wie wars denn in Hannover? Oder
in Riccione? Sogar in ner
brasilianischen Zeitung stand
was.
Die Polizei war diesmal cleve-
rer. Wenn irgendjemand ein-
gefahren war und Alarm gemacht
in der Zelle kamen sie an und
ham gesagt (wenns n Skin war):
Na. Glatzimäuschen.möchste lie-
ber in die Telle zu den Pun-
kern?(und umgekehrt). Und alle
waren mucksmäuschenstill.

(Auszug: Pissgelbe Punkliste, ca. Sept. 1984)

Das Presseecho in den Chaos-Folgetagen war enorm. Verschiedene Zeitungen nahmen sich des Themas an und überboten sich, die Punkszene zu verteufeln. Die Bildzeitung machte groß mit den Chaostagen 1984 auf und bot wahre Untergangsszenarien. Die Bildzeitung spricht von 2000 Punkern und Skinheads. Es fällt das Schlagwort „punkbesetzte Zone“.
      Neben der Bild berichtete auch die Lahnzeitung, die Neue Presse Hannover, und Hannoversche Allgemeine Zeitung ausführlich. Die sogenannte Chaos-Bilanz in der „Neuen Presse Hannover“ war beindruckend: 125 Verletzte, 33 Autos kaputt (23 Privatautos und 10 Polizeiwagen), 100.000 Mark Schaden, 90 Festnahmen, 199 weitere Personen vorübergehend in Gewahrsam, 16 große Fenster gingen zu Bruch, Aufeinanderprallen von 800 Punks mit 120 rechtsradikalen Skins, mehrere Hundertschaften Polizei. Auwaia, das klang alles sehr chaotisch.
      Später kursierten wieder jede Menge Fotos von den Chaostagen ’84, mindestens ebensoviele wie von den Chaostagen 1983. Auf einem der Fotos ist der Sänger der kieler Punkband  Scapegoats zu sehen, wie er verängstigt, wegen des Polizeiaufgebots in durch Hannover, durch die Straßen druckst - quasi im Schatten der Cops. Er trägt dabei seine schwarze Punkfrisur und eine Nietenjacke, neben ihm ein Punk aus dem „Ostblock“, jedoch mit einer Zip-Jacke - nur mit Reißverschlüssen und ohne Nieten. Sie gehen unter einer Stadtbahnbrücke auf der linken Seite eine vierspurige Straße entlang nach links. Rechts von Ihnen unzählige Punks auf der rechten Doppelspur. Zwischen den Spuren die Stadbahnbrücke. Alle blicken nach vorne rechts, als drohe von dort Gefahr. Dort konnten nur die Cops oder Ausschreitungen sein. Es gab schlussendlich Nachberichte in Fanzines.


Freitag, 19. Juli 2024

 

 

 

 

 

Roland Scheller

PSEUDO 4



 



 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

        PSEUDO 4

 

Punk-Storys Teil 4



 

 

 

 

Roland Scheller

 

 

 

kdp

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


 

 

 

 

 

 

 

 

 

Copyright © 2024 Roland Scheller

All rights reserved.

ISBN:

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Handlung und alle Personen in diesem Roman sind frei erfunden.

 

Jegliche Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind

rein zufällig und unbeabsichtigt.  

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

 

1.     Aftermath Mülldeponie

2.     Der kurze Cotzbrocken Trend

3.     Der Motorradhasser

4.     Ein Punk nimmt mir das Springmesser ab

5.     Meine erste Pissgelbe Punkliste

6.     Stress beim Scheunenfest

7.     Das Sendungsbewusstsein der Punks

8.     Lambrusco mit Zucker

9.     Hecker kackt beim Bürgermeister in den Garten

10. Ein „Klassenkamerad“ erklärt, wie ich Sprengstoff herstellen soll

11. Zerfledderte Punk-zines

12. Weshalb die NDK-Kids scheitern mussten

13. Meine neuen Docs

14. Einmal Skinhead immer Skinhead?

15. Die Kieler Skinhead-Kartei

16. Der Alkoholschiss

17. Aug in Aug mit den Schergen

18. Die Brücke unter der wir das Diebesgut versteckten

19. Der Haschtee

20. Der Chicken-Squawk

21. Meine Freundin attackiert mich

22. Kettenschläge beim Meteors Konzert

23. Sexueller Übergriff im Subway

24. Meine Ex fackelt meinen Perso ab

25. Der Punk Nille fährt mit dem Rad gegen eine Straßenlaterne

26. Nille leiht mir die L’Attentat-LP

27. Das Judge Dread Konzert in der Alten TU Mensa

28. Blutspritzer an der Gitarre

29. Brief an einen toten Punk

30. Die Sicherheitsnadel

31. Brief an einen Neo-Nazi

32. ИМПУЛС БЕЙСБОЛ

33. Dauergast Meierei

34. Die Akte Conner

35. Der Schiefe Turm von Pizza

36. Der Heroindealer kommt mir zu nahe

37. Mein erstes richtiges Exploited T-Shirt

38. Exploited Traum

39. Ausgekugeltes Kniegelenk in der Gruft-Disco

40. ¿Exploited fand in Kiel nicht statt?

41. Fremdalkohol

42. Mit Yoga gegen Flashbacks und Hallus

43. Back in ‘81 - Der Spaten aus Brokdorf

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Aftermath Mülldeponie

 

A

ls die Mülldeponie längst eingeebnet und mit einer frischen Erdschicht überdeckt war, fassten die Stadtführer den Entschluss, an diesem Ort eine moderne Reihenhaussiedlung zu errichten.

Die Kneipe Zum Schusterkrug existierte da schon lang nicht mehr, allerdings gab es noch die Kleingartensiedlung Schusterkrug und die Wohnhäuser an der Diekmissen Straße, wo ein Dealer wohnte. Auch der kleine Tümpel kurz vor der Mülldeponie existierte noch. Von den zerfetzten Plastiktüten und anderem federleichten Material, das wie North Dakota Steppenhexen „Tumbleweed“ vom Müllplatz weggeweht wurde, war nichts mehr zu sehen, als wären sie von der Verwitterung vollkommen aufgelöst.

Das Bauvorhaben wurde zunächst durch gewunken. Jedoch musste die Bevölkerung der Region noch offiziell über das Bauprojekt informiert werden. Da erinnerte sich eine ganze Reihe an Anwohnern, dass sich an der Stelle vor nicht allzu langer Zeit der besagte Müllplatz befand, dessen Bestandteile sich immer noch nur wenige Meter unter der Erdoberfläche befanden. Also hagelte es Beschwerden, nicht nur, weil die Deckschicht absacken könnte, sondern auch, weil das Grundwasser langfristig verseucht werden könnte. Also wurde das Bauprojekt auf Eis gelegt. Es wussten einfach zu viele aus der Region, dass dort giftige Abfälle lagen, illegal entsorgte Krankenhausabfälle, Militärabfälle, Haushaltsmüll, Sondermüll wie Farbreste und Chemierückstände.

Ganz durchgeknallte Gestalten hinterfragten sogar die Funktion der ehemaligen Mülldeponie an sich. Sie vermuteten, dass die Mülldeponie ein der Nachkriegszeit nur deshalb an der Stelle errichtet wurde, weil sich dort ein Massengrab befand, das auf diese Weise vertuscht werden sollte. Inzwischen wird sogar behauptet, dass in dem Stadtteil nie ein Rüstungsbetrieb stand und nie Panzer gefertigt wurden, obwohl unzählige Menschen beobachten konnten, wie die produzierten Panzer tagsüber auf den Bahnschienen und nachts mit Schwertransporte auf der Straße abtransportiert wurden.

 

 

 

Der kurze COTZBROCKEN Trend

 

Kotzbrocken mit C tut Spießern weh

 

B

ei uns im Stadtteil hatte ein einziger !!! die Cotzbrocken LP. Davon haben sich bestimmt 30 Kids eine Kopie auf Tape gezogen. Das ging ruck zuck. Die Cotzbrocken-Scheibe wechselte von Mann zu Mann, alle vielleicht 15 bis 17 Jahre alt. Die meisten wohnten im Hochhaus-Silo Stromeyerallee. Fast alle Kids kannte von unserer gemeinsamen Zeit auf der Müllkippe – bis auf die ehemaligen Heimkinder. Die kamen später dazu. Jeder, der auf dem Hof des Wohnkomplexes auftauchte und einen Draht zum Cotzbrocken-Besitzer hatte, durfte die Platte für einen Nachmittag oder über Nacht mitnehmen. Wäre gar nicht möglich gewesen, die abzuzocken. Das hätten die anderen Kids nicht geduldet. Alle gingen pfleglich mit der LP um, keine Kratzer, keine Fettfinger, keine Haare oder Schuppen. Wir fanden Cotzbrocken alle asozial und primitiv . Trotzdem haben wir sie gehört, zitiert und gesungen. Dazu wurde gesoffen ohne Ende. Alle wollten so asozial sein wie Cotzbrocken. Die haben irgendein Ventil bei uns geöffnet.

Die Band Cotzbrocken war eine Reaktion auf das End-70er Altnazi Es tablishment – quasi die Rache der jungen Alkoholiker. Sie zogen alle Register, denn sie wollten keine Kotzbröckchen mehr sein, sondern richtige Kotzbrocken. Der Begriff Kotzbrocken existierte in der Umgangssprache, um unsympathische Personen im eigenen Umfeld zu klassifizieren. Dabei wird Kotzbrocken gleichgesetzt mit Ekelpaket, Unsympath oder Stinkstiefel – im Prinzip ein gelungener Name für eine Punk Band.

Uns war klar, dass der LP Titel „Jedem das Seine“ nicht ganz sauber war. Auf der anderen Seite solidarisierten sich Cotzbrocken auf subtile Weise mit den Opfern der Nazis („Ich weiß jetzt wo ich hingehör“). Diese Band war einfach nur kaputt.

Cotzbrocken rüttelten viele wach. Sie waren nicht rechtsextrem, jedoch sehr, sehr subversiv, subversiver, als jede andere deutschsprachige Punkband. Viele Textzeilen entlockten uns ein Lachen, so auch

      „Hurra, hurra, der Papst ist tot, es lebe Ali Ağca“.

Dieser Refrain war s ehr krank, denn der Papstattentäter hieß zwar Ali Ağca und das wusste jeder, doch der Papst war gar nicht tot. Das war ein ganz extremer Pun ker-Humor, den Cotzbrocken uns antat.

Wir waren schockiert, wie kaputt die Band, die Texte, die Musik und die Stimme des Sängers waren. Teils begrüßten wir uns mit

      „Wie sieht der denn aus?“

Ein weiterer Refrain aus dem Obskuritätenkabinett der Cotzbrocken. So ging das ein paar Wochen, bis der nächste Punk-Trend da war. Später haben sich alle psychodrama-style gegenseitig verschmäht, weil sie Cotzbrocken gehört haben.

Der Vorwurf lautete

      „Du hast hier nichts zu melden, du hast früher Cotzbrocken gehört.“

 

 

 

 

 

 

Der Motorradhasser

 

(Rockeraffärenliteratur)

 

E

in Jugendlicher, der der lokalen Punkszene nahestand, entwickelte auf seinen nächtlichen Zechtouren am Wochenende Apathie gegen Motorräder. Wenn er ein Motorrad auf einem Bürgersteig stehen sah, schaute er um sich, ob er unbeobachtet sei, ging zum Motorrad und riss od er trat es einfach um, sodass es laut schepperte. Nicht dass er danach weglief, er ging einfach weiter, als sei nichts gewesen.

An diesem Wochenende hatten sie schon etwas LSD geraucht, als sie mit einer Handvoll Punks die Stadt unsicher machten. Sie gingen in eine Kneipe, um etwas Unruhe zu stiften, gingen zum Billardtisch und störten andere Gäste, bis diese das Billardspiel aufgaben. Jetzt spielten sie ohne Kontrolle und Regeln und hämmerten die Kugeln in die Löcher. Irgendwer schaffte es, ein paar Flaschen Bier zu organisieren. Sie woll ten die Band Dead Kennedys hören, und der DJ spielte den Song “Holiday in Cambodia“, später auch “Too Drunk to Fuck“ und "Kill the Poor ", obwohl die Musikrichtung Punk und Punkrock gar nicht in diesen Sc huppen passten. Jetzt bekamen die jungen Männer untereinander Streit, als es zu Handgreiflichkeiten kam, trennten sie sich voneinander. Ein er von ihnen ging weiter in die Innenstadt. Er war stark angetrunken.

und wie elektrisch geladen. Als er schließlich an einem Motorrad vor beikam, hielt er inne und näherte sich dem Objekt wie ein Raubtier dem Opfer. Er stand breitbeinig vor dem Bike und taxierte die Maschine weiter an, bis in ihm das Bedürfnis aufkam, die Maschine umzustürzen . Erst trat er mit seinen Springerstiefeln gegen das Fahrzeug, schließlich griff er mit den Händen in Richtung Sattel und Tank, übte Druck auf un d stürzte das Motorrad nach hinten über. Mit einem Kratzen und scheppern krachte die Karre auf den Asphalt. Das hörte sich so an, als würde e ine Waschmaschine von der Ladefläche eines Transporters kippen. Er schrie laut

      „Geil, geil, geil“.

Jetzt holte er seinen Punkerpenis raus und uri nierte auf das schwere Zweirad. Es klang, als würde er in einen Kochtopf pinkeln oder in ein Urinal aus Blech. Er hatte Blut geleckt und ging sch nellen Schrittes weiter, als wolle er bereits die nächste Straftat begehen. Ein Rocker rief noch aus dem Fenster

      „Ich bring Dich um, Du Schwein.“

Doch er traute sich nicht.

Es war gegen ein Uhr nachts, und wenn überhaupt noch Leute auf den Straßen anzutreffen waren, so waren es stolpernde Nachtschwärmer. Auf dem Weg, den er jetzt ging, war niemand anzutreffen. Er ging die endlosen Parkreihen von Autos entlang, die alle Heck an Bug fast halbseitig auf dem Bürgersteig parkten und nach Straftaten schrien. Der Punk war stark betrunken, vielleicht stand er sogar unter dem Einfluss von h alluzinogenen Drogen. Er war heiß wie eine Tarantula und lief in Richt ung Discothekenkomplex Bergstraße. Vieles nahm er nur noch scheme nhaft wahr, die Scheinwerfer entgegenkommender Autos blendeten, w irkten wie ein starkes Stechen auf der Netzhaut. Seine Augen pulsierten. Da erblickte er dicht an der Häuserwand ein geparktes Motorrad, ein „Reisfresser“, wie die Rocker sagten. Eine schwarz-weiß karierte Schutz plane war über die Honda Maschine gespannt, um sie gegen Regen und aufgewirbelten Dreck zu schützen. Fast schon fachmännisch griff er er neut in Richtung Sattel und Tank und riss die Maschine von der Wand , dass es ebenso schepperte wie zuvor und auf den Bürgersteig krachte. Doch der Schrotthaufen blockierte jetzt den gesamten Bürgersteig. Der Punk ging weiter und drehte sich aus rund zehn Metern Entfernung ein weiteres Mal um, damit er seinen Akt der Delinquenz noch einmal begutachten konnte. Dieser Anblick setzte in ihm ein Gefühl der Befriedigung frei, als hätte er sich an einer ganzen Innung erfolgreich gerächt.

 

 

 

 

 

 

Ein Punk nimmt mir das  Springmesser ab

 

Der ganz normale Wahnsinn

 

I

ch fand eines Tages ein Springmesser im Schrank meines Vaters. Es lag in einer Holzschatulle, in der ursprünglich Schachfiguren aufbewah rt wurden. Darin befanden sich Zeichenschablonen, ein paar Dias aus der Bundeswehrzeit meines Vaters, ein Rechenschieber und ebendieses Springmesser mit einem schwarzen Griff. Es war sehr handlich, mit ein em kleinen Knopf auf dem Griff, auf den du drücken musstest, damit die Klinge raussprang. Die saß felsenfest und konnte erst wieder gelöst und eingeklappt werden, wenn auf den kleinen Metallknopf gedrückt wurde. Ich war Punk und hing mit allerlei düsteren Gestalten ab. Eines Abends, es war Freitag oder Samstag, nahm ich das Springmesser mit in die Stadt und mit in die Bergstraße. Ich weiß nicht, was mich da geritten hatte. Schon im Bus in der letzten Reihe holte ich es raus und reinigte mir damit die Fingernägel, so wie ich es zuvor in einem 50er-Jahre Spielfilm gesehen hatte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich das Messer n icht an den Rückenlehnen und Sitzpolstern ausprobiert habe, um damit hineinzustechen, die Sitze aufzuschlitzen, zu ratschen und zu ritzen.

Ich poste noch mehrmals an diesem Abend mit dem Messer. Wir hingen mit ein paar Punks ab. Einer der Punks wollte das Messer mal kurz haben, um es zu begutachten. Ich reichte es ihm. Der Punk ließ die Klinge springen, fuchtelte kurz damit rum. Danach klappte er die Klinge wieder ein und steckte das Messer wie selbstverständlich in die Tasche. Ich hielt das für einen Witz und wollte das Messer wieder zurück. Er ließ mich betteln. Leider war ich zu besoffen, auf das Messer zu bes tehen. Es war weg, und ich weiß nicht mehr, wer es sich einverleibt hat. Es war jemand in meinem Alter. Ich wurde abgezockt. Der Alk war dafür verantwortlich, dass ich schon am nächsten Tag nicht mehr wusste, wer das Messer hatte.

 

 

 

 

 

 

Meine erste Pissgelbe Punkliste

 

EX ANARCHIA PECUNIA

 

E

ines Tages fand ich in einem gekauften (?) Sounds Magazin eine Annonce über einen Plattenversand namens Vinyl Boogie. Die Anzeige war etwas länger als die Grundfläche einer Streichholzschachtel. Oben in der Annonce prangte der Adler Pogar (siehe Abb.), von Vinyl Boogie mit Stoppelfrisur, Nietenhalsband, T-Shirt mit der Aufschrift "Brat mich Sheriff", auf den Ärmchen "EX ANARCHIA PECUNIA", dazu auf den Flügeln VINYL (links) BOOGIE (rechts). Der Adler krallt sich an einer nach unten geöffneten Sicherheitsnadel fest. Unter dem Adler war die Ad resse von Vinyl abgebildet, darunter eine Auswahl der neuesten erhältlichen 7", angeführt von GBH, 4-Skins und Anti-Nowhere League. Über diese Zeitschriftenwerbung kamen an unsere erste Pissgelbe.

Ich weiß nicht mehr, ob wir gleich aus der Liste bestellten und um die Zusendung von 3 oder 4 Listen baten, oder ob es uns zunächst nur um die Listen ging. Jedenfalls hatten wir schon bald unsere ersten Pissgelben in der Hand. In jeder Pissgelben war die Adresse von Vinyl abgedruckt, meistens eingeleitet von einem werbeträchtigen Slogan und einer Aufforderung, aus der Pissgelben Punkliste aus Berlin zu bestellen.

 

Weil SID bei Vinyl kauft! VINYL

1000 Berlin 30

Gleditschstr. 45

Tel.: (030) 216 88 30

 

Ich überflog die Listen mit Neuerscheinungen und wiederbestellbaren Pogo-Scheiben und war sofort angepikst. Isch hatte ja noch zwo Wochen Zeit, die Pissgelbe Liste zu studieren und Kauf- und Bestellentsche idungen zu treffen. Es juckte immer mehr. Kaufwille, Bestellung und tatsächlich gelieferte Pogo-Scheiben waren zwei paar Schuh. Der Begriff „Fehlkauf“ existierte in unseren Köpfen noch nicht, erst als wir später anfingen, bei Malibu zu ordern.

Bei Vinyl Boogie taten die verkürzten, parolenhaften LP- und EP-Titel sowie bestechende Bandnamen ihr Übriges. Sie konnten eine Message enthalten, waren jedoch noch kein Garant für Qualitätspunk. Finnische LP- und Song-Titel sowie Bandnamen waren die Terra Incognita. Bei Brasil- und Hispano-Material war manchmal eine Ableitung der Message möglich. Das Layout der Pissliste war verrutscht und verkeilt-schräg, dilettantisch und fernab jeglicher Computerlayout-Denke und IT-Design.

Durch die Pissgelbe lernten wir Unmengen an neuen Begriffen kenn en, Katzenbilly, Locken, Goten und vor allem Punk-Style Typografie, Foto- und Buchstabenkollagen, Anti-Werbung, die uns flashte.

Die Gelbe Pissliste war ein Stimmungsbild und zugleich ein Fingerab druck der derzeitigen Punkszene.

In rüden Tönen hieß es:

 

„Apropos Business: Wer uns am Telefon fragt, ob wir die Business haben, de m schicken wir n Stromstoß durchs Kabel , dass er nicht mehr Oi sagen kann.“

 

Das gefiel uns.

Die „Pissgelbe“ erzeugte Feelings. Unverzichtbar für Punks, Skins und bald auch für Katzen(-billys). Durch diese und andere Formulierung en wurde die Pissliste zur Religion.

Es gab immer wieder Hinweise, wie es mit der Pissgelben weitergeh en wird:

 

„Alle 77er Softcorepunk, Postpunk, Bombastpunk, Herbert, Punkabil ly, Kult, Voodoopunkplatten sind jetzt abgewandert in die bIlDsChIrm gRaUE KULTliste.“

 

Wirkung zeigte das direkte Ansprechen und Angreifen der Kunden:

 

Exklusiv für alle Asseln und Makrelen

DIE NR 41 DER P I S S G E L B E N (JULI/AUGUST)

 

Auch der Wirbel um das Pogophon schien nie enden zu wollen.

 

DU NIX POGOPHON

Am 8.7. hat unser Anrufbeant-

worter die Telefonleitung ge-

killt. Bis er repariert ist,

gibts kein Pogophon, leider.

 

Frappierend war das Sendungsbewusstsein von Vinyl Boogie, das im Laufe der Zeit immer stärker zu fehlgeleitetem Kommerzdenken dege nerierte. Grundsätzlich war es positiv, dass die Crew von Vinyl Geld verdienen wollte.

Es war zunächst alles sehr fein mit den angekündigten Neuerscheinu ngen, dem „Blick in die Zukunft“, den Zusatz der Kultliste, die Aufnah me der Psychobilly-Sparte, T-Shirt, Videos, Fanzine-Tausch gegen LPs , einsenden von Demo-Tapes etcetera. Doch das endete irgendwann d amit, dass der Konkurrenzkampf mit anderen Plattenversanden offen in der Bestellliste ausgetragen wurde, das Publikmachen des Polizeistresses, sowie das Gängeln der Kunden mit dem unausgesprochenen Pseudo-Vorwurf, sofern sie nicht sofort zugreifen (Wer jetzt nicht bestellt, ...). Vinyl Boogie schoss sich selbst ab, spätestens als Nazi-Bands unter der Rubrik „Nazi-Kitsch“ angeboten wurden. Das war das Ende einer Institution. Im Prinzip eine typische Punk-Unternehmer Karriere. Beim Plattenlabel Rock-o-Rama war es ähnlich.

Es war jedoch nicht nur der „Flirt mit den Nazis“, der Kleinunterneh mer wie Vinyl Boogie, Rock-o-Rama zur Strecke brachte, sondern auch leichtsinniger Gesetzesbruch in unserer subkulturfeindlichen Paragrafenwelt. Erwähnt sei hier der Prototyp eines Plattenhändlers, der durch halb Europa reiste, um gebrauchte Pogo-Platten für seinen Laden au fzukaufen. Alles schön und fein. Er bot leider „illegale Bootlegs“ an, was ihm eine tödliche Geldstrafe bescherte.

Zum Schluss ein letztes Zitat zum Thema Pogophon:

 

Also AmiFreaks, Pogophon hören oder auf nächste Liste warten.

 

 

 

 

 

 

Stress beim Scheunenfest

 

S

cheunenfeste waren No Go Areas für Punks. Wir waren nur selten auf diesen Trinkveranstaltungen, denn dort gab es immer Stress mit dem Bauernmob. Wir hatten erst letztens in f*cking Dorf G. und Dorf S. übel auf den Kopp gekriegt, nachdem wir mit der Autokraft dorthin fuhren und uns mit der Dorfjugend anlegten. Diesmal war in Dorf P. eine solche Bauernparty. Es war mein insgesamt drittes Scheunenfest und auch mein letztes. Da ich immer schon ein Faible für Dorf P. und dess en Dorfjugend hatte, meine Großeltern aus Dorf P. kamen und ich dort obendrein den Kieler Express austrug, wagte ich mich einfach mal zu m diesjährigen Scheunenfest, zumal Wisent und Fielmann in Dorf P. wohnten und mich mitschleppten. Fielmann sagte noch

      „Du darfst Dich bloß nicht mit der Dorfjugend anlegen, wenn alle besoffen sind.“

Ich kannte ohnehin die meisten Bauern dort in meinem Alter, auch w enn die eher Rockerstyle waren, Mofas, Krads und Motorräder und an deren Bullshit fuhren. In Dorf P. gab es rund 120 Haushalte. Das wusste ich vom Austragen des Kieler Express.

Das halbe Dorf saß jetzt scheinbar diszipliniert in Reih und Glied an Biertischen auf Bierbänken. Es roch nach Scheune und es roch nach Dung. Ein musikalisch verhärmter DJ legte ätzende Rock- und Disco-Musik auf, sodass es mich grauste. Punkmusik hatte hier null Chance, und ich traute mich nicht danach zu fragen. Das hätte unkalkulierbare Effekte zur Folge haben können. Es wurde kräftig geschmettert, vor allem Bier und Korn. In meiner Altersklasse war das mit dem Struggle gegen den Rocker- und Bauernstaat noch nicht so krass, weil viele sich von der Schule, aus dem Sportverein oder dem Jugendtreff kannten. Trotzdem war ich den älteren Rockern ein Dorn im Auge. Ich soff und soff und soff und die ersten f*cking Rocker beäugten mich mit Argwohn. Jetzt kam ich mit einer Dorfschönheit ins Gespräch. Wir standen bald draußen vor der Scheune und sie sagte, dass sie Interesse an mir habe. Jedoch müsse sie aufpassen, dass ihr Freund sie nicht mit mir sieht. Plötzlich wollte sie mit mir auf den Feldweg.

Sie hatte einen großen Busen und trug einen Spezial-BH. Die Frau w irkte wie ein Lockvogel, als hätte sie jemand zu mir geschickt. Anders kann ich es mir nicht erklären, dass sie plötzlich auf einen Typen wie mich abfuhr.

      Wir gingen an Fielmanns Wohnhaus vorbei 50 Meter den Feldweg entlang. Hier knutschten wir hemmungslos, fingen an, uns zu streicheln. Wir gingen gar nicht erst hinter den Knick, knutschten und knutschten und wurden intimer. Es war ziemlich dunkel an diesem Abend. Plötzlich schrie jemand aus Richtung Dorf P.

      „Du Schwein!“

lief auf uns zu und trennte uns. Es war ihr Freund, der sich wie ein kleiner Dorfsheriff aufführte. Er schubste mich mit beiden Armen. Danach entfernte er sich mit seiner Freundin zurück in Richtung Scheune. Ich sah ihnen kurz hinterher, pisste in den Knick und ging ebenfalls zurück. Ihr Freund war der Bruder einer Schulfreundin meiner Schwester. Wisent und Fielmann waren längst los. Ich setzte mich an einen Biertis ch und becherte fleißig weiter Bier und Korn und Bier und Korn. Plötzlich schaute der Freund der Dorfschönheit mich grimmig an, kam wuten tbrannt auf mich zu und wollte klären, was zwischen mir und seiner Braut lief. Er packte mich in Wildwestmanier, doch ein weiterer Dörfler kam wie ein Alt-Rocker mit seiner f*cking Bierwampe dazwischen. Vom Gesichtsausdruck wirkte der Retter wie der Dorfälteste. Der war vor kurzem noch auf meiner Schule und wurde querversetzt, weil er lispelte.

Da schrie der Lover der Dorfschönheit

      „Ich bring das Schwein um. Er hat versucht, mir meine Freundin auszuspannen.“

Doch der Ex-Schulkollege schaffte es, ihn zu beschwichtigen. Darauf verdeutlichten sie mir, es wäre besser, das f*cking Scheunenfest zu verlassen, was ich schlussendlich tat. Heutzutage ist die Scheune durchrenoviert und zu einem Bio-Laden umfunktioniert. Die Dorfschönheit ist inzwischen mit einem untersetzten muskulösen Bullen mit Kurzhaarfrisur liiert, der mich ebenso grimmig anschaut, wie ihr Ex-Lover aus der Scheune.

 

 

 

 

 

 

Das Sendungsbewusstsein der Punks

 

J

eder Punk hatte ein Sendungsbewusstsein. Davon zeugten nicht nur die Bandnamen und Slogans auf den Jacken, sondern auch Buttons, politische T-Shirts, Graffitis und Tattoos. Somit mutierten die Kleidung und die Haut zur Werbefläche in Sachen Punk. Zum Sendungsbewussts ein gehörten auch das Sprühen von Bandnamen und Punkslogans wie „Schmutzige Zeiten“ an Wände und Mauern sowie das Kritzeln mit Filz - und Lackstiften von Punk-Phrasen wie

      „$usAnne war hier!“

an alle möglichen glatten Flächen. Ein weiterer Bereich, in dem sich das Sendungsbewusstsein der Punks zeigte, war das Verschenken und Verleihen von eigens aufgenommenen Sampler-Tapes an Freunde, sowie das Verleihen von Platten an Nicht-Punks. So manche Mitschüler wurden zum Punk bekehrt – gegen den Willen der Eltern. Ebenso hatten Bands und Fanzine-Macher ein Sendungsbewusstsein im Auftrag des Punk.

Die eine schleppte Klassenkolleg*nnen mit zum Punktreffen in der Wik auf dem Penny-Spielplatz, der nächste schleppte Nicht-Punks mit zum Konzert und wieder ein anderer brachte Pseudos aus der Metallszene mit zu den Punks. Jugendtreffs wurden mit Punk infiltriert, bis den Hardrockern und Hip-Hoppern der Kragen platzte, Schulfeste wurde mit Punk und Ska manipuliert, Partys wurden mit Punk- Samplern gesprengt, ja ganze Fußballvereine wurden mit Punk infiziert, bis alle mitsangen. Vieles wurde in Gesprächen abgecheckt:

      „Hörst Du Punk?“

      „Nee, ist nichts für mich.“

Sogar Geburtstagskinder wurden mit Punktapes beschenkt und eiskalt erwischt:

      „Leg endlich mal Dein Geburtstagsgeschenk auf!“

 

 

 

 

 

 

Lambrusco mit Zucker

 

Sommer, Sonne, Hitze, Zucker, Lambrusco und hochrote Köpfe

 

A

n dieser Stelle soll ein Thema aufgegriffen werden, dass in den bis herigen PSEUDO-Publikationen allenthalber angerissen wurde: Lambrusco mit Zucker.

Sommer, Sonne, Hitze, Zucker, Lambrusco und hochrote Köpfe – das war unser Motto in diesem Sommer. So konnten wir stundenlang am Strand dösen und unseren Sonnenbrand nachträglich verarzten. Da war es angenehmer, am Strand die Punk-T-Shirts und die Hosen anzubehalten und nur die Boots beiseite zu stellen. Die Empörung der anderen Strandbesucher war indes groß. Sobald die Leute sahen, dass bei uns die 2-Liter-Pulle Lambrusco rumgereicht wurde, galten wir als asozial.

Lambrusco mit Zucker war eins der großen Trendgetränke unserer Teenage Punk Zeit. Auch wenn ich in meinem Leben nur vielleicht zehn Zweiliterflaschen Lambrusco trank, es reichte, dass ich einfürallemal die Lust daran verlor. Es gab jedes Mal eine Sauerei und die Gesundheit wurde temporär in Mitleidenschaft gezogen, vielleicht sogar langfristig.

Schon das Anmischen der Lambrusco-Zucker-Lösung glich einer ziemlichen Sauerei. Wir tranken meistens erst einen kleinen Schluck aus der Lambrusco-Flasche ab, während wir aufgrund ihrer Größe und ihr es Gewichts die Pulle nur schwer halten konnten. Das Kilo Zucker wur de geöffnet und aus der Verpackung eine kleine Einfüllrinne zurechtg efalzt. Wie an einem Faden lief der Zucker in die Flasche, bis sie wied er voll war. Das erforderte höchste Konzentration. Daraufhin wurde die Verschlusskappe zugedreht und die Buttel mehrmals auf den Kopf gedreht, sodass der Zucker nach unten rieselte und sich besser auflöste. Die Flasche wurde erneut geöffnet und wieder nur wenige Schlucke abgetrunken, bis weiterer Zucker nachgefüllt werden konnte. So ging es immer weiter. Wir waren meist schon voll, bevor der gesamte Zucker eingefüllt war. Manchmal warfen wir den restlichen Zucker einfach weg oder leerten ihn in den Strandsand. Inzwischen klebte alles, unsere Finger, Mund, Kinn und Wangen, Unterarme, die Flasche, Kleidung, Boden, die Boots, einfach alles.

Der Lambrusco war inzwischen dermaßen mit Zucker versetzt, dass der Strandsand sofort verklumpte, wenn etwas Lambrusco in den Sand kleckerte. Und das soll schon was heißen.

Auf dem Grund der Flasche befand sich immer noch eine fast 10 cm Schicht halbaufgelöster Zucker. Bei der Hitze war das eine Mischung a us Feuerzangbowle und übersüßter Fruchtbohle.

Spätestens zum Ende hin kamen die ersten Beschwerden

      „Das kannst du ja langsam nicht mehr trinken.“

      „Äh, ist das süß!“

      „Alles klebt!“

      „Kipp den Rest weg! Das gibt nur Karies.“

Seltsamerweise kamen wir fast ausschließlich im Hochsommer bei knallender Sonne auf die Idee, Lambrusco mit Zucker zu trinken. Die Entscheidung für Lambrusco fiel teilweise erst auf dem Weg zum Super markt oder sogar erst in der Getränkeabteilung.

      „Oh, geil. Lambrusco!“

      „Sind das 1,5 oder 2 Liter?“

      „Das sind 2 Liter.“

      „Geil. Eine nehmen wir mit.“

Der Preis der 2-Liter-Flaschen war rekordverdächtig. Problematisch war, dass die Flasche schwer zu halten war und deshalb eher als Bierflaschen Gefahr lief, zersmasht zu werden.

Gerade in der knallenden Sonne fing der Kopf schnell an zu glühen . Wenn der Lambrusco warm war, löste sich der Zucker besser auf und Koma-Effekte wurden multipliziert – für Jugendliche mit wenig Geld die ideale Mischung.

 

 

 

 

 

 

Hecker kackt beim Bürgermeister in den Garten

 

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ir waren auf dem Rückweg von einem Punk- oder Punkabilly-Konzert im Plunschli in einem Dorf süd-östlich von Flensburg. Das Dorf n annte sich Husburies nahe der Ortschaft Husby. Wir hatten noch Bier auf Tasche und irrten zu Fuß durch einen Vorort von Flensburg, irrten und irrten. Wir waren lattenstramm und ziemlich derbe, kaputt und jokular. Immer wieder musste jemand pinkeln. Dafür boten sich Hecken, Bäume und Bushaltestellen an. Doch jetzt musste Hecker auch noch kacken. Ringo wusste, dass in dem Haus weiter vorne der Bürgermeister von Flensburg wohnt.

      „Da wohnt der Bürgermeister!“

Das behauptete er zumindest. Als Hecker sagte, dass er kacken muss , rief Ringo

      „Dann kack doch beim Bürgermeister in den Garten!“

      „Ja, kack dem mal in Garten!“

Hecker sagte nichts, freute sich, fühlte sich motiviert und entschied sich, tatsächlich in des Bürgermeisters Garten zu kacken. Er hätte ja auch woanders hinkacken können. Trotzdem stieg er über den Gartenzaun und stand auf dem Rasen im Vorgarten. Die Rollos des Hauses waren heruntergelassen. Hecker öffnete den Nietengürtel und ließ seine Hose runter. Jetzt hockte er da in seinem “Loud, Proud and Punk T-Shirt“ und machte einen Dutt. Wir rissen unsere Witze.

      „Pass auf, der Bürgermeister guckt schon aus dem Fenster!“

Hecker hatte nur noch zwei Taschentücher und schrie

      „Hat jemand Paper für mich?“

      „Da reichte ihm jemand eine halbvolle Packung Taschentücher. Hecker sagte Danke, denn er war trotz seiner Punk-Attitüden gut erzogen.

      „Das steht bestimmt morgen in der Zeitung, dass jemand beim Bürgermeister von Flensburg in den Garten gekackt hat.“

Hecker zog sich die Hose hoch, richtete seinen Nietengürtel aus und

kam zu uns Pöbelfritzen. Später hieß es

      „Hecker, weißt Du noch, als Du beim Flensburger Bürgermeister in den Garten gekackt hast?“

Da sagte Hecker

      „Na logen!“

 

 

 

 

 

 

Ein „Klassenkammerad“ erklärt, wie ich Sprengstoff herstellen soll

 

I

ch stand ja schon länger in der Schusslinie meiner Klassenkollegen, sowohl aus dem linken als auch aus dem rechten Spektrum. Jetzt sprach mich ein „Klassenkamerad“ an und wollte mir ganz unmotiviert erklären, wie ich in Eigenproduktion Sprengstoff herstellen könne. Ich weiß nicht, weshalb er sich dazu berufen fühlte. Der Schüler wohnte in eine m Einfamilienhaus in Dorf D. in der Straße, in der sich der Sportverein befand. Er wirkte schon als Schüler wie ein kleiner Staatssekretär oder Geheimrat. Mir ist schleierhaft, weshalb er mir diese Einleitung ins Bombenbasteln verpassen wollte und wie er selbst an dies Wissen heran kam. Er nannte Bestandteile, Mengen- und Mischverhältnisse, und wo ich die Stoffe komplikationslos erwerben könne.

      „Das bekommst Du in jedem gut sortierten Baumarkt!“

Das ging bei mir hier rein und da wieder raus.

Dieser Mitschüler hieß mit Nachnamen wie der amtierende Bundeskanzler und wie der Lateinlehrer aus Strande, der für die SPD kandidierte, der uns während des Unterrichts verriet, was der Satz „Hier f*ckte Situs mit seinem Freund“ auf Lateinisch heißt. Lehrer, Kanzler und „Schulkamerad“ waren weder verwandt noch verschwägert. Der Name war bloß so häufig.

Der Mitschüler hielt mir einen wahren Vortrag mit Bastell- und Bedienungsanleitung

      „Du kannst diese und du kannst jene Chemikalien dafür verwenden.“

      „Ach wat?“

      „Das ist kinderleicht.“

Ich nahm das eher apathisch auf und empfand das Gespräch in der Pause vor der nächsten Unterrichtsstunde als Erholung, da er erzählte und erzählte und ich nicht gefordert war. Er bezog sich immer wieder auf Düngemittel und Unkrautvertilger, aus denen sich der beste Spreng stoff herstellen ließe. Was er erzählte, hatte Hand und Fuß, so brachte er es zumindest rüber. Es wirkte konspirativ-informell, als ginge es darum, mich kurz und bündig über Herstellung und Einsatz von Do-it-yourself-Sprengstoff zu informieren. Wie ein Dozent verglich er die Sprengkraft seines D.I.Y. Sprengstoffs mit anderen Explosivstoffen wie Plastiksprengstoff und Nitroglytzerin.

      „Das hat eine Wirkung wie Nitroglytzerin. Da fliegen die Fetzen. Das geht richtig gut ab.“

Am Ende des Monologs versuchte er mich mehrmals zum Handeln z u motivieren.

      „Versuch das mal!“

und
      „Mach das mal. Du kannst das. “

 

 

 

 

 

 

ZERFLEDDERTE PUNK-ZINES

 

Schönes Fanzine-Chaos

 

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n U.K. sagen sie Punkzine. Hier in Tyskland sagen sie Fanzine. Das gab mir zu denken. Da viele Fanzines aus einzelnen, zusammengehefteten DinA4-Seiten bestanden, zerfledderten die Heftchen nach kurzer Zeit, sofern sie eifrig gelesen und von Punk zu Punk weitergereicht wurden, und sie zerfielen in ihre Einzelteile. Teilweise waren die Zines zerrissen, Teile waren rausgerissen oder rausgeschnitten. Seiten waren nur noch halb vorhanden. Neben der Papierzerfetzung kam es zur Materialzersetzung. Sogar die Tonerfarbe konnte verwischen, wenn überhaupt sauber kopiert wurde.

Bald lagen unzählige einzelne Fanzine-Seiten in meinem Zimmer he rum, bei denen es schier unmöglich war, diese wieder zusammen zu sortieren. Das war komplizierter als ein Puzzle, denn irgendwann wusstest du nicht mehr, welche Seite zu welchem Fanzine gehörte, wenn die Seiten überhaupt durchnummeriert waren.

Es wäre ein Mammut-Job gewesen, alles Seite für Seite wieder zusammenzupuzzeln. Also packte ich alle losen Fanzine-Seiten auf einen Stapel, der wirkte, wie die Loseblattsammlung eines Studenten on drugs. Der Stapel lag zuletzt im Regal rechts neben dem Fenster mit Südausrichtung.

Nur selten gingen Berichte über eine ganze Seite, ebenso die Fotostorys. Es waren meistens nur Kurztexte und Ein-Bild-Witze, Fotos mit aufgesetzten Sprechblasen und andere Fotomontagen, Sowjet-Kunst, zweckentfremdete Zeitungsfotos und Schlagzeilen, die alles pervertierten – zur Freude der Leser und zum Nachteil der Geschädigten, Heino etcetera.

Am Stil der selbstgezeichneten Comic-Figuren konntest du erahnen , welches Blatt zu welchem Punkzine gehörte. Layoutvergleiche halfen nur bedingt weiter, ebenso wenig Vergleiche von Collagentechniken, Scherenschnitt, schnippel schnippel, schnipp-schnapp, rumgeschnipsel, handschriftliche Textabschnitte, dafür hatte jeder Fanzine-Schreiber einfach zu viel Spielraum. Selbst Kriminalisten hätten da Schwierigkeite n gehabt, bei diesen Fledderhaufen durchzusteigen, die Urheberschaft zuzuordnen und den Schreiberling zu identifizieren. Dabei hatten die Kriminalisten längst ein Polizeiauge auf die Fanzineszene geworfen, d enn es galt ähnlich wie bei der Punkplattenzensur bestrafbares Verhalten aufzuspüren. Auch bei Fanzines galt, dass Volksverhetzung, Volxver hexung, Vollverpetzung und Prollvernetzung sowie Aufrufe zur Gewal t bedingungslos unterbunden werden sollten bis hin zum Einstampfen des Printmediums und zur Strafanzeige.

Ein kieler Fanzine-Macher bekam das bald zu spüren. Nachdem er in der neuen Ausgabe seines Fanzines eine Anleitung zum Bombenbast eln abdruckte, ist das Haus, in dem der Punk bei seinen Eltern wohnte, prompt von einer Spezialeinheit der Cops gestürmt und durchsucht w orden. Das war das Ende seines Punkzines. Doch der Punk hatte noch ein zweites Standbein: die Plüschtierf*cker.

Einige Fanzines erinnerten mich von der Machart an die Pissgelbe Punkliste von Vinyl Boogie, die teils Collagenstyle, teils mit Trash-Effekt k opiert und stets pissgelb war (Ausnahmen bestätigen die Regel). Es wur de überall abgekupfert, aus Comics, aus Zeitungen und Illustrierten, aus der Bravo, von Plattencovern, aus dem Katalog des berliner Szeneladens Blue Moon, aus Werbeannoncen – nur um Witze am laufenden Band zu generieren. Einzelne Elemente waren mehrfach kopiert, Grauabstufungen gingen verloren, Trash-Effekte wurden erzeugt, diese Elemente schließlich in die Liste kopiert, sodass manch einer rätselte, was das Ele ment darstellen sollte. Diese Techniken waren in fast allen Fanzines geg enwärtig. Fotos waren selten horizontal an den Seitendimensionen aus gerichtet, sondern befanden sich stets in Schräglage. Das war Punk. Leo: „Das ist Punk!“ Da machte es gar nichts, dass ein Fanzine zerfledert in alle seine Einzelteile zerlegt in eine Loseblattsammlung umgewandelt war

 

 

 

 

 

 

Weshalb die NDK-Kids scheitern mussten

 

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er Sog der Straßenclubs erfasste auch uns. Kieler Stadtteile und Regionen brauchten ihren eigenen Club, ob von Türken dominiert oder von tätowierten Vokuhila-Kielern. Der Chef der Smileys, die größtenteils aus der Umgebung der Stromeyerallee kamen, hatte simple pissgelbe Smiley-Aufnäher besorgt, die er anderen Kids zu überhöhten Preisen vertickte. Er hatte die Aufnäher irgendwo bei Kloppenburg oder in einem Jeansladen günstig erstanden. Jetzt verkaufte er die Teile an seine Leute, die sich die Stoff-Smileys auf den rechten Oberarm nähten, ohne dass ein Dresscode vorgegeben war, ob Jeansjacke, Anorak oder Turnjacke. Im Suff, wann denn sonst, kamen wir schlussendlich auf die Idee, ebenfalls eine Art Straßenclub zu gründen, der NDK-Kids heißen sol lte. Die Sache war spätestens spruchreif mit der Herstellung der NDK- Kids-Schablone, die wir für Spraydosenaktionen und T-Shirts gleicher maßen verwendeten. Das war der Rohling für alles, was hätte folgen so llen. Uns war bekannt, dass etablierte Straßenclubs wie die Mad Boys, die Tigers und die Mad Fighters Oberarmpatches nähen beziehungswei se besticken ließen, und dass sie bei Abnahme einer größeren Stückzahl Preisnachlass erhielten. Doch die Preise schreckten uns ab. Wir hätten dafür eine DinA6-große Vorlage erstellen und die Patches bei einer Näherei oder Stickerei in Auftrag geben müssen. Als sich ein Kostenvoranschlag in Verbindung mit Stückzahlen herumsprach, zogen wir es vor, das Geld besser in Bierpaletten zu investieren. Es blieb also bei den T-Shirts, und jedem Sympathisanten stand es frei, sich die Schablone au szuleihen, um sich das Logo und den Schriftzug aufs T-Shirt zu sprühen. Davon machten nur wenige Kids gebrauch, denn unser Logo war ein fach zu aselig. Grundvoraussetzung war, dass die Kids aus Kiel-Nord ko mmen müssten, schwerpunktmäßig aus Pries, Dorf Pries, Friedrichsort und Schilksee. Altenholz wäre auch möglich gewesen. Bilanz: Ringo bekam wegen des NDK-Kids T-Shirts im Bus auf die Nase. Das war ein harter Dämpfer. Mir traten Leute vorsätzlich auf die Boots, weil darauf mit Lackstift NDK geschrieben stand. Das war ebenso hart. Als wir, die N DK-Kids, Ringos 17. Geburtstag im Pornokino feierten, schlitterten wir in die verheerende Straßenschlacht am Dreiecksplatz nahe der Halte-s telle Jägersberg, die heute Dreiecksplatz heißt. Danach war auch Bingo mit Ringo mir und den NDK-Kids, denn die Polizeiverhöre und die folgende Gerichtsverhandlung veränderten unser Leben. Wir waren einf ach zu dumm und den Cops nicht gewachsen. Deshalb waren die NDK -Kids nur ein Schiss. Wenn ich diese Zeilen schreie, verstehe ich, wer i ch in den 80ern war und was für ein Typ ich heute überhaupt bin und wer ich hätte sein können, vielleicht sogar der Vize der NDK-Kids. Auch die Disco- und Kneipenszene war teils geprägt von Straßenclubs und entsprechenden Gruppierungen zuzuordnen. Während die Disco Floh markt eindeutig von den Tigers kontrolliert wurde, war das Böll Gebiet der Living Deads, später, Ende der 80er, der Kneipenterroristen. Vieles nahm jedoch in Jugendtreffs seinen Ursprung. Die Living Deads hinge n eine Zeit im Jugendtreff Schilksee ab, die Wik-Punks im Jugendtreff Nord, der Krad-Club Clash lungerte lange Zeit im Jugendtreff Buschblick rum. Die Mad Boys waren im Jugendtreff auf dem „Gutti“ Gutenber gspielplatz, die Mad Fighters waren in der Palette im Bergenring zu finden. Meine Leute waren zu der Zeit verstreut auf Läden wie dem Pfefferminz, Error, DNA und Prisma. Doch was geschah auf dem Ostufer?

 

 

 

 

 

 

Meine neuen Docs

 

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s klingelt. Der Paketwagen ist da. Die Doc Martens aus Berlin werden geliefert. Ich reiße das Paket auf und hole die Boots aus dem Schuhk arton. Sie übertreffen meine Erwartungen. Alles riecht frisch. Ich entferne das Stopfpapier und fädel die Schnürbänder zur Hälfte ein, weite sie, dass ich hineinschlüpfen kann. Jetzt schnüre ich die 14-Loch-Docs bis nach oben zu. Das feste Leder schmerzt wie Peitschenhiebe, sowohl auf dem Fußrücken als auch auf dem Schaft. Die ersten Schritte wirken wie Wattwandern. Ich gehe weitere Schritte wie im Anfänger Salsa-Kurs. Die Docs schmerzen zwar, aber sie passen. Endlich habe ich eine Per spektive. Ich gehe in die Hocke. Das Leder spannt sich und knartscht. Der Geruch des frischen Leders und der Gummisohle steigt mir in die Nase. Jetzt verlasse ich die Wohnung, teste die Docs auf der Straße. Es wird noch ein paar Tage dauern, bis sie eingelaufen sind. Ich bin überglücklich. Die haben mich eine Stange Geld gekostet. Doch sie sind es wert, eine Investition in die Zukunft. Die Stahlkappen schauen bullig nach vorn wie der Bugwulst eines Schiffsrumpfs.

Mir wurden jetzt verstärkt Fragen gestellt.

      „Oah, geil, echte Docs. Wo hast Du die denn her?“

      „Aus Berlin, von Blue Moon.“

      „Was hast Du dafür bezahlt?“

      „Eine gute Stange Geld.“

Die Martens machen nach wochenlang Knartschgeräusche und glänz

en wie eine frische Schokoladenglasur. Mein Leben hat wieder einen Sinn. Meine Freunde sind neidisch.

 

 

 

 

 

 

Einmal SKINHEAD immer SKINHEAD?

 

I don’t care what the people say!

 

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ie Szene vergisst nie. Stimmt das? Der Hass war jedenfalls grenzenlos. Das bekamst du sogar beim Fußball zu spüren. Am schlimmsten war es beim pissgelben Kreisklassenverein am Westring. Es waren zumeist die Jahrgänge zwei bis vier Jahre darüber, die immer wieder auf mein e Skinheadzeit zurückkamen, auch während ich beim Fußballspiel auf dem Platz stand. Wenn ich etwas kritisierte, hieß es häufig

      „Was willst du, Skinhead?“

Obwohl ich schon seit Jahren längere Haare hatte, wurde ich immer noch als Skin und Skinhead gescholten.

      „Als Skinhead hast Du hier gar nichts zu melden!“

Besonders Addo Killhorn stauchte mich bein jedem Aufeinandertreffen auf diese Weise zusammen, obwohl er selbst den Kopf kahlrasiert trug. Das war schon absurd. Er schäumte regelrecht, wenn er auf dem Sportplatz meine Stimme hörte, wenn ich rief „Faul“, „Abseits“ oder „Elfmeter“. Am aggressivsten war Addo, wenn er sich mit mir in der Nähe des besoffenen Anhangs des pissgelben Vereins kappelte. Dabei lag me ine Skinheadzeit schon mehrere Jahre zurück. Mir war er gar nicht aus meiner kurzen Skinheadzeit bekannt, nicht mal vom Bierautomaten. Vieles lief wie stille Post. Als Skinhead spielte ich im Jugendbereich, und er war bestimmt drei Jahre älter als ich, so alt wie Gonnrad und die Konz-Brüder. Das konnte nur das Resultat einer krassen Rufmordkampag ne gewesen sein, wahrscheinlich ausgelöst von Lorax, Swantje, Czeck und Fiebrig. Swantje, die auf One Night Stands sowohl mit Stidi als auch Mig während derer härtesten Skinheadzeit hatte, warf mir wiederum v or, dass ich mich mit Stidi und Mig abgegeben hatte. Sie schaut mich s elbst heute noch an, als wäre ich ein Schwerverbrecher.

Lorax hingegen ließ die Skins zum Saufen immer wieder in die Ann enkneipe. Meistens hatte er nicht mehr den Mumm, sie abzuweisen, wenn die Skins bei der WG klingelten oder die Tür belagerten. Anderer seits warf Lorax mir bald vor, ich hätte mich zu Lange mit Gonnrad und den Konz abgeben und mit ihnen gesoffen, sei deshalb für die Szene aus Prisma, DNA und Subway und insbesondere die Kneipenfußba llszene untragbar.

Den Vogel schoss Fiebrig ab. Obwohl er mir immer wieder vorhielt , mit Gonnrad und den Konz-Brüdern gesoffen zu haben, heiratete er Swantje. Er muss gewusst haben, dass die mit den Konz-Brüdern gefröschelt hatte, auch im Flip auf Toilette. Bei Frauen wurde also ein anderer Maßstab angelegt. Da hatte ich auch eine Hippie Frisur tragen können, mein Ruf war unwiederbringlich verdorben. But I don’t care what the people say!

 

 

 

 

 

 

Die Kieler SKINHEAD-Kartei

 

This is Kiel, Not Hanover

 

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ährend vielerorts von der Hannoveraner Punker-Kartei die Rede war, gab es eine ganz andere Kartei in Kiel, von der noch niemand etwas ahnte. Die Hannoveraner-Punker-Kartei wurde sogar in den Medien, allem voran in der Yellow-Press breitgeschlagen, bis sich auch der letzte Punk darüber aufregte und schwor, bei den nächsten Chaostagen nach Hannover zu fahren. Doch was war das für eine Kartei, die in der Land eshauptstadt Kiel angelegt wurde? Viele ahnen es schon; es war die Kieler-Skinhead-Kartei. Während die Hannoveraner Punker-Kartei öffent lich die Gemüter erregte und für Gesprächsstoff und Zoff sorgte, wurde die Kieler Skinhead-Kartei verdeckt und behutsam verarbeitet, sodass ihre Existenz zunächst gar nicht bekannt wurde. Doch als es um die Straftat eines Skinheads ging, wurde gegenüber einem Rechtsanwalt die Existenz der Kieler Skinhead-Kartei eingestanden. Als er auf Anfrage Einblick in die Kartei erhielt, fotografierte er sich den Foto-Katalog einfach ab. Doch damit nicht genug. Die entwickelten Fotos wurden vergrößert und kopiert, und der Rechtsanwalt gab bald die ersten Kopien mi t Seiten aus diesem Katalog aus den Händen. Später wurden diese vereinzelt in der Skinheadszene herumgereicht wie eine Trophäe oder Urkunde. Doch teilweise sahen die Skinheads nicht aus wie Skinheads, son dern hatten teils schulterlange Haare wie Rocker. Wenn sie jedoch kurz geschorene Haare hatten, sahen sie nicht aus wie Original-Skinheads, sondern trugen Oberlippenbärtchen oder Jacken, die Skinheads kaum tragen würden. Doch es waren allesamt Fotos von ED-Behandlungen, a lle in Schwarz-Weiß, alle mit zu viel Helligkeit, was jedoch am mehrm aligen Kopieren gelegen haben kann.

Die Skinhead-Scheiße lief eine ganze Weile in Kiel, sowohl rechts- als auch linksorientiert und hatte einen Höhepunkt um 1984. In den späteren Jahren kochte das Problem immer wieder hoch, war jedoch nach dem Sieg der Rockerszene passé. Aber anders als in Hannover die Punker-Kartei, gingen die Cops nie mit der Kieler Skinhead-Kartei hausieren. Auch die Lokalpresse schlachtete das Thema nie aus.

 

(Inzwischen wurde auch die Existenz der Kieler Dealerkartei seit spätestens 1987 bekannt.)

 

 

 

 

 

 

Der Alkoholschiss

 

Geschichten aus dem Punkhexenhaus

 

Das ist die Legende vom Alkoholschiss. Auch wenn diese Legende vom Alkoholschiss im Punkhexenhaus noch spätere Generationen beschäftigen wird, soll vermieden werden, dem Alkoholschiss mit dieser Geschichte ein Denkmal zu setzen.

 

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as Punkhexenhaus hätte theoretisch überall stehen können, in den Schweizer Alpen, im Australischen Outback, in den Rocky Mountains, doch es stand in F*cking Dänischenhagen nördlich von Kiel. Es war mal eine Party in ebendiesem Punkhexenhaus. Da kamen Punks von nah und fern, um sich einen zu brennen und brandaktuellen Punk zu hören. Die Nacht wurde exzessiv. Es wurde gefeiert, gequatscht und gebaut. Eine Großzahl der Gäste blieb über Nacht und schlief in Betten, auf Couche lementen im Übungsraum, auf dem Teppich, auf Gartenliegen oder in der Stube auf dem Sofa. Es wurde viel eingedreckt und am Ende lagen Partytrümmer herum. Das war alles nicht dramatisch. Doch am folgen den Morgen setze der Drummer einer Ska-Band einen unfassbaren Alkoholschiss in die einzige Toilette des Hauses, dass er allen nachfolgen den Toilettengängern den Tag vermieste. Der Alkoholschiss stank so bestialisch, dass selbst die Punkszene empört war. Streit brach aus, da der Schuldige gefunden und zur Rechenschaft gezogen werden musste. Vorerst war die Toilette blockiert. Die Gastgeberin musste sich etwas vor Mund und Nase halten, um in der kontaminierten Toilette zum Fenster vorzustoßen und das Fenster aufzureißen. Das geschah mit Höchstgeschwindigkeit, als drohe Gefahr für Leib und Leben. Sie atmete währenddessen gar nicht. Der Alkoholschiss roch chemisch und hochkonzentriert nach Alkohol und Fäkalien, dass kein Mensch der Erde sich dem beißenden Geruch unbeschadet hätte aussetzen können. Inzwischen hatte der Gestank das halbe Haus erfasst, auch den Partykeller und den Übungsraum, besonders das Wohnzimmer und die Küche. Der Gestank d es Alkoholschisses drang durch alle Ritzen und Rillen und war deshalb

auf unbestimmte Zeit omnipräsent. Es roch deutlich anders als ein herkömmlicher Bierschiss, wirkte eher cremig-zart als flockig-feucht. Jetzt fingen alle in einer Panikreaktion an, wirklich jedes Fenster im Haus au fzureißen, bis Durchzug herrschte. Doch der Alkoholschiss roch widers penstig und schien in die Wände und in die Tapete eingedrungen zu sei n. Als Antwort auf den stinkenden Haufen nahm die Hausherrin des Punkhexenhauses in einer Panikreaktion die frische Wäsche von der Wäs cheleine im Heizungskeller, da sie nicht wollte, dass die Wäsche den Ge ruch des Alkoholschisses annehmen oder sich verfärben könnte. Die meisten Partygäste gingen zur Mundatmung über, um die Dämpfe des Schisses nicht weiter mit ihren Geruchsrezeptoren wahrnehmen zu müss en. Ein kleines bisschen Kotzreiz wurde durch diesen Fruchtschiss getriggert. Auf der Musikanlage lief weiterhin härtester Punkrock, der wie eine aggressive musikalische Untermalung zum Alkoholschiss wirkte. Es war der Soundtrack zum Alkschiss, die Filmmusik zum Gestank. Unter den Partygästen herrschte Panik und Unbehagen wegen des strengen G eruches und der Frage, wie ein Mensch nur so etwas produzieren kann. Inzwischen erhoben die anwesenden Punks schwerste Vorwürfe gegen einander und beschuldigten sich gegenseitig, den Alkoholschiss platziert zu haben. Es wurde mit dem Zeigefinger auf den designierten Verurs acher des Schisses gezeigt. Alle waren sich einig, dass der Schuldige bloßgestellt und bestraft werden musste. Inzwischen hatte der Alkoholschiss nur wenig an Durchschlagskraft eingebüßt. Es war das pure Grauen. Der Schäferhund der Gastgeberin, der sonst immer friedlich und still war, wirkte durch den Gestank hochaggressiv und bissig. Doch was mac hte den Hund aggressiv? War es wirklich der Gestank des Alkoholschis ses oder die vom Schiss verursachte Panik im Punkhexenhaus? Bald herrschte pure Verzweiflung, und der Verursacher war immer noch nic ht eindeutig identifiziert.

Vorerst traute sich keiner mehr auf die Toilette. Die ersten pinkelten in den Garten gegen die Hecke. Es waren Schreie des Entsetzens zu verne hmen, äh, wie kann man nur so pervers riechen, das ist ja abartig. Was hat der denn gegessen. Das war ja purer Alkohol. Das ist ja unmenschli ch. Ich dachte, ich ersticke. Der riecht ja richtig krank.

Es war auch kein Aberglaube, dass von Tapezieren und einem neuen Teppich die Rede war und davon, die Sofaelemente durch neue zu ersetzen.

Einige hielten sich immer noch den Pullover oder ein Halstuch vor Mund und Nase, um den Alkoholschiss nicht frontal einatmen zu müssen. Die Punkmusik erzählte von Tod, Verderben und Desaster. Das passte zur Dimension des Schisses. Die ersten sammelten sich wie bei einer Evakuierungsaktion auf der Terrasse und hielten sich immer noch sch ützend den Stoff vor die Atemeingänge, denn der Alkoholschiss war üb erall. Es hatte immer noch kein Punk die Verantwortung für das stinke nde Etwas auf sich geladen. Anhand der Spuren in der Kloschüssel mu ss der Alkoholschiss hellbraun und feinkörnig gewesen sein. Es dauerte über 10 Minuten, bis ein Unschuldiger die Verantwortung übernahm u nd die Reste des Alkoholschisses mit eine Klobürste wegkratzte. Das geschah bei offener Klotür, weit geöffnetem Fenster, mit vorgehaltenem Halstuch und lauter Punkmusik im Hintergrund. Dazu schrie die Person mehrmals laut äh, igitt und so ein Schwein. Dabei war immer noch n icht eindeutig geklärt, wer für den Alkoholschiss verantwortlich war, denn der Drummer leugnete vehement seine Verantwortlichkeit. Erst n ach einem Kreuzverhör musste der Drummer den Alkoholschiss auf seine Schulter nehmen. Nachdem er es schlussendlich zugegeben hatte , für den Alkoholschiss verantwortlich zu sein, wurde er als Perversling , Schwein und abartig bezeichnet.

Der Alkoholschiss, Englisch “alcohol shit“, roch zwar fruchtig-herb und hochkonzentriert nach Alkohol, im Prinzip wie ein Fruchtlikör, Obstler oder Danziger Goldwasser, doch es überwog die Nuance des Fäkalien geruchs durchdrungen mit einer Schnapsnote. Doch dieser Fäkalienge ruch war unerträglich, nicht so wie Pferdeäpfel oder Kuhfladen, sondern eher wie Verwesung oder bei einem Chemieunglück mit Faulgasen. Der Alkoholschiss roch scheußlicher als eine Leiche nach zwei Woche n in einem geschlossenen, ungelüfteten Zimmer. Die Insaßen des Pun khexenhauses machten bewusst ein Psychodrama daraus, verliehen dem Alkoholschiss mehr Bedeutung, als er tatsächlich besaß, sprachen ih m übernatürliche Fähigkeiten zu, die er nicht hatte, übertrieben desse n chemikalische Parameter und begaben sich in eine Opferrolle, die schlimmer hätte nicht sein können.

Inzwischen hatte der Alkoholschiss seine volle Kraft entfaltet, obwohl er längst weggespült und seine Spuren beseitigt waren. Bei den Reaktion en der Insaßen des Punkhexenhauses wäre ein Außenstehender von ei nem größeren Unglück ausgegangen oder von einem lokalen Supergau . Die freiwillige Feuerwehr hätte wohl das ganze Haus gesprengt. Der Alkoholschiss war für die einen ein Heilsbringer, der Messias, ja sogar ein Zeichen Gottes, das uns sagte, dass es so nicht mehr weitergehen durfte. Für die anderen war der Schiss das Böse an sich, ein Grundübel, das es z u bekämpfen galt, der personifizierte Teufel, der sein Gesicht in aller Schärfe in der Kloschüssel zeigte. Der Alkoholschiss warf Fragen auf. Sollten Sie den Alkschiss verfluchen oder gar anbeten? Sollten sie vor ihm niederknien und ihm huldigen? War der Schiss diesen Aufriss wert? Hätten sie den Alkoholschiss einfach ignorieren sollen, als hätte es ihn nie gegeben? Wie lange könnte der Alkoholschiss seine Energie im Punkhexe nhaus entfachen und am Leben erhalten? Sie hatten den Schiss bereits in ihre Herzen geschlossen und behielten sein Gedenken in ihrem Kopf. Die ersten bekamen Kopfschmerzen ob des bestialischen Geruches. Ein Punk nahm eine Kopfschmerztablette. Der Bruder der Hausherrin fing an, ein Deospray zu versprühen. Andere rauchten Kette, da sie den Geruch des Alkoholschisses mit Zigarettenrauch bekämpfen wollten. Es wurde preiswertes Parfüm wie Weihwasser verkippt. Ein andere schl ug vor, ein Lagerfeuer nahe der Terrassentür zu starten, damit der Rau ch ins Haus ziehen und den Alkoholschiss übertünchen könnte. Stattde ssen wurde ein Spaziergang über die Felder unternommen, wo der Ger uch von Dung und Güllepumpe als vergleichsweise angenehm empfun den wurde, da der Landgeruch dem Alkoholschiss nicht das Wasser reichen konnte. Das gemeinsame Frühstück wurde wegen des Alkschisses auf unbestimmte Zeit verschoben und fand schlussendlich erst am spä ten Nachmittag statt, als die Luft wirklich wieder rein war. Es blieb während es Frühstücks nicht beim Naserümpfen. Manchmal bildete sich ei ner der Punks ein, noch Reste des Alkoholschisses wittern zu können. Ein Alkoholschiss per se ist ja nichts Außergewöhnliches und kommt nicht nur in Punkerkreisen regelmäßig vor, wenn übermäßig Schnapps u nd anderer Alkohol konsumiert wird. Doch dieser Alkoholschiss war in seiner chemischen Zusammensetzung in seiner Konsistenz und Geruc hsintensität einzigartig. Dieser Schiss war schlichtweg die Krönung. Wäre Gestank messbar, hatte er auf einer Richterskale den Höchstwert errreicht oder sogar das Messgerät zerstört. Experten sind sich einig, da ss solche Alkoholschisse im Vorfeld vermieden, bekämpft und verhind ert werden sollten.

Noch viele Jahre später erinnerten sich die betroffenen Punks aus dem Punkhexenhaus an den Alkoholschiss des besagten Morgens und schü ttelten die Köpfe, wenn sie sich den scharfen Geruch des Schisses noch einmal vor Augen führten. Sie waren sich einig, dass es nichts Perve rseres geben könnte.

Der Alkoholschiss war keine Begegnung mit Gott. Der Alkoholschiss ha tte auch keine heilende Wirkung, ganz im Gegenteil.

 

 

 

 

 

 

AUG IN AUG MIT DEN SCHERGEN

 

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iel 1987 in einem Stadtteil namens Friedrichsort. Ich hatte mein Abi immer noch nicht in der Tasche. Wir standen am Bierautomaten vor Mollenhauer und zogen uns halbe Wappenstolz. Punk war angeblich längst tot, doch dieser Abend sollte wieder mal das genaue Gegenteil beweisen.

Mollenhauer, ein Lebensmittelladen in der Einkaufsstraße, hatte integriert zur Straßenfront einen großen Bierautomaten, in dem die Bierflaschen wie in einem Karussell angeordnet waren. Immer wenn ein Halber gezogen wurde, drehte sich die Ebene wie ein Karussell um eine Station weiter, sodass der nächste Halbe im Ausgabefenster bereitlag. Da die Ausgabefenster aus Glas waren, wurden sie häufig eingeschlagen. Im Volxmund hieß der Bierautomat Molli.

      „Lass uns mal zu Molli gehen!“

Zwar waren in diesem 10000-Seelen-Stadtteil am Wochenende spätestens ab 18 Uhr die Bürgersteige hochgeklappt, jedoch befanden sich überall mehrgeschossige Wohnhäuser. Im Bedarfsfall, also bei Scherben, blauen Augen und nächtlichem Lärm, wurde bei den Schergen angeklingelt, die einen Anfahrtweg von vielleicht 300 Metern hatten.

Das Phänomenale an dem Bierautomaten war, dass wir uns rechts da neben in einem weiteren Automaten Lebensmittel wie Gurkengläser oder Bockwürste ziehen konntest.

$abrina war an diesem Abend dabei. Da saßen unsere Fäuste besonders locker. Schon nach wenigen Bieren kamen die Schergen, die ihr Auto in Wildwestmanier parkten und uns zur Rede stellten.

      „Guten Abend. Es hat eine Beschwerde von Anwohnern wegen Lärmbelästigung gegeben.“

Doch wir waren schon zu voll und aufgeputscht, um entspannt zu r eagieren.

      „Was wollt ihr?“

      „Wir wollen, dass wieder Ruhe einkehrt.“

      „Du hast hier gar nichts zu melden.“

      „Es ist fast zwölf. Die Anwohner wollen schlafen.“

      „Heute ist Samstag.“

Das Gespräch schaukelte sich langsam aber sicher weiter hoch. Einer

der Schergen schien sich zu freuen, als legte er sich gern mit Rockern an und in diesem Fall sogar mit Punkrockern in schweren Lederjacken.

      „Fahrt aufs Revier zurück ihr scheiß Schergen. Macht Feierabend.“

      „Pass mal auf, dass wir Dich nicht mit aufs Revier nehmen.“

      „Du hast mir gar nichts zu sagen. Und seit wann duzen wir uns!“

      „Rollant, lass ihn. Du ziehst nur den Kürzeren.“

rief Arndt, der neben mir stand.

      „Ich lass mich hier nicht rumkommandieren.“

      „Bitte verlassen sie jetzt das Areal.“

      „Halt‘s Maul, ich hau Dir auf die Fresse.“

Der Scherge schien weiter zu lächeln.

Da zog ich meine Lederjacke aus, gab sie $abrina und ebenso meinen Halben.

      „Zieh Deine Jacke aus! Stell dich! Stell Dich einem fairen Faustkampf von Mann zu Mann.“

      „Komm weg da!“

Doch ich setzte dem einen der Schergen weiter verbal übel zu.

Der Scherge war recht hager und neu im Stadtteil. Er muss gewusst haben, dass es ein harter Job hier in diesem Arbeiterstadtteil werden würde. Ihm muss klar gewesen sein, dass ich an diesem Abend nur schaus pielerte. Es war nur eine Prüfung, die der Scherge zu bestehen hatte. D och das war gefährlich für alle Beteiligten, ein Spiel mit dem Feuer.

      „Zieh die Jacke aus! Du feiges Schwein! Ich hau Dir eine rein!“

      „Komm jetzt weg da!“

      „Ihr scheiß Schergen! Ich hau euch um!“

      „Langsam reicht’s.“

      „Nimm die Mütze ab, zieh die Jacke aus und gib die Pistole deinem Kollegen.“

      „Es reicht!“

schrie der dritte Scherge.

      „Du hast mir überhaupt nichts zu sagen. Wo kommst Du überhaupt

her, Du scheiß Scherge?“

      „Ich komme aus Altenholz.“

      „Was machst Du da? Spielst Du da Fußball oder was.“

      „Nein, ich spiele kein Fußball.“

      „So, jetzt komm mit hier“

sagte $abrina und zog mich am Arm weg von den Schergen. Wir gingen Richtung Kirche. Die Schergen stiegen ins Auto und fuhren weg. Ich wusste gar nicht, dass ich so hart sein konnte. Wir bogen nach links ab in Richtung Neue Heimat. So wie wir drauf waren, gab es sicher noch mehr Stress. $abrina war in dieser Nacht stolz auf mich. Doch wir hatten Glück gehabt, dass es friedlich endete.

Dennoch hatte ich dem Schergentum erfolgreich Paroli geboten, auch wenn ich durch den Auftritt mit Sicherheit in einer Asozialen- und Schlägerdatei landete.

 

 

 

 

 

 

Die Brücke unter der wir das Diebesgut

 

Dumm gelaufen

 

D

ie Fördestraßenbrücke war nicht superhoch. Die Hochbrücken waren deutlich höher. Von der Schnellstraße führte eine Treppe ins Endmoränental. Unter der Brücke ließ sich herrlich Party machen, bloß die Fahrgeräusche der Autos nervten, wenn Sie über die Metallschwelle am Anfang der Brücke fuhren. Wir saßen hier mal mit Kasi-Rekorder und soffen.

Im Treff herrschte Hochkonjunktur. Ergo brachen wir eines nachts in den Jugendtreff ein, benebelt und aus einer Laune heraus. Ich weiß n icht mehr, mit wem ich das Ding drehte, kann es mir aber schon denk en. Jedenfalls waren wir zu dritt.

Die Kellerfenster mit den Metallgittern konntest du mit einem Kick auftreten. Ich machte zwar keinen Kampfsport, zumindest damals noch nicht, aber ich hatte mir die Kicks von den Kampfsport-Kids aus dem Stadtteil abgeschaut, vor allem vom Teakwondo-Freak, auch wenn der mit Kicks in der Öffentlichkeit geizte. Das war die Ultima Ratio. Im Tr eff und am dazugehörigen Kindergarten gab es bestimmt 12 Kellerfen ster mit vorgelagerten, auftretbaren Metallgittern. Beim Tritt gegen die Metallgitter sprang das ganze Fenster aus der Fassung. Wir stiegen d urch eins der Fenster ein. Wir mussten aufpassen, denn in NRW wurd e wieder ein Jugendlicher in unserem Alter erschossen, der in einen Jugendtreff eingebrochen war. Der Keller war dicht zugestellt. Deshalb konzentrierten wir uns auf die großen, versiegelten Kartons. Plötzlich rief jemand laut

      „Tennisschläger!“

Wir eilten zu unserem Kollegen und nahmen die ersten Rackets aus dem Karton, die noch in Plastiktüten eingeschweißt waren. Hier lagen bestimmt 40 Tennis Rackets. Offensichtlich wurde der Keller des Jugendtreffs als Zwischenlager genutzt, de nn für die Kids im Jugendtreff waren die ganz sicher nicht gedacht. Bei dem Budget des Treffs blieb uns, wenn überhaupt, einmal im Jahr einen Besuch beim Bowlingtreff. Das Anmieten von Tennisplätzen hing egen wäre utopisch gewesen.

Wir entpackten die ersten Schläger. Keiner von uns hatte Ahnung von Tennis, auch nicht von Tennis-Marken. Wir konnten nicht einschätz en, was die Schläger wert waren.

Bei solchen Aktionen planten wir zum einen für den Eigenbedarf, zu m anderen ließ sich das Zeug verticken. Es gab eine Vermutung, wem die Tennisschläger gehört haben könnten. Einem Anwohner, der im V orstand des Tennisvereins war. Doch der hatte nichts mit dem Jugend treff zu tun. Egal.

Ich kannte den Kellerraum bereits, denn ich hatte darin mal eine ein malige Übungsraumsession mit Geisel – er mit Bass, ich mit E-Gitarre plus C64 als Drumcomputer. Wir konnten uns den Übungsraum nicht langfristig sichern, denn dazu waren die Heavy Metal Kids zu mächtig. Seis drum. Jedenfalls kannte ich den Raum schon und wusste, wo der Lichtschalter war. Jeder von uns nahm jetzt so viele Tennisschläger, wie er tragen konnte. Später zählten wir am Versteck 27 Tennisschläger.

Das Versteck unter der Fördestraßenbrücke war erprobt. Hier hatten wir früher schon Zigaretten versteckt. Für Zigaretten waren wir da deutlich zu jung, um rauchen zu dürfen. A.K. war dabei. A.K. behauptete, du kannst Zigarettenfilter sammeln, von Papier befreien, auf die Handfläche legen und Nagellackentferner darauf kippen. Dann schmelzen die Filter und sehen aus wie Sperma. Das glaubten wir alle und probierten es mehrmals aus. Es war eine ziemlich Sauerei, die brutalst nach Chem ie roch und die Haut anätzte. Wir glaubten es, obwohl die breiige Flüßigkeit braun war und nicht weiß. Doch wer wusste in unserem Alter sch on, wie Sperma aussieht. Ich versuchte später mehrmals mit Nagellack entferner Sperma zu erzeugen. Ich war skeptisch.

Ganz in der Nähe war der Knick an der Parkbucht, in dem der alte Traber immer seine Flachmänner trank, bis das ganze Gebüsch voll lag m it Flachmännern. Weiter unter im Tal schlachteten die Rocker die geklauten Motorräder aus. Wir fanden später immer nur die Motorradleich en. Jedenfalls mussten wir die Treppe runter, unter der Brücke durch und auf halber Strecke der nächsten Treppe gingen wir hoch ins Gebüsch am Abhang, wo schon einige Löcher gegraben waren. Hier legten wir die Tennisschläger ab und wussten immer noch nicht, was sie wert war en. Wir scharrten etwas Erde darüber, bis die Rackets nicht mehr zu se hen waren. Danach gingen wir nach Hause. Als wir am nächsten Tag wieder zur Brücke kamen, waren die Tennisschläger verschwunden. Das

war echt übel. Wir konnten uns schlecht gegenseitig verantwortlich machen. Ich schluckte die Pille, hatte eh mehr Chaos als Profit im Kopf.

Später war Disco im Gemeindezentrum. Wir zogen das Ding durch u nd waren voll. Natürlich fuhr kein Bus. Also gingen wir den weiten Weg zu Fuß. Wir waren zu fünft oder zu sechst. Ich hatte im GZ einen Feuerlöscher geklaut. Jetzt lief ich Idiot den ganzen Weg zurück mit dem Feuerlöscher auf der Schulter, als wäre es das Normalste der Welt. Um die Uhrzeit fuhr hier eh kein Auto mehr. Schließlich kamen wir zur Fördestraßenbrücke, wo zuvor der Coup mit den Tennisschlägern gescheitert war. Jemand schrie

      „Schmeiß runter den Scheiß!“

Da setzte ich mitten auf der Brücke den Feuerlöscher ab. Es war schon so gut wie hell. Ein paar Lux fehlten noch. Von Sonne jedoch noch keine Spur. Ich schaute mir den Feuerlöscher an, nahm den Schlauch in die Linke und den Trigger in die rechte, stellte das Unterteil des Feuerlöschers aufs Geländer ... und drückte ab. Ich drückte den gesamten Fe uerlöscher leer. Eine weiße Wolke setze sich frei. Der Feuerlöscher krachte die rund 20 Meter runter. Das ganze Tal unter uns war jetzt einge nebelt. Unter der Nebeldecke war nichts mehr zu sehen. Es war ein vis uelles Spektakel. Danach ging ich weiter meinen Kumpels hinterher un d ließ das eingenebelte Tal zurück. Chaos is my life.

 

 

 

 

 

 

Der Haschtee

 

(Zwischen Drogenerfahrungsaufarbeitungsliteratur und jugendgefährdende Schriften)

 

I

n dieser Woche sollte die US-psychedelic Punkband Dinosaur Jr. in Hamburg im Docks spielen. Wir saßen in einer Wohnung in Kiel und bereiteten einen Haschtee zu. Der Saxophonist unserer Band zerstückelte einen Haschklumpen und setzte den Wasserkocher auf. Er packte die Handfläche voll Haschkrümel in eine Kleine Teekanne, goss das koch ende Wasser auf und ließ den Haschtee ziehen. Er behauptete, sich mit Dosierung, Ziehzeit und Wirkung gut auszukennen. Doch der Tee wurde zu stark. Er schenkte den Tee in Tassen, die wir ganz normal wie Pfefferminz- oder Hagebuttentee tranken. Die Wirkung entfaltete sich schnell. Plötzlich rief jemand, „Dinosaur Jr.“ spielen heute im Docks. Es herrschte sofort Aufbruchstimmung.

      „Ach ja, ganz vergessen.“

      „Wir müssen sofort los!“

      „Los, das dürfen wir nicht verpassen.“

Wir zogen uns an und gingen runter zum Auto. Ich habe No Recall, ob noch eine Dritte Person mit im Auto saß. Jedenfalls saß ich hinten, und der Fahrer fuhr mit einem Höllentempo zur Autobahnauffahrt. Da merkte ich bereits, dass der Tee zu hoch dosiert war. Der Fahrer lachte diabolisch und fuhr wie der Henker, denn wir wollten rechtzeitig zum Konzert am Docks sein. Noch bevor wir auf der Autobahn 7 waren, verlor ich das Bewusstsein. Mein Kopf sackte nach hinten und lag auf der Kofferraumablage des Kleinwagens. Ich wurde jetzt nur noch kurz wach, wenn der Fahr er über eine Bodenwelle bretterte und einen Lenkfehler korrigierte. Erst in Hamburg kam ich wieder zu mir, allerdings waren meine Augen fast dicht und wirkten geschwollen. Der Saxophonist trug einen Psychobilly-Flattop und eine runde Nickelbrille, sodass er aussah wie eine Eule. Wir parkten in einer Nebenstraße der Reeperbahn, direkt an einer Punkkneipe namens Gun Bar. Wir gingen zum Docks und es ging mir kacke. Ich hatte Schüttelfrost. Der Fahrer hingegen hatte Power wie eine f antastische Comicfigur. Er strahlte, lachte, hatte eine geschwellte Brust, kommentierte alles mit Wortwitz und explodierte fast vor Energie. Bei mir war das genaue Gegenteil der Fall. Ich wirkte zusammengekauert, blass, hatte halb geschlossene Augen und blieb wortlos, wirkte wie ein Scheintoter. Plötzlich standen wir vor dem Docks und bekamen einen Schreck, als wir erkannten, dass das Stahlgitter am Eingangstor runterge lassen war. Auf dem Gitter hing ein Ankündigundgsposter für das Dino saur Jr.-Konzert. Wir hatten anscheinend alles richtig gemacht, nur dass hier keine Schlange oder Menschentraube stand und das Gatter runtergelassen war. Wir checkten das Problem nicht, dachten zunächst, es sei ein Nachtkonzert, dass erst ab 11 oder 12 Uhr losgehen würde. Plötzlich stand ein Pärchen neben uns, dass das Plakat kurz las.

      „Ah, gut, das ist morgen.“

sagte die Frau. Da bekamen wir einen Schreck, denn wir hatten nicht gecheckt, dass auf dem Plakat das Datum des morgigen Tag es stand. Wir traten an das Plakat heran, um es zu studieren.

      „Was ist denn heute für ein Datum?“

      „Ach Scheiße, wir haben uns im Tag geirrt.“

Wir waren also in unserem Haschteerausch am falschen Tag nach Ha mburg gefahren. Jetzt wollten wir zum Auto zurück, verliefen uns aber zunächst auf der Reeperbahn. Nach einer halben Stunde fanden wir en dlich die Seitenstraße und unseren Parkplatz mit dem Kleinwagen. Die Kneipe hatte jetzt offen. Wir gingen hinein und es lief härtester Punkro ck, wie wir ihn möchten. Wir bestellten uns ein Bier und gingen zum Kickertisch. Beim Kickern bemerkte ich jedoch, dass ich viel zu breit wa r und Koordinationsprobleme hatte. Beim Saxophonisten war das ähnl ich, sodass wir das Spiel zwar gerade so zu Ende brachten, aber sonst z u nichts mehr in der Lage waren. Wir erzählten der Tresenfrau von un serer Schlappe mit dem Konzert. Sie hörte sich das an und rauchte. Jetzt nahmen wir uns vor, am morgigen Tag rechtzeitig und nüchtern zum anvisierten Konzert zu fahren. Wir tranken noch ein Bier am Tresen u nd gingen zurück zum Auto. Wir stiegen ein, und ich saß jetzt auf dem Beifahrersitz. Doch der Fahrer war inzwischen so benebelt, dass er kaum noch das Fahrzeug starten, geschweige denn lenken konnte. Trotzdem bogen wir wieder auf die Reeperbahn ein und entfernten uns gut zw ei bis drei Kilometer, bis wir auf einem Parkplatz in einer Art Industrie - oder Gewerbegebiet standen. Wir hatten auf dem Weg auch einen kle inen Unfall, nichts Bedrohliches. Wir fuhren ein parkendes Auto an un d begangen Fahrerflucht.

      „Das ist vielleicht ein Rumgeeier hier!“

      „Konzentrier dich mal.“

Als sei es das Normalste der Welt, fuhr er einfach weiter. Auf dem Parkplatz bemerkten wir, dass es so nicht mehr weitergeh en konnte.

      „Lass uns mal hier warten, bis wir wieder klar im Kopf sind.“

Hier baute der Fahrer noch eine Haschtüte. Und wir schliefen gut drei bis vier Stunden auf den Sitzen auf diesem Parkplatz. Als es früh langsam wieder dämmerte, führen wir nach Kiel zurück und bauten zum Glück keinen weiter Unfall mehr. Auf der Rückfahrt hatte ich Schüttelfrost. Der Fahrer fuhr mich nach Hause sagte noch.

      „Lass uns morgen mal rechtzeitig los, damit wir auch nicht die Vorband verpassen.“

Am Tag des Konzerts waren wir jedoch so hinüber, auch mit Halluzinationen, Depris und körperlichen Symptomen, dass wir nicht mehr in der Lage waren, nach Hamburg aufzubrechen. Der Haschtee muss viel zu stark dosiert gewesen sein. Wahrscheinlich hatte der Saxophonist da gut zwei Gra mm von dem schwarzen Afghanen reingebröselt. Wir hatten die Sache total verkackt und Dinosaur Jr. Bis auf den heutigen Tag nicht gesehen.

 

 

 

 

 

 

Der Chicken-Squawk

 

Bog, bog, bog

 

A

uf der MDC LP Millions of Damn Christians befindet sich ein Song, der Chicken Squawk heißt. Die Thematik Landleben und Leben auf Bauernhöfen wurde bereits von einigen Punk-Bands aufgegriffen, so auch von Chaos UK mit dem Song Farmyard Boogie oder UK Subs mit Down on the Farm. Doch beim Chicken Squawk von MDC handelte es sich streng genommen sogar um einen Tanz. Das konnten wir noch nicht erahnen, als wir den Song Chicken Squawk zum ersten Mal hörten. Das Interessante an dem Song ist, dass er nicht nur einen erzählerischen Text hat, sondern auch einen Refrain, bei dem die Geräusche eines Huhnes imitiert werden, und zwar bog, bog, bog, bog, bog, bog, bog. Dies Hühnergegacker verlief im Rhythmus der Musik mit einer eigenen Me lodie, die sehr einprägsam war. Noch hatte wir MDC noch nicht live ge sehen und konnten noch nicht einschätzen, was es mit dem Chicken Squawk auf sich hatte. Als MDC schließlich das erste Mal in Kiel, in der Alten Meierei spielten, stand schlussendlich der Song Chicken Squawk a uf der Playlist. Erst jetzt erkannten wir, dass sich hinter dem Chicken Squawk ein Tanz verbarg, bei dem der Sänger Dave Dictor extra von der Bühne stieg und im Publikum den Chicken Squawk vollführte, währe nd er das Mikro in der linken Hand hielt. Er ging für den Chicken Squawk extra in die Hocke, bewegte sich im Krebsgang und hielt sich die rechte Hand über den Kopf mit auseinandergespreizten Fingern, die er so hielt, als hätte er einen Hahnenkamm. Während er sich jetzt so bewegte, ein Huhn imitierend, sang er die ganze Zeit das bog, bog, bog, bog, bog, bog wie ein verrücktes Hühnchen im Rhythmus der Musik in d er Chicken Squawk Refrain-Melodie. Währenddessen standen seine Bandkollegen auf der Bühne und spielten ihre Instrumente im Hardcore-Style. Jetzt war der Chicken Squawk auch in Kiel angekommen. In Zukunft kamen wir bei Trinkgelagen immer wieder auf den Chicken Squawk zu sprechen. In Extremfällen wurde er spontan imitiert, und das ni cht nur aus Spaß an der Freud, sondern auch zu Illustrationszwecken und nicht nur wenn MDC lief. Ich kann mich an eine Situation im Kom

munalen Kino in der Pumpe erinnern, als wir uns mit vier oder fünf Leuten einen Film ansahen. Mit dabei war der Drummer der damaligen Schulband der Gesamtschule, der leicht einen in der Krone hatte. Wie aus dem Nichts fing er plötzlich mit einem Chicken Squawk an, während der Film bereits lief und alle Kinobesucher sich voll auf den Film kon zentrierten. Niemand wusste, weshalb der Drummer jetzt auf einmal den Chicken Squawk assoziierte und für bestimmt fünf Minuten im Kino das Bog, Bog, Bog brachte, bis wir Angst um seine Psyche bekamen. Spätestens nach einer halben Minute war das hochnotpeinlich, doch nie mand traute sich zu intervenieren, denn der Drummer war übergesch nappt. Während des Chicken Squawks blieb er auf dem Kino-Stuhl sitzen und bewegte sich wie ein Hühnchen, zuckte mit dem Kopf und tanz te mit den Ellenbogen. Irgendwann war er duch mit seinem Sitting Chicken Squawk und konzentrierte sich wieder auf den Film, umklammerte dabei sein Bier. Da hatten wir schon alle wieder Bauchschmerzen, und waren froh, dass dieser spontane Chicken Squawk vorüber war. Wir hatten schon die Befürchtung, dass es ein Hausverbot geben oder es zu Handgreiflichkeiten kommen könnte. Wir nahmen diesen Chicken Squawk zur Kenntnis und sahen uns den Film in Ruhe zu Ende an. Grundsätzlich ist der Chicken Squawk ein Ausdruck guter Laune. Doch wer weiß, was passiert wäre, wenn die Schergen eingegriffen hätten, um d en Chicken Squawk zu unterbinden. Deshalb ist der Chicken Squawk auch ein Politikum, das nur wohl bedacht eingesetzt werden sollte. Ergo ist der Chicken Squawk ein Kulturgut und eine Waffe zugleich. Er ist e in kultureller Import aus den USA, der weltweit in jedem Land verstan den wird, denn überall auf der Welt gibt es Hühner, die, wenn sie geär gert werden, selbst einen Chicken Squawk vollführen. Daher ist der Tanz auch ein Anthropomorphismus.

 

 

 

 

 

 

Meine Freundin attackiert mich

 

W

ir waren Silvester zu Pjon-Chicken nach Dorf P. eingeladen. Wir feierten zu viert. Neben dem Gastgeber Pjon-Chicken war eine Tresenfrau aus der Subway-Disco eingeladen, dazu $abrina und ich bekanntermaßen als Pärchen. Unser Dealer Ritscher war nicht da. Pjon-Chicken wohnte nach wie vor in der garagenähnlichen Unterkunft in Dorf 21 neben dem Pflaumenbaum meiner Großeltern, die Dorf 20 wohnten. Wir h örten an diesem Abend Killing Joke, Matt Bianco, Alien Sex Fiend, B 52’ s und Iggy Pop. Ich war zu der Zeit voll auf Kleptomanie. Ich klaute alles, was nicht niet- und nagelfest war, füllte all meine Taschen, schob mir Diebesgut vorn in die Hose, sodass es gerade noch unbemerkt blieb. Zigarettenschachteln passten gut in die Strümpfe, Flaschen vorn in die Hose. Ab 1-Liter-Flaschen wurde es kritisch. Lambrusco-2-Liter war vorne unmöglich, das checkten wir sofort. T-Shirt und Pullover wurden idealerweise in die Hose gesteckt, sodass ins T-Shirt geworfenes Diebesgut nicht unten rausrutschte. Das war der Lernprozess, denn ich schon als Teenager beim Schallplattendiebstahl begriffen hatte. Wenn ich alle einzelnen Produkt-Token zählen würde, käme ich auf bestimmt 1000 Teile. Damit war ich Volxschädling Nummer eins. Auch die Sekt- und Champagnergetränke für die Party hatte ich zwischen Weihnachten und Silvester gezockt. Ich machte meine Freundin glücklich mit dem Diebesgut, ob mit Zigaretten, Champus oder Süßigkeiten. Das war Liebe, wenn ich ihr eine Packung West oder Prinz Denmark präsentierte, als käme der Fischer vom Fischfang oder der Jäger vom Schützenfest. Die ganze Familie meiner Ex liebte mich dafür, dass ich nicht arbeiten ging, aber trotzdem Neuware mit nach Hause brachte. Das war gelebte Kleinkriminalität. Zudem bauten wir unspektakulär Marihuana an, sowohl im Haus meiner Eltern als auch in Dorf D. inmitten all der Rocker und Bauern.

Kriminalität war das verbindende Element. Ich kannte damals niemanden, der nicht kriminell war. Viele begangen Straftaten nicht aus fina nziellen Gründen, sondern aus Spaß an der Freud, weil sie den Kick brauchten, oder um den größtmöglichen Lacheffekt zu erzielen. Sinnlosig

keit war Trumpf. Die Subway-Tresenfrau hatte zuvor eine Lehre zur Bankkauffrau absolviert, jedoch schnell gepeilt, dass das nicht ihr Ding w ar. Niemand hielt sie für eine Schergin. Ich habe sie meinen Lebtag nur in Schwarz gesehen. Selbst ihr Brillengestell war schwarz. Mir war sie etwas zu fett. Ich brauchte drahtige Dinger mit Punkfrisuren und keine übergewichtigen Gruft-Schnappsdrosseln. Für Silvester hatte ich mit Pjon-Chicken bei Sky Steaks geklaut, dass wir uns am Silvesterabend bru zzelten. In Dorf P. war es mit dem Silverstergeknalle erträglich, obwohl sich auf halber Strecke zwischen Dorf P. und Dorf D. eine Böllerfabrik befand, deren Mitarbeiter verdächtig gut eingedeckt waren und die Silvesternacht am Dorfteich durchknallten. Pjon-Chicken pflegte zu feierlichen Anlässen immer Cyber-Schnaps wie Bols Blau und anderen Süßkram zu verhaften, Hauptsache, es war stilvoll und klingelte.

Ergo saßen wir Silvesterabend zu viert gemütlich beisammen. Pjon-Chickens Plattensammlung war ganz auf die Discos Pfefferminz, DNA und Prisma abgestimmt. Was die DJs am häufigsten spielten, wurde bevorzugt gekauft. Um null Uhr wurde mit Sektgläsern angestoßen. Der Fernseher lief zwar, jedoch ohne Ton, sodass wir weiter Musik von LPs und Maxis hören konnten. Ich weiß nicht, was aus der Tresenfrau wurde , ob sie ein Taxi bekam, ob sie besoffen mit dem Auto fuhr oder sogar bei Pjon-Chicken übernachtete. Jedenfalls gingen $abrina und ich im M orgengrauen sturzbetrunken den Feldweg Scheuermannredder von Dorf P. nach Kiel-Pries, wo wir in meinem Zimmer zu übernachten plant en. Wir waren mitten auf dem Feldweg, als $abrina mir plötzlich schärfste Vorwürfe machte, ich hätte der Tresenfrau „schöne Augen“ gemacht und plane fremdzugehen, hätte dies wohlmöglich bereits getan. Die Vorwürfe waren absolut haltlos, und das sagte ich $abrina auch, bis sie anfing, auf mich einzuschlagen.

      „Du Schwein, Du willst mich betrügen!“

      „Die Alte interessiert mich doch gar nicht,“

entgegnete ich.

Doch $abrina hämmerte mit den Fäusten weiter auf mich ein.

      „Du Schwein! Du Schwein! Du mieses Schwein!“

Als wir fast an der Fördestraße waren, packte ich sie an beiden Hand

gelenken, bis sie von ihrem Hardcore-Trip runterkam. Ich griff fest zu und schüttelte sie rhythmisch, akzentuiert während ich meinen Stand punkt wiederholte.

      „Kapier. Das. Mal. Die Tresenfrau. Interessiert. Mich. Null. Absolut null.“

Daraufhin gingen wir zu mir und schliefen unseren Rausch aus.

 

 

 

 

 

 

Kettenschläge beim METEORS Konzert

 

Punk Rock was my First Love

 

E

s war das erste Mal, dass ich The Meteors sah. Ich hatte bereits Unm engen Platten diese Psychobilly-Band – oder Punkabilly wie einige sag ten. Jetzt fuhren wir mal wieder nach Hamburg, denn die Meteors sollten an der Reeperbahn im Docs spielen. Steff war dabei, wahrscheinlich auch $abrina. Das Konzert war schon krass. Zu der Zeit war überall der Kampfsport Wing Tsun angesagt. Ich kannte eine ganze Reihe an Leut en, die im Verein Wing Tsun trainierten. Von denen sagten wirklich all e, Wing Tsun sei die effektivste Kampfsportart, die es gibt.

      Ich staunte nicht schlecht, als die Meteors ihre ersten Hits gespielt hatten, dass vereinzelte Psychos damit anfingen, die Wing Tsun Style Kettenschläge zu imitieren und sich teils damit zu attackieren. Einer fing damit an, die anderen taten es ihnen gleich. Aus dem Tumult wurde jed och eine Kreisbewegung. Aus dem Chaos entstand Ordnung. Das Kreuz und Quer wurde wie von Geisterhand in geordnete Bahnen gelenkt. W ie beim Pferderennen liefen die Psychos plötzlich alle im Kreis, vollführten weiterhin diese schrecklichen Kettenstöße. Jetzt liefen schon über 30 Personen gegen den Uhrzeigersinn mit diesen Kettenschlägen im Rund. Übergangslos gingen die Meteors zum nächsten Song über. Jetzt l ief ihr Hit Wrecking Crew. Da flippten die Psychos vor der Bühne so richtig aus. Der Sänger und Gitarrist Paul P. Fenech verfolgte das Gesch ehen erschrocken mit aufgerissenen Augen. Die Band muss sich gefrag t haben, wo sind wir denn hier gelandet. Viele hatten ihre T-Shirts ausg ezogen, damit ihre Muckies besser zur Geltung kamen. Immer mehr sc hlossen sich diesen Circle Psychos oder Circle Jerks an und taten es ihn en gleich. Da mir in meinem Stadtteil auf der Straße ein paar Wing Ts un Sachen beigebracht wurden, konnte ich etwas mit diesen Kettensch lägen anfangen und wusste, was das war. Ich hatte sie zu Hause viele Male wie beim Schattenboxen geübt. Doch jetzt erfolgten die Kettenschläge nicht an ein und derselben Stelle, sondern im Kreisverkehr. Ich reihte mich in die Psychobilly-Horde ein und lief mit ihnen gegen den Uhrzeigersinn. Auch ich machte diese Kettenschläge. Es wirkte, wie in einem Strömungsbecken beim Schwimmen. Wir hatten einen guten Flow. Es bestand kaum Verletzungsgefahr, da wir alle in eine Richtung schlugen. Wenn es nicht wieder diese Brachialtypen gegeben hätte, die zwisc hendurch versuchten, die Richtung zu wechseln. Also wurde es doch wieder chaotisch. Die Psychos wären irgendwann erschöpft und die Ban d drosselte mit dem nächsten Song das Tempo. Jetzt sahst Du nur noch vereinzelte Psychos mit Kettenschlägen operieren. Wir sahen Flattops, hohe Flattops, Undercuts, ausrasierte Nacken, Hörnchen, Misfits-Ponys, Psychobilly Iros, Tollen, Psychobellas - alles, was ging. Es war sehens wert und einzigartig. Wir fuhren glücklich nach Hause.

 

 

 

 

 

 

Sexueller Übergriff in der Disco  Subway

 

( gegen )

 

D

ie Discothekisierung der Bergstraße hatte noch nicht einmal ihren Höhepunkt erreicht, als ich wie gewohnt die vielen Treppenabgänge in die Subway Disco runterstolperte.

Oben an der Subway-Kasse saß !S!P!O!I!L!E!R! mit seinen fetten Kotties, wo er auf seinem Barhocker quakte und hinterherquakte. Die Kas se befand sich auf der Plattform, auf der sich das alte Pfefferminz befand, ebenso die Garderobe.

Ich war jetzt endlich im Subway, trug einen breiten Iro, den $ mir rasiert hatte, dazu eine mehrere Unzen schwere Motorradlederjacke ohne Nieten. Die Jacke hatte hinten eine kleine integrierte Kette für den Klei derhaken, die mir in hitzigen Momenten das Genick kühlte. Ich trug 8-Loch (nur!) schwarze Doc Martens schwarz und eine Hose in einem Blau-Grün-Weiß-Schwarzem Schott*nnenmuster, die $ mir geschneidert und zum Abi ’88 geschenkt hatte. Die f*cking Lederjacke hatte ich wahrscheinlich von Feuerwehrmann Jenner, Ursprung unbekannt. Sie kann aber auch von Heimerich-Holzbein gewesen sein, der Phasen hatte, in denen er Lederjacken kategorisch ablehnte zugunsten der Bomberjack oder einer Jeansjacke.

Das Subway war längst abgesoffen. Kadderina hatte Tresenschicht zu sammen mit Waver Koh. Koh näselte wie gewohnt, hatte an der Nase keine sichtbaren Mehlspuren.

Am Regler stand Lockie Schmidt, der gerade den Song “Where did she come from?“ der Aussi-Band Hard-Ons spielte.

Ich lehnte jetzt am Tresen, neben mir besetzte und unbesetzte Barhocker. Ich stützte mich mit verschränkten Unterarmen auf den Tresen, d er immer noch einen Riss hatte vom Faustschlag des Wavers Armin au s 2300 Kiel-Gaarden. Swantje aus der Annen(privat)kneipe stand hinter mir an der Tanzfläche, klatschte wie gewohnt mit ihrer Sisterhood. Swantje war die Schwester von !S!P!O!I!L!E!R! und glaubte, sich das erlauben zu können, was jetzt folgen sollte. Ich stand weiter wie eine schräge Planke am Tresen, wie ein Storch auf sein linkes Bein gestützt, wäh rend das rechte auf dem linken Fuß fusste, quasi Doc auf Doc. Ich unt erhielt mich störend mit den geballten Tresenkräften, sobald sie vorbeikamen oder eine Schaffenspause einlegten, also rauchte. Auf einmal verspürte ich einen festen Griff an meinem Boppas und wandte mich n ach hinten. Swantje hatte mir in den Fußballera*sch gegriffen und glotzte mich provokativ an. Ich blickte über die Schulter nach hinten, ohn e den Tresenplatz aufzugeben. Das war schon ein Schmerzgriff, fast wie der Griff eines Zuhälters. Die Hose war an diesem Abend tödlich. Da checkte ich erst, dass es sexuelle Übergriffe gegen Männer gibt. Ich beließ es bei ermahnenden Blicken.

Swantje zankte sich immer wieder mit mir, denn sie hielt mir selbst nach Jahren noch vor, ‘83/’84 mit den Konz-Brüdern gesoffen zu haben, mit denen sie doch selbst einst gefröschelt hatte. Obendrein war sie mit Yawara-Fiebrig verheiratet, der sie aus bisher ungeklärten Gründe n nach der Hochzeit verließ. Ich zeigte ihr die coole Schulter und war stolz auf die Schottenmusterhose. Ich hatte sie zu häufig getragen. Kurze Zeit später wurden im Subway die Kuhglocken geläutet und ich ging noch „runter“. Ein paar Monate später rissen die Nähte der Schott*nnenmusterhose aus Verschleiß. Ich hatte sie zu häufig getragen ohne sie rechtzeitig mit Flicken zu verarzten.

 

 

 

 

 

 

Meine Ex fackelt meinen Perso ab

 

(Bukowski-Style)

 

M

eine Ex hatte lange schwarze Haare, war eher Slut als Punk. Sie trug meistens matt-rosa Kleidung, konnte aber auch mal auf Goth gestylt auftauchen.

Die Frau wollte unbedingt einen Zivi als Freund. Und Ellis Entscheid ung sollte auf mich fallen. Einer meiner Zivi-Kumpels machte uns im Error bekannt. Er selbst ging mit ihrer besten Freundin Biggi. Die Biggi behauptete, Elli nutzt ihre Freunde nur aus. Wahrscheinlich wolle s ie nur meinen Zivildienst abchecken, um für sich selbst daraus Vorteile zu ziehen.

Ich fing zu der Zeit an, kleinere Musikfestivals in einem türkischen Café in Kiel-Nord zu organisieren, vor allem mit Bands aus dem Spektrum Punk, Wave und Metal-Crossover. Elli kam aus dem Umfeld einer Band, die sich im Dunstkreis ihrer ehemaligen Schulklasse gebildet hatte.

Wir verließen das Error und gingen in den Park. Auf dem Weg an der Litfaßsäule drehte sie so lange mit dem Schultergelenk, bis der Träger des Tops von der Schulter über den Oberarm rutschte. Das fand ich geil. Später knutschten wir. Doch erst nach dem ersten Telefonat und dem Treffen darauf waren wir zusammen.

Wir trafen uns meistens gegen Abend und trennten uns am späten Vormittag. Manchmal trafen wir uns nach der Spätschicht meines Zivild ienstes. Einmal besuchte sie mich in der Behinderten WG, in der ich d en Zivildienst machte. Ich musste einen der zwei Rollifahrer ermahne n, dass er sie nicht antoucht. Er war leider so veranlagt, doch er hörte auf mich. Meistens.

Bald machte sie ihren Führerschein. Als sie den f*cking Lappen schlu ssendlich hatte, kam sie mit einem kleinen Silber- oder Stahltablett auf mich zu, hatte den Führerschein darauf gelegt und präsentierte ihn mir stolz. Ich gratulierte. Danach f*ckten wir.

Die Beziehung verlief eine ganze Weile sehr spannend und ausgeglichen, auch wenn ich meistens oben lag.

Eines Tages erhielt ich einen Brief von ihr. Der Brief enthielt verkokelte Plastikreste, die unten aufs Briefpapier geklebt waren. Ich wusste da noch gar nicht, dass sie während meiner Abwesenheit meinen Personal ausweis abgefackelt hatte und mir jetzt die angekokelten Reste per Brief zuschickte. Mir war zunächst nicht klar, was das war und was das sollte. Ich bekam rußige Finger, und das teils verkohlte und zerschmolzene Plastik bröckelte an einigen Stellen auseinander. In dem Brief erklärte sie mit kryptischen Worten, dass sie meinen Personalausweis angezünde t und abgefackelt hatte. Ich verstand das nicht auf Anhieb. Die angekokelten Reste, die sie mir jetzt schickte, nannte sie „Perso-Schmelze“. Das checkte ich nicht. Was meinte sie damit? Sie hatte weitere verkokelte Reste der „Perso-Schmelze“ in ihrem Zimmer in einer kleinen Schale für Räucherzeugs. Auch in den folgenden Briefen schickte sie mir geschm olzene und verkohlte Partikeln des Ausweises. Das war natürlich ziemlich anarchistisch und kriminell. Ich hätte dafür büßen können. Als wir u ns das nächste Mal bei ihr trafen, sagte sie

      „Dein Perso ist jetzt in einem anderen Aggregatzustand.“

und sie freute sich fortwährend. Sie lachte richtig krankhaft, wie ein aufziehbares Computerpüppchen mit einlegb arer Mini-Schallplatte. Sie zeigte mir die kleine Räucherschale. Jetzt wurde mir klar, dass das die Überreste meines Personalausweises waren.

Was sie abgefackelt hatte, war die erste Generation an Plastikpersos, die nach den grauen Papierausweisen mit Pappdeckel ausgegeben wurden. Er brannte so gut, weil er aus einer laminierten Papp-Karte bestand. Du konntest in dem Ausweis nicht wie in einem Booklet blättern, wie früher beim grauen Perso, der aussah, wie ein Pseudo-Reisepass. Der „Neue“ war übercodiert, enthielt Prüfzeichen, Datensätze und Termine, ellenlange alphanumerische Codes, die niemand checkte, Schrägstr iche, dein geriffeltes Foto und ein Bundesadlerchen, als hätte ein deuts cher George Orwell ihn designt.

Jetzt war der Perso futsch. Dabei war ich doch als Zivi auf den Ausweis angewiesen, nicht nur wenn ich zu meinem Zivildienstlehrgang nach NRW fahren sollte, und in einer Stadt wie Kiel mit sozialen Brennpunk ten wie Bergstraße oder „Küste“ war es ratsam, ständig einen Ausweis dabei zu tragen, um die Cops bei Checks zu deeskalieren.

Ich musste also schnellstmöglich ins Rathaus zum Einwohnermeldeamt und einen neuen beantragen, dazu eine glaubwürdige Geschichte auftischen, weshalb der alte Ausweis nicht mehr zur Verfügung stand. Ich konnte doch nicht einfach sagen, meine Freundin habe ihn verbrannt. Ergo behauptete ich keck, er sei nach einem Kneipenbesuch verschwunden gewesen.

      „Entweder ist er mir gestohlen worden oder ich habe ihn verloren“.

Das akzeptierte das Einwohnermeldeamt ohne Murren.

Die Ex war ohnehin recht schräg, doch ich fand das geil. Sie war genau mein Typ. Ich hatte schließlich auch einen Schaden. Sie besaß eine Geige, auf der sie mir mal vorspielte, allerdings draußen an der frischen Luft an der Trampstelle der Schnellstraße. Sie schrieb regelmäßig Botschaften mit Lippenstift auf den Spiegel, bevor sie das Haus verließ. Ich brauchte eine Weile, die Nachrichten in Druckbuchstaben auf dem Spiegel zu entziffern. Elli schrieb ihre Messages sowohl auf meinen Pseudo-Alibert-Schrank als auch auf den großen Kommodenspiegel in ihrem Zimmer. Sie muss Unmengen an Lippenstift vergeudet haben.

Elli war bei den Anthros, die viele für eine Sekte hielten. Sie war ent sprechend durchgeknallt und hatte ein paar sehr merkwürdige Alltagsroutinen. Sie besaß einen Nebenjob im OP, sollte nachts Blut auffeudel n und den OP-Saal sterilisieren. Sie brachte mir grüne OP-Kleidung mit und wollte Pseudo-Arztspiele.

Sie nahm zwar die Pille, doch wir nahmen immer ein Gummi-Kondom. Die Pille, die sie nahm, hieß Minulette. Sie hatte kleine Aufkleber vom Pharmaunternehmen, ovalförmig und rosa, auf denen stand “Don’t forget Minulette“. Sie klebte diese Aufkleber sogar in meinem Zimmer an den Schrank.

Temporär arbeitete sie in einer Zeitschriftendruckerei, brachte mir m ehrmals stapelweise Zeitschriften und andere Druckerzeugnisse mit. Sie erstellte gern Collagen aus Zeitschriftenfotos, klebte Fotos von sich d azu und versandte das mit Liebesbriefen. Das war eine Kunst für sich.

Überraschenderweise hatte sie ein paar Punktapes zu Hause, jedoch a lles nur End-70er-Sachen. Ich schaffte es, eins ihrer Tapes zu kopieren – von Tape auf Tape – ohne nennenswerten Qualitätsverlust. Da waren wirklich geniale Songs drauf, von den Saints, Buzzcocks, The Pack, X-Ray Spex, The Boys, Jane Aire & The Belvederes, Painterhead, The Pack, The Dark, Bad Actors, Twisted Nerve, Unwanted, The Squeeze, DMZ und The Depressions. Einiges war aus dem Punk-/ New Wave-Übergangsfeld. Das waren wichtige Songs für mich, denn ich hatte nur wenige Punkplatten aus den End-70ern. Es war nahezu unmöglich, die LPs und die Singles preisgünstig zu bekommen. Wenn Leute Platten aus dem Zeitraum besaßen, waren es zumeist 999, Buzzcocks, The Damned oder Sex Pistols. Aber wohl kaum die Raries, die auf Ellis Tape waren.

Das war’s allerdings schon mit Punk in ihrer Platten- und Tape-Sammlung. Ansonsten hörte sie Angelo Branduardi und Heinz Rudolf Kunze.

Im Gegenzug gab auch ich ihr ein Tape von mir, schenkte ihr dazu m eine Sinead O‘Connor LP ”The Lion and the Cobra”.

Doch ein Bekannter von ihr entdeckte bald auf dem Tape, das ich ihr gab, einen Oi!-Song, den er als f*cking Skinhead-Musik klassifizierte. Das wurde gleich geahndet. Der Song machte sie misstrauisch. Es war ein Stück der englischen Band The Business. Ich weiß nicht, was an der Musik verwerflich sein sollte. Danach ging es mit unserer Beziehung bergab. So war das damals, ein falscher Song auf dem Sampler-Tape und schon war Schluss. F*ck the World!

 

 

 

 

 

 

Der Punk Nille fährt mit dem Rad gegen eine Straßenlaterne

 

Der Punkrocker Nille stürzte an diesem Tag zweimal ab, einmal alkoholbedingt und einmal fahrradtechnisch.

 

D

er Anarcho-Punkocker Nille war von Hassee nach Friedrichsort gezogen. Er war meistens mit seinem Fahrrad Rosinante unterwegs, führ auch im Suff und hatte schon mehrere Fahrradunfälle.

Grundsätzlich sah Nille mit seinem roten Haut Teint und seinen leicht rötlichen Haaren eher aus wie ein Ire, wie ein IRA-Kämpfer oder Sinn Féin Mitglied. Da blieb ihm gar nichts anderes übrig, als sich einen Iro schneiden zu lassen.

An diesem Abend hatte er es wirklich übertrieben. Trotz des hohen A lkoholpegels setzte er sich auf sein Fahrrad und wollte nach Hause. Er eierte und fuhr auf dem Bürgersteig. Auf einmal machte es laut „DONG“. Es war ein dumpfer metallischer Sound. Danach krachte es und Nille lag auf dem Bürgersteig. Nille war gegen eine Straßenlaterne gefahren. Er hatte ein Platzwunde und Schwellungen, war benommen und kam nur schwer vom Bürgersteig hoch. Prinz Nille rieb sich die Beule an der Birne und checkte Rosinante.

Fortan hatte er ein blaues Jochbein, ein Feilchen und eine Platzwunde an der Stirn. Das Fahrrad war weiterhin funktionstüchtig. Jetzt fragte n ihn die anderen Punkrocker*nnen

      „Sag mal Nille, hat Dir jemand was an den Kopf gehauen?“

      „Oh, hat Dir jemand einen Knüppel auf den Kopf gehauen?“

      „Hast Du einen Baseballer abbekommen?“

      „Hast Du eine Hauerei gehabt?“

Da sagte Nille jedes Mal:

      „Nein, ich bin im Suff mit Rosinante gegen eine Straßenlaterne gefahren.“

      „Oh, das sieht aber echt schlimm aus.“

Es sah wirklich bedenklich aus. Jetzt hatte er sein Schlägerimage weg , denn für viele klang der Fahrradunfall unglaubwürdig, wie eine billige Ausrede. Es konnte sich nur um eine Schlägerei gehandelt haben.

Nille hatte eine ganze Weile mit den Schwellungen zu tun. Das Feilchen war dazu kunterbunt. Er war wirklich gezeichnet. Das geschah noch zu einer Zeit, als wirklich niemand einen Fahrradhelm trug. Allerdings gehörte der Nille nicht der Personengruppe an, die einen Fahrradhe lm nutzen würde, nicht zuletzt wegen des breiten Youth Brigade Iros. Für die NDK-Kids war er zu spät geboren, auch wenn er von der Mentalität dazu gehört hätte, zumal er Schallplatten von den Forgotten Rebels , TSOL, MDC, Funeral Oration und L’Attentat besaß

Nilles Kopfverletzung durch die Straßenlaterne sah jedoch so abschreckend aus, dass so einige ihr Suchtverhalten im Straßenverkehr überd achte und ein oder zwei Bier weniger tranken. Da auch ich regelmäßig besoffen mit dem Rad fuhr, war ich gewarnt, als ich die Schwellungen sah, wie sich ein Zusammenprall mit einer Straßenlaterne oder einem Verkehrsschild auswirken könnte. Allerdings fuhr ich nie mit hohem Tempo besoffen. Wenn ich zur Schule oder zum Training musste, fuhr ich mit hohem Tempo bergab. Kam ich jedoch nach dem Training besoffen aus dem Sportheim, fuhr ich immer bergauf die Ottomanenstraße hoch. Ich bekam dort kein hohes Tempo drauf. Allerdings überholten mich dort links Autos mit teils bis zu 50 Stundenkilometern. Wenn ich werktags aus dem Sportheim heim radelte, war es meistens 23 oder 24 Uhr, im äußersten Extremfall 1 Uhr nachts, je nachdem, wie lange der Wirt Achill noch Getränke rausgab.

      Es wurden mehrere krasse Fahrradunfälle bekannt. Im Tal hinter der Gesamtschule hatte ein Radfahrer nüchtern bei full speed eine Oma tot gefahren. Feuerwehrmann und Teamkollege Jenner hatte als Teenager einen seitlichen Auffahrunfall gegen einen unachtsam fahrenden PKW , bei dem Jenner abhob und einmal seitlich über das bremsende Auto flog. Mein Vater hatte durch Zufall den Unfall in Friedrichsort beobacht et, als er Samstagmorgen einkaufen fuhr. Vater sagte, wäre Jenner nicht vom Fußball so durchtrainiert gewesen, hätte er sich wohl alle Knoch en gebrochen. Außerdem erzählte mein Vater, dass mein Großvater väterlicherseits in Oberfranken in den 1950ern sogar bei einem Fahrradu nfall unter Alkoholeinfuss ums Leben gekommen sei. Er war alkoholisiert mit dem Rad auf einer Landstraße nördlich von Fürth unterwegs, als ihn ein Auto erfasste und den sofortigen Tod bescherte.

Sogar einer der Söhne von Gut Knopf, die sich sonst stets vorbildlich verhielten, fuhr im Suff gegen einen Straßenpoller und erlitt einen Schlüsselbeinbruch. Doch das mit Nille ging am stärksten unter die Haut. Er sah aus, als hätte jemand mit einem Baseballschläger voll zugelangt. Später landete Nille mit Kurzhaarfrisur im Gartenbau, spielte in einer American-Folk-Feierabendband – Bluegrass genau genommen – gründete eine Familie und führte ein gesittetes Leben. Dem Alkohol soll er weitestgehend abgeschworen haben.

 

 

 

 

 

 

Nille leiht mir die L’ATTENTAT-LP

 

W

ir waren an der Mole Stickenborn Nachtangeln. Wir trugen unsere Lederjacken und waren mit den Fahrrädern und der spärlichen Angelausrüstung runtergeradelt, zogen die Nacht durch und fingen ein paar Kleinigkeiten. Alkohol wurde nur in Maßen konsumiert.

Wir hatten von unserem Angelplatz am Steg beste Sicht auf das blaue Trockendock der Lindenauwerft, solang es hell war. Auf der Außenw and des Docks befand sich das Stadtwappen der derzeit sowjetischen Stadt Klaipeda. Davor befand sich die Helling, die wie eine Abschussram pe aus dem Wasser ragte, links davor die Kleinwerften Rathje und weit er hinten Gebrüder Friedrich, wo es häufig nach Farbe, Beitzmittel und anderen Chemikalien roch. Auf dieser Seite von Stickenborn ging au ch niemand baden, obwohl von der vermuteten Umweltsituation auf der holtenauer Seite Stickenborn auch so manche Horrorgeschichte kur sierte. Doch das zu behaupten wäre Rufmord an Marine und Werften.

Die Aalquappen warfen wir wie gewohnt gleich wieder ins Wasser, ebenso Seeteufel, die wirkten wie fette Kröten ohne Extremitäten jedoch mit Schwanz. Die meisten Butte, die wir rauszogen, warfen wir wieder rein, da sie zu klein waren. Wir mussten jedoch aufpassen, dass wir die ungenießbaren Fische nicht verletzten, wenn wir den Angelhaken lösten. Ohne Fischblut ging die Sache nicht von Statten. Wir benutzen wieder die einfachen Vorfächer mit 50g-Bleiblock zum Beschweren, hatt en beide halbgroße Teleskopangeln, an die wir oben Angelklingeln bef estigten, damit wir es hörten, wenn Fische angebissen hatten. Wir stellt en einen 10-Liter-Eimer für die gefangenen Fische bereit, der zur Hälf te mit Wasser befüllt war. Waren die Butte groß genug, verpassten wir ihnen auf dem Steg einen Schlag mit einem Knüppel oder Werkzeug, b is sie nicht mehr zuckten. Die Dorsche waren korrekt. Es war doch ganz schön kalt in der Nacht und es blieb auch nicht durchgehend trocken. Im Morgengrauen wurden wir hungrig und malten uns aus, die Butte und Dorsche gleich am Morgen in die Pfanne zu werfen.

Am Ende hatten wir fünf Fische gefangen, drei Butte und zwei Dorsch, die jedoch von der Größe recht grenzwertig waren. Das war ein Beweis, dass in der Förde nur kleine Fische beißen. Wir fuhren mit der Angelausrüstung und dem Fang zu Nille ins Haus seiner Eltern in der der De-Groot-Wohl-Straße. Die Küche befand sich links neben dem Eingang. Wir sehen jetzt um 5 Uhr morgens schon seine Mutter in der Küch e rumwerkeln. Sie begrüßte uns herzlich und war erfreut, als sie die Fis che im Eimer sah, den Nille zuvor am Fahrradlenker hängen hatte.

      „Mama, schau, die haben wir gerade gefangen. Die wollen wir gleich braten.“

      „Oh, da habt ihr aber Erfolg gehabt.“

Sie stellte uns zwei Pfannen raus und stellte Bratfett bereit. Zunächst wuschen wir die Fische, schrubbten auf einem Holzbrett die Schuppen mit einem Messer ab, wuschen die Fische erneut und legten sie in die brutzelnde Pfanne. Währenddessen führwerkte Nilles Mutter weiter in d er Küche. Sie sächselte angenehm, nicht so dezidiert-formalistisch wie die Polit-Typen, die manchmal im Fernsehen gezeigt wurden.

Plötzlich bekam sie wieder ihren Rappel. Nille hatte mich davor gew arnt. Sie hatte als 13-jähriges Mädchen die Bombenanschläge auf Dresden in Luftschutzkellern überlebt und war nach 45 Jahren immer noc h schwer traumatisiert. Das kam regelmäßig in flashbackähnlichen Momenten hoch.

      „Und als wir zusammengekauert im Keller saßen, hörten wir das Donnern der Bomben immer näher kommen. Es wurde immer lauter und irgendwann hatte es nur noch gedonnert. Wir saßen im Keller und haben gewimmert.“

      „Oh, das ist aber schrecklich.“

      „Und dann dachten wir, es sei vorbei, da hörten wir wieder das Brum men der Motoren in der Luft. Wir wollten gerade den Luftschutzkeller verlassen, wo wir schon seit Stunden saßen. Und dann fing es wieder an zu donnern, diesmal noch schlimmer als zuvor.“

Nille sagte noch

      „Das hat meine Mutter fast täglich.“

Sie war jetzt in der Küche schon wieder in Panik und den Tränen nah. Nille ging kurz raus. Als sie sich anscheinend wieder gefasst hatte, w ar es einen Augenblick still in der Küche und nur das Bruzzeln der Pfannen zu hören. Danach fing sie wieder an.

      „Und dann kamen wieder Bomber und haben noch mehr Bomben abgeworfen. Wir hatten schon mit dem Leben abgeschlossen, und es be bte und donnerte immer weiter. Wir beteten und wimmerten, dass wir noch einmal lebend aus dem Keller rauskommen.“

Ich war wirklich erschüttert von diesen Schilderungen.

Jetzt kam Nille wieder in die Küche. Wir wendeten die Fische noch ei nmal und erkannten, dass der Fisch servierfertig war. Als wir aßen, war die gute Frau wieder still und ließ uns schlemmen. Wir schnackten über die unterschiedlichen Fischesstechniken, besonders beim Butt.

Zu der Zeit hatte sich Nille die L’Attentat LP gekauft. Es war die einzige Aufnahme einer DDR-Band, die wir zur Verfügung hatten. Es war zw ar immer wieder die Rede davon, dass Vinyl Boogie DDR Punk am Start hatte, Sachen wie „DDR von unten“ mit einer Seite Punk, doch viele wollten DDR-Punk nicht hören, da die Angst bestand, es könnte Depris triggern oder zu sehr mit der Unterdrückung im Osten konfrontieren. Da waren wir Lascheks. Vinyl plante sogar, in Ostberlin, in Marzahn, eine Zweigstelle zu eröffnen, um Platten anzubiet en und meldete in einer der Listen Mitte der 80er Vollzug. Doch so ganz konnten wir das nicht glauben, denn es klang einfach zu phantastisch.

Wir, die von MDC ordentlich einen mitbekommen hatten, hörten jetzt L’Attentat. Wir verstanden Worte und Phrasen, die eine westdeutsch e Punkband wohl kaum so formuliert hatte. Wir hörten gefasst und mit Vorsicht. L’Attentat aus Leipzig zogen wir uns rein aus purer Neugier de. Die LP Made in GDR entstand bereits in der Endphase der DDR, a ls noch niemand mit dem Kollaps des Systems rechnete. Es hieß, dass die Aufnahmen auf Tape aus der DDR in den Westen geschmuggelt wurden. In Westdeutschland wurden sie schließlich auf Vinyl gepresst und vertrieben. Ich zog mir die L’Attentat auf Tape und studierte Cove r und Innencover.

Das Thema Punk in der DDR interessierte sogar Nilles Mutter, die als gebürtige Dresdnerin erfreut war, dass da mal etwas aus dem Osten k am, auch wenn sie für Punk zu alt war. Sie tolerierte Punk, nicht zuletz t, weil sie bei DDR Punk einen Zusammenhang mit der Kirche sah.

Um es kurz zu machen, die L’Attentat LP war bei uns kein Dauerbrenn er. Dafür entsprach sie zu wenig unseren Punk-Standards der hochproduzierten Exploited und Discharge-Highttech-LP-Studioproduktionen.

Stattdessen war die LP ein anregender Einblick in die DDR-Szene und ein politischer Denkzettel. Jeder Songtitel bekam deshalb eine beso ndere Bedeutung, weil du wusstest, dass er in der DDR entstanden wa r und im Westen allenfalls studiotechnisch nachgebessert wurde. Trotzdem alle Achtung für den Mut, die Leistung und das Punkrockdokument für die Nachwelt.

Ich hatte die LP ein paar Wochen bei mir liegen, hörte sie, tapte sie , studierte Cover, Innencover und die Textbelage. Ich war da immer noch an der gymnasialen Oberstufe der Gesamtschule. Es war eher eine Punkplatte, über die du sprichst, die lobend erwähnt wird, anstatt sie regelmäßig zu hören.

 

 

 

 

 

 

Das JUDGE DREAD Konzert in der Aten TU Mensa

 

I

ch wohnte gerade ein paar Wochen in Berlin, als 1991 das Judge Dread Konzi in der Alten TU Mensa stattfinden sollte. Ich entdeckte auf dem Uni Campus ein Plakat, auf dem der schottische Sex’n’Oi!‘Reggae Star Judge Dread angekündigt wurde. Da lechzte ich vor Freude und b ehielt den Termin im Auge. Ich kannte Judge Dread seit dem 4. Oi-Sampler “Oi! That’s yer Lot“, auf dem er mit dem Stück “The Belle Of S nodland Town“ vertreten war. Judge Dread war einer der sexistischste n Musiker der Rockgeschichte. Allerdings verpackte er seinen Sexismu s mit viel Humor und feiner Ironie, sodass es benevolenter Sexismus war und keineswegs der schädliche, hostile Sexismus. Judge Dread ließ sich gut mit dem norddeutschen Witzeerzähler Fips Assmussen vergleichen, dessen schlüpfrige Witze zwar schockieren konnten („Ich war mal Nutte in Venedig“), jedoch immer noch als Sexualaufklärung verstan den werden konnten.

Auf dem Konzert war Frauenüberschuss, zumeist junge Studentinnen, Anfang 20, lange offene Haare, Jeans, jedoch wider Erwarten keine Szenefrauen oder Rude Girls. Hier waren weder die Skinhead-Szene, noch SKA-Leute und auch nicht überhaupt irgendein Punk. Als war das Konzert wirklich exklusiv für Studierende oder Erstsemester. Deshalb vermittelte das Konzert in der Alten TU Mensa eher die Atmosphäre ei ne Schulfestes.

Ich sah auf dem Konzert echt normal aus, halblange Haare, Docs, Jea ns und T-Shirt. Krass war der Refrain "It's six o'clock, up with the cock" , bei dem er ein Gummi-Hähnchen wie Peter von Peter & The Test Tube Babies zeigte. Bei diesem und anderen Liedern kicherten viele Frauen, da sie die Doppeldeutigkeit in den Songtexten verstanden. Die zwei Lesarten waren den meisten klar. Auf dem Konzert eskalierte nichts. Alle standen herum, glotzten und wippten ein wenig mit.

Ich kannte Judge Dread vor allem von Feldmann und dem Acer. Auf dem Ansgar Spielplatz hatten wir häufig über Judge Dread diskutiert und Refrains und Textzeilen zitiert. Besonders der langsame, sanfte, erz ählende Sprechgesang abwechselnd mit einprägsamen Hintergrundges ängen und prägnanten Melodien machten den Hitcharakter des Musik ers aus. Doch der Mann war wirklich versaut, sexistisch und alkoholve rherrlichend. Dennoch besaß er Kultstatus, obwohl oder vielleicht soga r weil Judge Dread der Musiker war, der für seine Songs vom BBC und anderen Sendern weltweit die meisten Sendeverbote ausgesprochenen bekam und deshalb im Guinness Buch der Rekorde stand.

 

 

 

 

 

 

Blutspritzer an der Gitarre

 

Wenn er nicht gestorben ist, spielt er sich die Finger immer noch blutig.

 

A

n Tøles Gitarre waren ständig Blutspritzer zu sehen. Wenn er Songs wie „Deutsche Fette Kuh“ von Jürgen Zeltinger auf seiner Klampfe spielte, schlug er die Gitarrenseiten ohne Plektron mit den Fingern derm aßen hart an, dass er sich die Haut neben den Fingernägeln einriss un d früher oder später anfing zu bluten. Das störte ihn nicht. Er spielte e infach weiter und ließ sich nichts anmerken, hielt trotz starker Schmer zen sogar den Tonus der Stimme aufrecht. Wenn Leute mit ihm im Zimmer saßen, auf einem Punk-Sit-in oder einer Party, so war es ihm egal, wenn das Blut spritzte, und er spielte in gewohnt aggressiver Weise, bis die Finger und die Gitarre wirklich blutig aussahen. Irgendwann wurde er darauf hingewiesen:

      „Ey, deine Gitarre ist blutig!“

Tøle antwortete nicht darauf, denn beim Gitarrespielen war er wie e in Autist. Das Blut wurde schließlich zur Kruste, die Blutspritzer vergil bten, wurden braun und pissgelb.

Seine Bloody Gitarre war nicht besonders wertvoll. Er hatte ja früher in der Teenagerzeit von mir bei einem Tauschgeschäft eine E-Gitarre bekommen. Ich weiß nicht, was aus dieser E-Gitarre geworden ist.

Tøle kreierte durch sein Geschrammel einen eigenen Stil. Andere m achten es ihm nach, bis es als positives Zeichen galt, wenn beim Gitar respielen Blut floss, auch wenn nur in Maßen. Auch meine hellbraune Akustikgitarre, die ich von meinen Eltern zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte, zeigte bald die ersten Blutflecken, die jedoch mit der Zeit ebenfalls an Intensität verloren und auf dem Holz irgendwann ockergelb wirkten.

Die Finger konnten sogar bluten, wenn ein Plektron benutzt wurde, wenn es falsch oder umständlich gehalten wurde. Egal ob an den Saiten einer E-Gitarre, einer Western- oder sogar Nylongitarre, du konntest dir überall die Haut aufratschen und längst verheilte Wunden wieder auf reißen. Die Gewalt war entscheidend.

Doch bei Tøle war es wirklich krass. Er ließ sich nichts anmerken, wenn das erste Blut austrat, spielte einfach immer weiter und verzog kein e Miene. Als die ersten Hinweise kamen wie

      „Du blutest“

oder
      „Da ist Blut an der Gitarre!“

schien er innerlich zu lächeln und spielte trotzdem weiter, ohne die Miene zu verziehen.

Er ließ nur ungern Gäste an seine blutige Gitarre. Nüchtern ekelten sich ohnehin die meisten, die sonst jede Klampfe sofort in die Hand ge nommen hätten.

Bald zog Tøle von der Wik nach Gaarden in die Kirkestraße. Er wohnte hier fortan in einer Zweier-WG mit einem ehemaligen Schilkseer. Ich besuchte die WG ein paar Mal, nutzte die Gelegenheit, um mit dem Fahrrad von Friedrichsort nach Gaarden zu fahren.

Ich wunderte mich immer wieder über Tøles Musikgeschmack und fragte mich, wo er seine Platten herzauberte. Dazu gehö rten Bands w ie Marginal Man, Attak, F.U.’s, The Easter, Dag Nasty, Uniform Choice und Mega City Four. Auch Tøle verkaufte seine Punk-Perlen, als er in Geldnot war. Das ü bliche Syndrom, das fast jeder Punk mal durchlebte. Geldnot war dafür verantwortlich. Jetzt waren seine Punk-Platten weg, obwohl er bisher nichts anderes als Punk hörte. Tøle hörte auch nac h wie vor Punk, denn er hatte noch Punk-Tapes liegen. Nachdem er so gar die Landspeed Records von Hüsker Dü veräußert hatte, besorgte er sich die Scheibe später erneut.

Das Arbeitsamt steckte mich eines Tages in eine Arbeitsbeschaffungs maßnahme. Das war in veralteten Büroräumen in der Nähe der Spitze der Kieler Förde auf dem Ostufer. Da traf ich plötzlich Tøle wieder. Wir saßen zusammen mit rund 30 arbeitslosen Kielern in den Büros und h atten nicht den Eindruck, dass irgendwer uns beruflich weiterhelfen w ollte. Ganz im Gegenteil. Als Tøle schließlich eine große Fliege an der Decke sitzen sah, behauptete er felsenfest, das sei eine Kamera, mit der w ir ausspioniert werden sollten. Dermaßen groß war das Misstrauen.

Manchmal erweckte er den Eindruck, er sei eine Art Minus-Punk. D och dafür war er insgesamt zu gutmütig. Was Tøle auf seiner Gitarre s o spielte war im Prinzip der pure Terror, und es gefiel nur seinesgleichen. Wir hatten Angst, dass er sich eine Blutvergiftung zuziehen könnt e. Sogar das Thema Aids kam auf, wenn die blutverschmierte Gitarre am späten Abend auf einer fortgeschrittenen Party doch noch die Rund e machte. Denn im Suff wollten die anderen Punks und Pseudos mal d ie Klampfe in die Hand nehmen, um zu zeigen, was sie drauf hatten. Trotzdem konnte niemand so konsequent singen wie Tøle. Er wirkte wi e ein versteinerter Protestsänger.

Da Tøles Gitarrespiel ohne Plektron Schule machte, und alle ohnehin schnellen Punk und Hardcore bevorzugten – selbst mit der Akustikgitarre – ob nun Westerngitarre mit ausschließlich Stahlsaiten oder Aku stik mit drei Nylonsaiten. So konnte es passieren, dass andere, Tøles Stil imitierend, auf der Gitarre herumhackten, mit Fingern, Fingernägeln , Fingerkuppen, Handballen, Faust und Mittelhandknochen oder sogar ergänzend mit Pfennigstücken als Plektron. Jetzt konnten auch bei den anderen Gästen die Finger anfangen zu bluten, bis die Gitarre das Blut mehrerer Punks auf dem Korpus trug, auf dem Gitarrenhals und auf d en Saiten. Im Extremfall wurde die Gitarrensession zum Blutbad, erzeugt von blutigen Fingern und einer überharten und unreflektierten Spielweise und Anschlagtechnik. Von Fingerpicking war da keine Spur, was jeder anständige Gitarrenlehrer gefordert hätte. Der hätte wohlmöglich durch Wegnahme der Gitarre das Inferno unterbrochen oder laut „ Halt!“ oder „Stop!“ gerufen, denn all das hatte ohnehin nichts mit woh lklingender Gitarrenmusik zu tun im Sinne des Rechtschaffenden Gita rrenlehrers. Es war Punkrock pur auf der Akustikgitarre, auch wenn im Hintergrund schon wieder Hüsker Dü lief.

 

 

 

 

 

 

Brief an einen toten PUNK

 

Du warst der beliebteste Punk der Stadt, allerdings auch einer der kaputtesten. Du hattest schwarzen und entlarvenden Humor und deshalb szeneübergreifend viele Freunde. Du hattest eine super Plattensammlung. Deine Devise war “Live fast, die young“. Dementsprechend warst Du schon mit 24 tot. Der Stapel an Punk-Singles in deinem Zimmer war wirklich das beste an Punk, was international auf dem Markt erhältlich war. Deine Lieblingsband hieß war Mayhem, und Du hattest Dir den Bandnamen auch auf den Rücken der Lederjacke geschrieben.

Selbst ein Punk wie Du wollte nicht frühzeitig sterben. Dafür liebtest Du Punk, das Leben und den Spaß zu sehr. Du liebtest aber genauso die Selbstzerstörung, und darin bestand der Widerspruch und die Gefahr. Dein Hass auf Rocker und Motorradfahrer war, fast ebenso groß wie Dein Hass auf die Polizei. Deshalb hattest Du nicht nur Freunde, sondern auch Feinde. Ebenso war Deine Abneigung gegenüber allen Uniformträgern sehr groß. Du warst sehr tolerant. Sogar, als ich Skinhead war , unterhieltest Du Dich noch mit mir und gabst mir sogar Plattentipps.

– R.I.P. –

 

 

 

 

 

 

Die SICHERHEITSNADEL

 

I

ch nahm die Sicherheitsnadel aus der kleinen Schatulle, hielt sie fast auf Augenhöhe und überlegte, ob ich mir das wirklich antun sollte. Ich stellte die Schatulle zurück, ging zum Spiegel, wo ich die mittelgroße Sicherheitsnadel öffnete. Ich suchte mir eine Stelle an meinem linken Ohrläppchen, die noch frei war und setzte dort die nadelförmige Spitze an. Das Ohrläppchen zog ich weit nach vorne, hielt es mit Zeigefinger und Daumen fest und stach mit der Sicherheitsnadel zu. Ein Schmerz d urchfuhr mich. Ich drückte weiter, bis das Ende der Nadel allmählich auf der Rückseite des Ohrläppchens hervorkam. Ich musste mich etwas sammeln, da es diesmal sehr schmerzhaft war, und drückte die Nadel jetzt noch so weit in das Ohrläppchen, bis die Hälfte der Nadel durch war. Das musste reichen. Ich klappte die Sicherheitsnadel zusammen, so dass sie am Verschluss einhakte. Es war absehbar, dass sich mein neuer Ohrschmuck früher oder später entzünden würde. So what!

 

 

 

 

 

 

Brief an einen Neo-Nazi

 

W

ie ich erfahren habe, lebst Du jetzt in Dresden und hast eine eigene Security-Firma aufgebaut. Das stört mich ein wenig, da Du bereits in d er Schule rechtsextrem warst und andere zu indoktrinieren versucht hast. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Du Dich von Deinen rechtsradikalen Überzeugungen abgewendet hast, zumal ich nichts Anderslauten des gehört habe. Ich bin mir sicher, dass Deine Security-Firma nur Mittel zum Zweck ist, um Deinen rechtsradikalen Schaden weiter auszuleben, neue Kontakte zu knüpfen und andere systematisch zu indoktrinieren. Ich kann Dich nur warnen, Deine Nazi-Spielchen weiterzuspielen und Menschen für die rechte Szene zu rekrutieren. Du warst zu Schulzeiten schon Mitglied der Wiking-Jugend und Schriftführer im Bund Heimattreuer Jugend. Du hast damals schon versucht, mehrere Deiner Mitschüler zu Nazi-Veranstaltungen mitzuschnacken, und es ist Dir in einigen Fällen gelungen, wie sich immer klarer herausstellt. Auch mich hast Du damals gepiesackt. Ich bin standhaft geblieben. Doch das ging auf Kosten meiner schulischen Leistungen. Ich kann Dir nur sagen, hör a uf mit Deinen rechtsradikalen Marotten, sonst musst Du die Konsequenzen tragen. Entweder wird die Polizei Dich entlarven, oder die Antifa wird nachhelfen müssen. Die Antifa hat Dich ohnehin längst auf dem Kieker, denn sie haben Dich in einem öffentlich zugänglichen Bericht er wähnt, der die Strukturen der inzwischen verbotenen Wikingjugend und BHJ analysiert. Ich hatte zudem im Netz ein Interview in einer renomierten ostdeutschen Regionalzeitung gelesen, das ein Journalist mit Dir geführt hat. Da schrillten bei mir alle Alarmglocken. In dem Interview spielst Du Dich auf wie ein Sicherheitsberater und Großunternehmer der Branche, was Du wahrscheinlich sogar bist. Der Text wirft mehr Fragen auf, als er beantwortet, und es bleibt unklar, wie groß und einflussreich Dein Sicherheitsunternehmen mittlerweile ist und welche Dimension Dein Agieren inzwischen erreicht hat. Als ich gelesen habe, dass Deine Sicherheitsfirma Bundeswehrliegenschaften bewacht und als Privatfirma scharfe Waffen tragen und einsetzen darf, bin ich fast aus den Wolken gefallen. Seitdem besteht der Verdacht, dass Du versuchst einen neuen Nazi-Sicherheitsapparat aufzubauen. Inzwischen ist das Interview aus dem Netz verschwunden, was ebenfalls Fragen aufwirft. Ich kann Dich deshalb nur noch einmal zur Mäßigung aufrufen. Am liebsten wäre es mir, wenn Du ganz aus diesem Business verschwinden würdest . Also, hör auf mit dem Dreck, sonst knallt es. Wenn Du Dich jedoch aus den Nazi-Kreisen herausgelöst hast, so ist das zu begrüßen, auch wenn ich mir das nicht so ganz vorstellen kann. Nazis raus!

 

 

 

 

 

 

ИМПУЛС БЕЙСБОЛ

 

U.K. Subs in der Traumfabrik

 

U.

K. Subs sollten in der Trauma spielen. Ich hatte die U.K. Subs noch nie live gesehen, und mir war klar, dass ich zu dem Konzert gehen wer de. Sie sollten in der kleinen Halle der Traumfabrik auftreten, wo sonst meist Disco-Events stattfanden. Ich zog meine schwarze Baseballjacke an mit einer russischen Aufschrift auf dem Rücken: ИМПУЛС БЕЙСБОЛ, was auf Englisch so viel heißt wie IMPULSE BASEBALL. Die Jacke hat te mir während meines Studiums eine Grufti-Frau, Tina aus Baden-W ürtemberg, geschenkt, deren Eltern in der Nachbarschaft von Jürgen Klinsmann wohnten. Sie war schwer depressiv, da sie ihren Cousin beim Terroranschlag von Lockerby verloren hatte. Und ich war mir zunächst nicht sicher, ob ich die Jacke als Geschenk annehmen sollte. Doch die Aufschrift in kyrillischen Lettern machte die Jacke zu einem unwiders tehlichem Objekt der Begierde. Inzwischen vermute ich, dass die Jacke sogar Tinas toten Cousin gehört haben könnte.

Ich zog die Jacke nur selten an, da die Knöpfe oben am Kragen recht locker saßen, nicht weil sie nicht festgenäht waren, sondern, weil die Knopflöcher zu breit waren.

Als ich die Konzerthalle betrat, war enttäuschend wenig los. Das hatten die UK Subs nun wirklich nicht verdient, denn sie waren eine der groß en Punk-Kult-Bands Ende der 70er und Anfang der 80er und sind es heute immer noch. Ich hatte alle ihre ersten Platten, entweder auf Tape, auf LP oder auf CD. Als Vorband sollte eine Kieler Punkband namens V-Punk spielen, die gerade ihr erstes Album veröffentlicht hatten un d in Kiel sehr umstritten waren. Ihnen wurden Kontakte zur Rocker- und Rotlichtszene nachgesagt, speziell zu den Hells Angels, jedoch kein e Kontakte zur Punkszene. Weitere Hintergründe kannte ich zu dem Zeitpunkt noch nicht. Als ich die Halle betrat, blieb ich links kurz vor der Tanzfläche stehen. Hinter mir, wo heute das Raucherseparee steht, hatten die U.K. Subs einen Merchstand stehen, vor allem mit T-Shirts, au ch mit einem Camouflagen-T-Shirt mit dem gut sichtbaren Bandnamen U.K. Subs, wie gewohnt im Military Stencil Style. Ich platzierte mich so, dass der Mann am Merchstand die Aufschrift ИМПУЛС БЕЙСБОЛ auf meiner Baseballjacke genau vor Augen hatte und war ganz stolz wege n der Jacke. Jetzt erkannte ich rechts von mir auf einem kleinen Podest vor dem Tresen den Boss des Rockerclubs, der in der Rotlichtszene dominierte. Ich bekam einen Schreck, als ich den Hünen mit seinen lan gen blonden Haaren und ganz in Leder dort erkannte, der dastand, wie eine Anti-Freiheitsstatue und mich keines Blickes würdigte. Neben ih m standen ein oder zwei seiner Speichellecker. Trotzdem konnte ich m ich mit dem Gedanken arrangieren, dass er extra hergekommen war, um die UK Subs zu sehen. Weit gefehlt. Er sollte direkt nach der Vorba nd radikal den Saal verlassen.

Ich drehte mich zum Merchstand und bekam einen Riesenschreck. Erst jetzt erkannte ich, dass der Verkäufer hinter dem Tisch Charly Harper war, der Sänger der U.K. Subs. Ich zuckte zusammen und war ganz klein mit Hut. Wenig später begann die Vorband V-Punk. Sie spielten eine n harten uninteressanten Punk, der auch als Heavy Metal hätte durchg ehen können, wenn er entsprechende Metal-Soli enthalten hätte. Ich sc haute mehrmals zum Rockerpräsi, der wirklich während des ganzen K onzertes mit dem rechten Knie rhythmisch vor und und zurück wippte , als würde er die Rissfestigkeit der Patella testen. Er schien sich zu freuen und kaute währenddessen pausenlos Kaugummi. Während V-Punk i hr Set runterratterten, ohne Ansagen, ohne Stil, ohne Zwischenrufe aus dem Publikum, traute ich mich kurz zum Merch-Stand der U.K. Subs, hinter dem immer noch Charly Harper stand. Ich schaute mir die Angebote an, traute mich jedoch nicht, den U.K. Subs Sänger zu grüßen oder anzusprechen. Dafür war der Standesunterschied doch zu groß. Währ end der Vorband betrug die Anzahl der Besucher in der kleinen Halle g erade mal 20, Tendenz geringfügig steigend. Nachdem V-Punk ihren letzten Song gespielt hatten und direkt danach die Gitarrenkabel abstöp selten, verließ der Rockerboss ohne zu zögern den Ort des Geschehens wie ein Geschäftsmann, der von einem Termin zum nächsten hetzte. Zur Überbrückung wurde langsam Punk aus der Konserve hochgefahr en. Eine knappe halbe Stunde später betraten die U.K. Subs die Bühne. I nzwischen hatte sich eine neue Person hinter dem Merch-Stand einge funden, wahrscheinlich jemand aus dem V-Punk-Spektrum, während i n der Halle inzwischen fast 50 Personen eingetrudelt waren. Alle „richt igen“ Punks standen vor der Bühne auf und an der Tanzfläche. Weiter hinten am Tresen standen die Musikfans, die Pseudos, die zwar Punk h örten, sich jedoch nicht auf Punk stylten. Und schon begann das Konzert mit vertrauten Songs aus der Anfangsphase des Punk. Ich hörte alle Smash Hits der Frühphase, von Stranglehold bis C.I.D, stand noch einen Moment beklemmt da wegen des Rockerspektakels zuvor. Irgendwann ging auch ich auf die Tanzfläche und tanzte Disco-Pogo. Das Konzert w ar geil, die Band poste und hätte ein Zehnfaches an Besuchern verdient gehabt. Die Metallstreben an den Seiten der Tanzfläche nervten, als sollten sie Knochenbrüche verursachen. Dennoch war ich befriedigt, als ich nach dem Ende die kleine Konzerthalle verließ, zum ersten Mal die U.K. Subs live gesehen zu haben. Doch in den folgenden Wochen und Mo naten wurde es krass. Langsam machte das Gerücht die Runde, dass die kieler Band V-Punk rechtsradikal sei und deshalb gemieden werden s ollte. Mir ist auch nicht bekannt, dass sie danach noch einmal einen Auftritt hatten, aber ich wohnte zu der Zeit auch nicht in Kiel. Bald wurde die Band offen als Nazi-Band bezeichnet, die sich ausschließlich in Rocker- und Rotlichtkreisen aufhielt, jedoch mit Nazi-Skinheadbands auft rat. Ich unterhielt mich noch mit mehreren Szenekundigen, die den lä dierten Ruf von V-Punk bestätigten. Allerdings waren bei deren CD keine Texte dabei, und in den Diskussionen wurden nie Zitate aus den Texten gebracht, die das belegten, zumal der Gesang unartikuliert und deshalb sehr schlecht zu verstehen war. Jedoch war die Empörung über die Band dermaßen groß, dass an den Behauptungen keine Zweifel blieb en. Bestätigt wurde deren Ruf Faschos zu sein, als sich herausstellte, dass die Band in Nazi-Clubs auftrat und mit einschlägigen Nazi-Bands ko operierte. Darüber hinaus wurden Nazi-Devotionalien auf Konzerten auf der Bühne getragen. Da tat es mir besonders für die U.K. Subs leid, denn die Konzertveranstalter hatte sie mit einer Nazi-Band auf die Bühne der Traumfabrik gestellt. Kaputte Welt - was soll das?

 

 

 

 

 

 

Dauergast MEIEREI

 

Schicksal eines Schülers

 

A

ls Bands wie MDC, Culture Shock, Spermbirds, Youth of Today und Lethal Aggression in der Alten Meierei spielten, war ich noch Schüler. Das einzige, was ich in dem Alter konnte, war saufen, randalieren und k ontra geben. Während meines Zivildienstes habe ich wohl kein Konzert in der Alten Meierei verpasst. Über die Jahre zog ich mir alles an Konze rten rein, was ging, Youth of Today, Sick of It All, Lethal Aggression, Ve rbal Assault, 2Bad, Leatherface, MDC, Culture Shock, So Much Hate, Sh anghai‘d Guts, Exploited, Noise Annoys, Ruff Ruff and Ready, False Pro phets, No For an Answer, Spermbirds, Funeral Oration, Attila the Stock broker, um nur einige zu nennen. Langsam schaltete sich der Kopf ein.

Es war für mich immer sehr schwierig, in der Meierei neue Leute ke nnenzulernen. Selbst bei den meisten Leuten, die ich aus dem Subway kannte, blieb es zumeist bei einem kurzen Zunicken. Die meisten verhielten sich in der Meierei anders als auf der Straße oder wo auch immer du sie trafst. Hier kamen die privaten Hackordnungen der Alphatiere u nd Szenegänger*nnen noch stärker zum Tragen als in Kneipen oder be im Kneipenfußball. In der Meierei war jeder transparent. Am nächsten standen mir die Leute, die ich von Schule, Zivildienst, Punk & Skinheadszene kannte. Dazu kamen flüchtige Discobekanntschaften, Fußballer und Leute aus meinem Stadtteil. Doch es war viel Hass im Spiel, Rufmord, Tratsch, Rumgeassel, Expertentum und Arroganz. Von Drogen bekamen wir nichts mit. Doch die Gerüchteküche brodelte.

Selbst als ich bereits in B. wohnte, nutzte ich fast jede Chance, in der Meierei Konzerte zu besuchen, wenn ich für ein paar Tage in Kiel war. Seit ‘94 war ich sogar in Friedrichshain polizeilich gemeldet. Ab dem Zeitpunkt wurde es weniger mit den Meiereibesuchen. Doch das wurde immer seltener, da der Moloch B., wenn Du eingelebt warst, einfach me hr zu bieten hatte und dich irgendwann verschluckte. Das gewohnte Meierei-Feeling, Subkultur, Milieu, Schnack, Umgangston und der non-p rofit Service kamen zumeist in besetzten Häusern mit Veranstaltungss älen auf, das heißt günstiges Bier, Fußpilz auf den Toiletten, Schrottteil ein den Gängen, halbzerfetzte Poster, Siff, Sticker, Graffitis und Demo -Banner. Dazu gehörten Tacheles, Köpi und Supamolly.

 

 

 

 

 

 

Die Akte Conner

 

Kein Politikum

 

W

ir sahen Gonnrad nie Kotzen. Trotzdem war er ziemlich kaputt, hatte aber eine Vision. Gonnrad brachte uns immer wieder zum Staunen, zum Schweigen und zum Verzweifeln. Er war Kieler Punk der ersten Stunde und Macher des Fanzines Sinnvoll. Doch ‘83 wurde er Skinhead und driftete verbal nach rechts ab, näherte sich aber keiner rechten Partei oder Organisation. Als die Kieler Skinheadszene nach den Skinhead- Chaostagen 1984 zerschlagen wurde, landete Gonnrad plötzlich beim Kieler Straßenclub „Mad Boys“. Das wurde erst so richtig klar, als der ehemalige Präsi der Mad Boys sein Fotoarchiv öffnete und einer breiten Masse zugänglich machte. Anhand der Fotos wurde klar, dass Gonnrad d en Badge der Mad Boys auf seiner Bomberjacke trug und auf mehreren Gruppenfotos des Straßenclubs zugegen war. Gonnrad, den alle für eine gefürchteten Nazi-Skinhead hielten, war jetzt bei den Mad Boys, die auf Faschos Jagd machten. Während der Endphase der Skinhead-Me etings müssen die Mad Boys bereits Verhandlungen zu Gonnrad aufge nommen haben, dass er zu den Mad Boys kommt. Als später die Living Deads gegründet wurde, wurde eine ehemaliges Mitglied der Mad Boys der Präsi, der auch Interviews für verschiedene Medien gab, auch für die Taz und die kieler Uni-Zeitung Kassandra. Doch Gonnrad ging nahtlos von den Mad Boys zu den Living Deads über, die immer mächt iger wurden. Da die Living Deads spätestens nach dem Interview mit d er Kassandra-Student*nnen-Zeitung als rechtsradikal galten, passte es sogar nicht zu sammen, dass Gonnrad von den Mad Boys zu den Living Deads ging. Gonnrad boxte eine Zeit im Verein und war körperlich top fit. Die Living Deads währten ebenso nicht lange, sie lösten sich nach d rei Jahren wieder auf. Gonnrad wurde jetzt wieder Punk mit Danzig T- Shirt und legte sogar als Dark-Wave- und Punk-DJ auf in Lokalitäten w ie dem Böll und der Tanzdiele. Doch der Alkohol machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Er hatte sogar das Angebot erhalten, im Doc ks an der Hamburger Reeperbahn aufzulegen. Doch er ließ den Termin sausen. Wahrscheinlich war das zu der Zeit, als Gonnrad bei einer Schlägerei im Lammers oder Lammerrs Eck rückwärts durch die Fenster scheibe flog, bis er auf dem Bürgersteig in den Glascherben lag. Mit Gonnrad konntest du immer über die neuesten Trends und Errungenscha ften der Punk- und Skinhead-Szene sprechen. Von ihm hörte ich auch zum ersten Mal Begriffe wie Boneheads oder Crossover. Die letzte Plat te, die Gonnrad mir vor seinem Tod empfahl, war die „Run for your Life“ der kanadischen Band The Creepshow.

Gonnrad sagte: „Creepshow, Psychobilly!“

- R.I.P. –

 

 

 

 

 

 

Der SCHIEFE TURM VON PIZZA

 

Nachdem mein Cousin 1993 im Fördehotel an der Überdosis Ejtsch gestorben war, fuhren meine Eltern mit mir sofort in den Urlaub nach Italien, um Abstand zu gewinnen. Sie wollten, dass ich wieder Hoffnung schöpfe und etwas anderes sehe als den Alltagstrott an der Drogenfront hierzulande. Ein Herointoter oder eine Herointote in der Familie ist sc hon ein krasser Einschnitt, der alles verändert. Du kannst froh sein, we nn es danach überhaupt irgendwie weitergeht, ohne dass noch mehr k aputt geht. Die Sache ging wirklich unter die Haut: Mein Cousin war d er erste und wohl auch hoffentlich letzte Ligaspieler unseres Fußballve reins, der an einer Überdosis Heroin starb.

Mit dem Auto ging es über die Alpen und nach Rimini, wo wir die m eiste Zeit verbrachten. Wir waren gewarnt vor der Drogenszene und d em Straßenstrich an der Strandpromenade.

Als wir in Rimini durch die Fußgängerzone gingen, hatte meine Mutt er sich etwas abgesetzt und ging rund 15 Meter vor uns. Sie schlenderte mit ihrer Handtasche über die Schulter gehängt in der Mitte der breite n Einkaufsstraße. Von hinten näherte sich ein kleines Moped, auf dem hinten ein Sozius saß. Es waren zwei junge Männer, sommerlich geklei det, die zunächst mich und meinen Vater im doppelten Schritttempo passierten. Danach näherten sie sich meiner Mutter, ohne dass wir Verd acht schöpften. Die wirkten wie Fahranfänger, die sich in eine Fußgän gerzone verirrt hatten und sich nicht trauten, durchzustarten. Wir ahnten immer noch nicht, was kommen würde. Das Moped tuckerte langs am weiter und schloss allmählich zu meiner Mutter auf. Sie schienen e twas zu eiern und sich einen Jux aus dieser Schleichfahrt zu machen. Für das, was im Folgenden passieren sollte, hatten wir einen Logenplatz. Das Moped fuhr von hinten etwas versetzt auf meine Mutter zu, waren fast etwas zu dicht auf ihrer Spur. Plötzlich hörten wir meine Mutter sc hreien und dem Moped ein wenig hinterher tippeln. Sie schrie

      „Hilfe, meine Handtasche!“

Was die vielen Italiener in der Fußgängerzone sicher nicht verstehen konnten. Als ich die Situation realisierte, zog auch ich einen Sprint an, musste jedoch feststellen, dass ich das Moped nicht einholen konnte. Meine Mutter war baff, aber nicht geschockt, da wir gleich bei ihr waren. Schockierend war die Reaktion der anderen Passanten weiter vorn in der Straße. Alle verhielten sich, als sei nichts passiert. Niemand machte Anstalten, sich dem Moped in den Weg zu stellen oder beide von dem Z weirad zu schubsen. Wir berieten, was zu tun sei und entschlossen uns, zum nächsten Polizeirevier zu gehen. Das Polizeirevier befand sich in e inem Altbau ganz in der Nähe. Auf dem Revier sprach niemand Deutsch. Ein Carabiniere, der ein paar Brocken Englisch sprach, nahm uns mit in die Ecke der großen Halle im Parterre und nahm ein Protokoll. Jetzt saßen wir zu dritt vor dem Tisch, an dem der Carabiniere mit einer Sch reibmaschine ein Protokoll aufnahm. Er stellte Fragen, fand immer wie der Schlüsselwörter wie Person, Motor, Man, Passport, Money die auch wir verstanden, und tippte die Antworten, die er gar nicht richtig zu ver stehen schien, und erstellte ein Protokoll auf Italienisch. Mit Worten, Händen und Füßen und Gestikulieren verdeutlichten wir unser Anliegen . Absurder hätte es nicht sein können. Der Carabiniere checkte, dass ein Perso in der Handtasche war, etwas Geld, ein Schlüssel und ein paar pe rsönliche Sachen. Die Erstellung des Protokolls wirkte pro forma, wie ein Protokoll für den Mülleimer, wie ein Placebo, um drei Kriminalitäts opfer zu beruhigen. Die Tatzeit zeigten wir mit den Fingern auf einem Ziffernblatt. Schließlich entließ uns der Carabiniere und gab meiner Mutter noch die Hand. Wir hörten nie wieder etwas von den Italo-Cops.

Der weitere Urlaub stand unter dem Eindruck des Handtaschendieb stahls. Doch wir nahmen es mit Humor. Wir machten Station in Bolog na, wo ich mir ein Clash-Video kaufte, “This is Video Clash“, als VHS- Kassette. Das Video sah ich im Schaufenster eines kleinen Plattenladen s. Im Laden stand sogar eine LP der Italo-HC Band Negazione, die aus Turin stammten und circa 1987 sogar in der Alten Meierei in Kiel ge spielt hatte. Bologna gefiel mir ganz gut. Das Stadtzentrum war voll mit jungen Leuten.

In Pisa ging es auf den Schiefen Turm, der schiefer war, als erwartet. Die physikalischen Kräfte und das Gleichgewichtsgefühl oben waren wirklich ulkig. Zwangsläufig wurde der Turm „Schiefer Turm von Pizza“ genannt. Wir schossen Fotos mit dem Turm als perspektivische Trickeinlage. Mal wurde eine Cola-Dose aufs Dach des Turms gestellt, mal wurde er zwischen Daumen und Zeigefinger gehalten, mal stand er auf der flachen Hand – was du halt so machst, wenn Du dich nach einem gravierenden Todesfall in der Familie wieder aufbauen willst.

Die Kamera war keine Spiegelreflex. Der Bildausschnitt, der durch das Suchfenster zu sehen war, war nicht identisch mit dem später auf dem Foto abgebildeten, das durch die Linse aufgenommen war. Deshalb mussten wir beim Knipsen eine leichte perspektivische Verschiebung einkalkulieren. Bei einigen Fotos trafen wir nicht die richtige Bildausschnitt. Das sahen wir aber erst, als die Fotos später entwickelt waren.

Wir besuchten mehrere Museen in Pizza, äh Pisa, zumeist mit mitte lalterlicher Kunst.

Gut, wir waren also in Rimini, wir waren in Pisa, wir waren in Bologna. Schlussendlich wollten wir nach Florenz. Auf dem nächsten Schild stand Firenze.

      „Jetzt muss als nächstes laut Plan die Ausfahrt Florenz kommen."

      „Aber guck ma, die Stadt da rechts ist auch ganz hübsch mit Kirchen und so."

      „Das ist Firenze. Fahr bitte weiter wir wollen doch nach Florenz."

Da gab mein Alter Gas & irgendwann waren wir in den Alpen. Es gib t also weder Bielefeld noch Florenz.

Zurück in F*cking Kiel lud ich Kumpels zu einer Party ein. Wir sahen das New Model Army Video, das Hüsker Dü Video, “Rude Boy“ und schlussendlich “This is Video Clash“, alles auf dem geilen VHS Video Recorder. Die meiste Zeit schauten wir ernsthaft zu, gaben nur manchmal Kommentare ab. Es ging also auch ohne viel Alkohol und ohne viel Gesabbel. Der Herointote schien bald fast vergessen. Doch die Langzeitfolgen waren nicht zu überblicken und brachen immer wieder durch. Danach ging es Schlag auf Schlag: tot, tot, tot.

 

 

 

 

 

 

DER HEROINDEALER KOMMT MIR ZU NAHE

 

Ich hatte den ganzen Nachmittag Pfandflaschen am Falkensteiner Strand gesammelt. Jetzt wollte ich mehrere Tüten mit Flaschen und Dosen an der Aral-Tanke Kreuzung Pries abgeben. Die Schlange war ziemlich lang, da gerade Feierabendzeit war. Als ich mich umdrehte, sah ich hinten in der Schlange den Heroindealer, der schon so viele Leute auf dem Gewissen hatte, darunter meinen Cousin. Als ich ihn erkannte, kochte in mir sofort das Blut. Ich spielte mit dem Gedanken, ihn zu attackieren und niederzuschlagen, auch wenn damit zu rechnen war, dass er eine Waffe bei sich trug, eine Pistole oder ein Sprungmesser, um sich gegen renitente Kunden und andere Widersacher zu behaupten. Ich überlegte, eine Regalwand aus dem Warenständer zu reißen und ihn damit zu rammen. Als ich kurz davor war, zu tillen, kam zum Glück ein Jugendtrainer aus dem lokalen Fußballverein in die Tanke, der mich aus gut 6 Metern Entfernung grüßte und freundlich lächelte. Das beruhigte mich ein wenig.

Die Wunden des Herointodes meines Cousins und anderer Jugendfreunde und -freundinnen waren längst nicht verheilt, und wenn ich diesen hinterhältigen Dealer sah, musste ich mich zügeln. Doch selten war ich ihm so nah wie hier in der Tanke. Ich gab das Leergut ab, was be stimmt 10 Minuten dauerte. Da war der Dealer schon längst wieder aus der Tanke verschwunden.

Ein paar Tage später sprach mich ein niedergelassener Arzt und Chirurg auf offener Straße an. Er unterhielt sich ein paar Minuten mit mir und schüttete mir sein Herz aus. Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. Dr. Meißnitz erzählte von besagtem Heroin-Dealer, dass ein Ersuchen vorlag, ihn auszuweisen, weil er immer wieder beim Dealen erwischt oder angezeigt wurde. Der Dealer schaffte es, über einen Anwalt un d ein ärztliches Gutachten eine Ausweisung abzuwenden. Angeblich ko nnte er mit seinem gesundheitlichen Leiden nur hierzulande behandelt werden. Ich verstand nicht, weshalb der Arzt das ausgerechnet mir erzählte. Der gute Mann kann nur gewusst haben, dass mein Cousin am Her oin dieses Dealers gestorben war. Dem Dealer ging es vor allem ums Ge ld, um Macht über seine Kunden und Kundinnen – vor allem junge Fra uen. Er war ein paar Jahre im lokalen Rüstungskonzern beschäftigt und versuchte jetzt, den Stadtteil durch sein Gedeale zu schädigen. Das war schon ein ziemlicher Zwiespalt, zumal die meisten seiner Kunden behaupteten, mit ihm zufrieden zu sein und ihn mochten - Dealerliebe halt.

Der Heroindealer trug später ein blondes Toupet trotz seiner dunkle n Haare. Erst war er in der kleinen Spielhalle beschäftigt, die zum Imb iss gehörte. Später half er in der Moschee und dem integrierten Lebensmittelmarkt über dem SK-Markt aus, wenn es darum ging, zu werkeln und Hausmeisterarbeiten zu erledigen. Er sammelte Geld für einen Islamverein. Es kam die Befürchtung auf, dass er für die PKK sammelte oder sogar für eine Terrororganisation Geld aufbrachte.

Über die Jahre war es eine ganze Menge an Drogentoten, die er zu verantworten hatte, entweder, weil er sie anfixte, oder weil sie an seinem Zeug starben. Ich konnte an dem Menschen nichts Positives finden. Die angefixten jungen Frauen liebten ihn. Es war ein Dilemma, und die son st so eifrigen Cops blieben trotz der Hinweise und Anzeigen passiv – ge nauso wie beim lokalen Pfadfinderskandal. Das erzeugt wieder dies Oh nmachtsgefühl. Wartet die Polizei, bis sich auch dieser Fall von selbst erledigt? Gierten sie auf ein horrormäßiges Showdown mit Toten? Sollte „die Straße“ oder irgendein Rächer die Sache übernehmen? Werden die Rocker wieder zuschlagen und ein weiteres Opfer in Zement gießen?

 

 

 

 

 

 

MEIN ERSTES RICHTIGES EXPLOITED T- SHIRT

 

Je älter ich wurde, desto stärker wuchs in mir der Wunsch, mir ein Exploited T-Shirt zu kaufen. Ich hatte diese schottische Punkband zwar immer noch nicht live gesehen, doch das war nur eine Frage der Zeit. Ich wusste, wer ein Exploited T-Shirt in der Öffentlichkeit trägt, hat mit grenzwertigen Sprüchen zu kämpfen. Deshalb ist ein Exploited-Shirt immer gut für Socializing und Leute kennenlernen, es sei denn, dass die Sprüche einfach zu platt sind. T-Shirt Peter in der Holstenstraße führte leider keine Exploited-T-Shirts. Eines Abends, es war schlechtes Wetter, machte ich spontan einen Spaziergang über den Jahrmarkt auf dem Willy. Ich wollte nur eine Runde drehen, nichts kaufen, aber gucken, um danach kurz zum Supermarkt zu gehen und fragen, ob der Pfan dautomat wieder funktionierte, denn ich hatte noch eine Holsten-Kiste mit Leergut stehen, das ich im Park gesammelt hatte. Als ich jetzt über den teils matschigen Jahrmarkt ging, war wenig los, ich schaute nach Lebkuchenherzen mit Vereinsnamen darauf. Fehlanzeige. Ich sah Autoscooter, ein Riesenrad, Luftgewehrbuden, Losbuden mit Mikrofondurc hsagen, ein Glaslabyrinth für die ganze Familie, Armbrustschießen, Dosenwerfen, Ballschießen von einem fixierten Katapult, Imbissbuden, roch sich überschneidende Senf- und Würstchengerüche, sah Lebkuchen herzen in unterschiedlichen Größen, Zuckerstangen und andere Süßig keiten, zwei ungefährliche Kinderkarussells, mehrere Bierstände, einen Bayernzelt-Style Holzverschlag mit Sitznischen neben dem Toilettenwagen, eine Toilettenfrau, die gerade die Schicht begann und die große rote Kasse vom Bayernzelt-Style Holzverschlag nebenan holte, mehrere undefinierbare Erlebnisparkours, eine hammerförmige Riesenschaukel, Halligalli-Style Bahnen, ein paar Gaffer vor den Ständen mit Blick zu den Besucher. Die Gaffer waren wohl Schausteller. Ich sah ein Pulk Se curity, ein Boxautomat mit Kraftmessung, Crêpes-Stände, Mandelverk äufer und vieles mehr. Plötzlich kam ich bei einem Klamotten und T-Shirt-Verkäufer vorbei. Ich sah ein paar Band-T-Shirts, Judas Priest, AC/DC, Wolfsköpfe, ein Bruce Lee T-Shirt, unzählige Totenkopfmotive und vieles mehr. Spontan fragte ich, ob der ein Exploited T-Shirt hat. Er sagte

„Moment“

holte ein T-Shirt hervor und breitete es mit einem sc hwungvollen Wurf vor mir auf dem mit T-Shirts vollgelegten Verkauf stisch aus. Ich sah schon ein großes gelbes Schild weiter links liegen mit der Aufschrift 20€. Doch er sagte sofort

      „Fünfzehn Euro.“

Ich schaute das T-Shirt an. Es war das Motiv der “Beat The Bastards LP“, jedoch qualitativ merkwürdig. Ich sah gleich, dass der Stoff sehr dünn war. Als ich es anfasste, sagte ich

      „Der Stoff ist aber sehr dünn. Zwölf Euro würde ich dafür ausgeben.“

Da sagte der asiatisch oder indisch wirkende Verkäufer

      „Das ist zwar dünn, aber die Gewinnspanne ist niedrig.“

Ich überlegte gar nicht, sagte

      „Ok, ich wollte immer schon mal ein Exploited-T- Shirt haben. Ich nehme es.“

Da holte der Verkäufer eine hauchdünne d urchsichtige Tüte hervor mit einem Smiley und dem Wort Danke darauf und gab mir darin das T-Shirt. Mit gemischten Gefühlen ging ich, d enn es war vom Stoff halt sehr dünn. Ich ging an der nächsten Halligalli-Style Bahn vorbei, an der mehrere blutjunge Frauen mit offenen Ha aren standen, Blazern und Jeans. Ich ging nach links um die Ecke, ging an einem Crêpes-Stand vorbei. Dahinter befand sich zu meinem Entse tzen ein weiterer T-Shirt Verkäufer, dessen T-Shirts qualitativ hochwe rtiger aussahen. Ich blieb stehen, trat ein paar Schritte weiter an den St and heran und ahnte schon, was kommen würde. Ich blickte nach links und, siehe da, da hing ein Exploited T-Shirt, so wie ich es immer schon haben wollte. Mit riesigen Exploited Schriftzug und dem gewünschten Iro-Motiv. Hätte ich doch erst eine ganze Runde über den Jahrmarkt g edreht. Da drehte ich mich um und ging weiter. Ich verließ den Jahrmarkt, ging zum Supermarkt und dort direkt zur Kasse und fragte

      „Ist der Pfandautomat wieder freigegeben?“

      „Ja, der ist freigegeben.“

Da ging ich nach Hause, um das Leergut zu holen. Doch zu Hause angekommen, wollte ich erst das Exploited T-Shirt anziehen. Ich nahm das zusammengelegte T-Shirt aus der Tüte, hielt es oben mit beiden Händen fest und ließ es sich nach unten ausklappen. Da bekam ich ein Hochgefühl, de nn ich erkannte, dass nicht nur die Vorderseite, sondern auch die Rück seite beflockt war. Das bescherte mir ungeahnte Glücksgefühle. Währe nd die Vorderseite farbig war, vor allem gelb-orange, war die Rückseite schwarz-weiß, ebenso mit Iro im Seitenprofil. Ihr könnt euch nicht vor stellen, wie glücklich ich über den Kauf war. Ich stellte mir gleich den Iro hoch und schoss vor dem Spiegel ein Foto. Jetzt fehlt nur noch rote Directions Farbe für den Iro. Ich warte jetzt auf den ersten grenzwertig en Spruch wegen des T-Shirts und freue mich darauf - und vor allem auf das nächste Exploited Konzert hier bei uns im Norden. Das ist die Geschichte von meinem ersten richtigen Exploited T-Shirt.

 

 

 

 

 

 

EXPLOITED TRAUM

 

(Fake Tourette beim Exploited-Konzi)

 

Im Esso 36 sollten Exploited spielen. Zum Glück hatte ich einen Kumpel dabei, der schon in der U-Bahn allen gleich erklärt hat, wenn ich a nfing, die Leute zu beleidigen, dass ich das Tourette Syndrom habe. Es waren wirklich krass brenzliche Situationen dabei, in denen Schläger schon mit geballten Fäusten auf mich zueilten, um mich zu bremsen , und mein Kumpel rief

      „Er kann nichts dafür, der hat das Tourette Syndrom".

Das half immer, und die Leute waren besänftigt. Es glaubte wirklich jeder, dass ich Tourette habe. Auch wenn es unterste Schublade war mit

      „Du Wi*hser, Alter, A*schkopf, Fi*ker, sche*ß Assi, Fresse od er was, du Mongo!“

Viele Leute schauten recht bekümmert, auch jüngere Leute und beson ders Frauen. Doch einige fühlten sich wirklich angegriffen und wollten die Kaskade an Schimpfwörtern unterbinden. Auch nach dem Umsteig en in eine andere U-Bahn schrie ich:

      „Sche*ße P*mmel, du Sche*ße P* mmel, A*sch, K*tzer, W*chsgesicht, W*chs-W*chser, Flasche, P*sser, P *ssgesicht“.

Extrem problematisch war das bei Fahrkartenkontrollen oder wenn wir mit den Cops konfrontiert waren. Denn dort drohte die Gefahr, dass die Beleidigungen für bare Münze genommen wurden, wenn es hieß:

      „Sche*ßer, Wa*ker, W*chser, A*sch, P*mmel, Affe, Linksw* chser, Schnellspr*tzer, V*tzenkopf, B*stard, Knallkopf, was willst Du? P *ssarsch. K*ckk*cker. Sche*ßsche*ßersack.“

Es wurde also eine gefährli che Tour zum Esso 36. Als plötzlich Kontros einstiegen, stockte meine m Kumpel gleich der Atem, denn ich schrie den Kontros entgegen:

      „Ihr W*chsköppe, Sche*ßgesichter, Headbänger, Pack, F*cker, A*sch, Null , du Null, Mongo, P*sser, Kotl*cker, Fu*ker, ihr H*rensöhne, s*k de lan , anna na s*ki! Ihr Hohlköppe.“

Die Kontros kümmerten sich gar nicht erst um andere Fahrgäste, sondern kamen direkt zu uns, da sie sich nicht beleidigen lassen wollte. Da schrie ich wieder

      „Puta, Sche*ßer, ihr Sche*ßw*chspackp*mmel.“

      „Stop !“

schrie mein Kumpel.

      „Lassen sie ihn in Ruhe, der hat das Tourette Syndrom.“

Da verharrten die Kontros und schauten mich mit großen A ugen an. Als ich weiter schrie

      „Ä*sche, A*sch, A*schkopf, Du Maske, Ka *ka*sch, Du Barschel, Sche*ße, Ka*ke, P*sse, ihr alten Ka*ker, P*mmelköpfe“,

drehten sie sich um und fingen an, die anderen Fahrgäste im U- Bahnwagon zu kontrollieren und schlussendlich auch uns. Da schallte e s wieder aus meinem Munde:

      „Fi*ker, A*sch, Du Sack, Dummkopf, Lu ts*her, Luuuts*her, Ka*kp*mmel, Lusche, ihr Lascheks“. Gesenkten Hauptes verließen die Kontros die U-Bahn. Wir genossen das richtig. Eine Station später am Cotti stiegen auch wir aus. Jetzt gingen wir zielstrebig auf dem direkten Weg weiter zum Esso 36 in der Oranienstraße zum Exploited-Konzert. Als wir an einer Ampel standen, brach es wieder au s mir heraus. Auslöser war eine Nobelkarosse, die mit heruntergelassenen Fenstern bei lauter Musik an der Ampel stand. Die hinteren Scheiben waren nahezu schwarz und von außen undurchsichtig. Ich schrie

      „A *schgeige, F*tzenkopf, Hur*nsohn, Kackgesicht, du P*mmel, Schwe*ne kopf!“

Er konnte nur meine Lippenbewegungen sehen, grinste und gab Gas. Wie der Zufall es wollte kamen in dem Moment die Bullen vorbei und bekamen die restlichen Pöbeleien mit. Jetzt machten die Cops ein en U-Turn und fuhren langsam an uns vorbei, um sich zu erkundigen, was los sei. Da sprudelte es wieder aus mir hervor:

      „Bullenschwe*ne, Ä*sche, ihr Schergenschwe*ne, P*ssköpfe, Schwe*ne bull*n, Hur*nsöhne, ihr Sche*ßbull*n, ihr Nullen, Schwe*neköpfe, Idi oten!“

Da sagte der eine Bulle

      „Das ist wieder der Punk mit dem Tourette Syndrom. Leg dich bloß nicht mit dem an, der hat einen Freifahrtschein. Fahr bloß weiter.“

Da gaben die Cops Gas und brausten davon.

Jetzt konnten wir unseren Weg zum Exploited-Konzi endlich fortsetzen. Mein Kumpel zog mich weiter bis wir auf der Oranienstraße waren, wo wir nur noch ein paar Hundert Meter geradeaus mussten.
Vor einem der Cafés standen mehrere verchromte amerikanische Mot orräder. Rocker mit Kutten standen und saßen vor dem Café. Als ich d ie Rocker bemerkte, schrie ich

      „Ihr Rockerschwe*ne! V*tzenköpfe, ihr Schw*lis, Schw*liberts, ihr M*senkoppe, Fi*kfrösche, Fettsäcke, Schwa *zluts*her, Schwu*köpfe, W*chser, ihr Ko*zbrocken, A*schgesichter, S chweine.“

Die Rocker sahen verdutzt zu mir rüber. Ich schrie weiter

      „Ihr fetten Schwe*ne, Ka*kstelzen!“

Da stand der Oberrocker mit geballten Fäusten auf und schrie

      „Willst Du unseren Club beleidigen?“

Mein Kumpel sagte wieder

      „Der tut nichts, der hat das Tourette Syndrom!“

      „Dann bring ihn weg hier!“

schrie einer der Rocker. Da brach es erst so richtig aus mir hervor, und ich schrie

      „Ihr Hur*nsöhne, A*schgeigen , Knallköpfe!“

Da griff mein Kumpel mich am Oberarm und zog mich weg vom Ort des Geschehens.

Als wir schlussendlich auf das Esso 36 zugingen, sahen wir schon die me ga Menschentraube, viele Iros, gefärbte Haare, Nietenjacken, Nietengürtel, Nietenarmbänder, Boots und nochmal Boots. Wir schlossen zur Traube auf. Hier schnackten die Punks miteinander und soffen. Einer aus dem Pulk schrie

      „Exploited ... Barmy Army. Exploited ... Barmy Army . Exploited ... Barmy Army.“

Da laberte ich schon die ersten an mit mei ner nächsten Tourette-Attacke

      „Halt die Punkerklappe, Fi*ker, Punker dreck, Schnepfe, Du Hundesche*ße, Du Hund, Ka*kstelze, Luts*her, Lu uts*ha, P*mmellicker, ihr Fi*kfehler, Motherfu*ker, Fu*ker, Fu*ker!“

Nach kurzer Intervention meines Kollegen wurde die Situation entschärft, und die Gemüter beruhigten sich.

Wir stellten uns vor den Eingang. Die Vorband sollte bald spielen. Wir hatten unsere Tickets aus dem Vorverkauf. Jetzt mussten wir diese am Einlass vorzeigen. Während die Kassierer unsere Tickets abnickten, ger iet ich wieder in eine Tourette-Attacke:

      „Ihr W*chser, Drecksp*sser, Sc hwa*zp*mmelä*sche, P*sser, P*sser, P*sskopf, Sche*ßer, Ä*sche.“

      „Ist schon gut, mein Kumpel hat Tourette-Syndrom!“

      „Ja, so kam das auch rüber. Er muss sich aber trotzdem im Griff haben.“ „Schwa*zlecker, Schwe*n, Schwe*ne, Sä*e.“

      „Pass mal auf Deinen Kumpel auf, dass es drinnen keinen Stress gibt.“

      „Ja, ok.“

Jetzt betraten wir den Saal des Esso 36. Die Vorband spielte schon. Wir orientierten uns erstmal. Als wir durch die Reihen gingen, sang ein kleines Grüppchen Punks neben uns laut

      „I still believe in anarchy.“

Da musste ich drauf reagieren und schrie

      „A*schloch, du A*schloch, du A*sch, A*schw*chser, Du W*chsa, ihr Hackfressen!“

Da zog mich mein Kumpel weg von den Punks, denn hier im Saal bro delte es und die Aggressionen waren offensichtlich. Wir stolperten wei ter durch den Laden. Als nächstes gingen wir zum Tresen, um uns ein Bier zu kaufen. Der Tresenmann signalisierte uns mit einem kurzen Nicken, dass wir unseren Getränkewunsch mitteilen sollen. Mein Kumpel bestellte zwei Biere. Fast gleichzeitig fing ich an, den Tresenmann und seine Kollegin zu beleidigen

      „Ihr Schwe*ne, Versager, Nieten, Bauern, Knechte, Dreck, Sche*ße, P*sse!“

Da wollte uns der Tresenmann zunächst die zwei Biere nicht geben. Mein Kumpel musste sich wieder für mich einsetzen, bezahlte und reichte mir ein Bier. Ich motzte noch ein wenig.    

      „Schl*mpe, Idiot, Dummkopf, Blödmusiker!“

Der Tresenmann un d die Tresenfrau schauten uns hinterher und schüttelten die Köpfe. Als ich 10 Minuten später auf Toilette musste, ging ich zunächst wortlos an der Klofrau vorbei. Auf Toilette stellte ich mich an ein Urinal und blick te auf die Sticker an den Kacheln. Wenig später stellte sich ein anderer Punk ans Urinal daneben. Da sprudelten gleich in einem weiteren Tourette-Anfall reihenweise böse Worte aus mir heraus

      „Du sche*ß Sche* ßer, Ka*ker, P*sser, P*mmel, Sa*k! Du Ze*ke!“

Alle Punks auf Toilette schauten mich mit weit aufgerissenen Augen an . Niemand reagierte. Ich beleidigte fleißig weiter, während ich einpackte und die Toilette verließ. Bei der Klofrau angelangt war sie auf einma l Ziel meiner verbalen Attacken:

      „V*tze, H*re, M*se, Sau, Mundv*tze, P *ssnelke, Schlampe, Nu*te, alte Kuhv*tze.“

Die Klofrau schaute mich mit aufgerissenen Augen an. Ich hielt einen Moment inne. Als die Toilettenfrau wehrhaft ihre Arme seitlich in der Hüfte abstützte, schrie ich weiter

      „P*ssv*tze, du Z*cke, Ze*ke, Zickenz e*ke, V*tze, du M*se, du Drecksv*tze, Putzv*tze, Anjuk, A*schv*tze, du Nudd*, Mundv*tze, Du Sa*.“

Da kam mein Kumpel schon herbeigeeilt und riss mich vom Ort des Geschehens weg.

      „Der hat Tourette Syndrom. Bitte nichts bei denken.“

Die Vorband spielte ihre letzten Songs. Es gab eine Umbaupause und s chon betraten The Exploited die Bühne. Jubel brauste auf. Der Sänger Wattie machte eine kurze Ansage, und schon ging das Konzert los. Es k am nach wenigen Minuten schon zu einem riesen Pogo-Mop, mit Stage Diving und Crowd-Surfing. The Exploited spielten ihre Top Hits, "Dead Cities“, "Troops of Tomorrow”, “Alternative”, “UK 82”, “I believe in Anarchy”, “I hate Cop Cars” und viele weitere Smash Hits.

Sänger Wattie gab alles. Mit seinem roten Iro war er ein wahrer Blickfang. Er schrie ins Mikro, als gebe es kein Morgen. Die Band flippte an i hren Instrumenten förmlich aus. An einigen Stellen wirkte es, als kotze Wattie ins Mikro, oder als würge er ein verschlucktes Ei aus. Die Adern an seinen Schläfen stachen hervor, als könnten sie jeden Moment platzen. Schon nach wenigen Minuten öffneten sich seine Schweißporen, al s käme er gerade aus dem Schwimmbad. Er tänzelte wie Muhammad A li in seinem letzten Kampf, um wenige Momente später zu explodieren wie das World Trade Center. Allen wurde klar: Punks Not Dead.

Jetzt schrie Wattie

„Army life is killing me me me me me me, Army l ife is killing meee.”

Vor der Bühne kam es immer wieder zu Streitereien. Als eine kleine Keilerei ausbrach, versuchte Wattie verbal von der Bühne aus zu intervenieren. Da stand ich nur wenige Meter von Wattie entfernt. Plötzlich bek am ich den nächsten Tourette Anfall, der sich gegen den Sänger von The Exploited richtete:

„Du Schwachp*mmel, du sche*ß p*ss Knabe, Schw *nzluts*her, alter Ka*ker, Luuuts*ha, du Ka*ker, P*sser, A*sch, A*schf*c ker, si kerema, Yarak, Eschek! Deli domus, sense lisse, si kerema! Puta.“

Wattie war sehr überrascht, da er bemerkte, dass sich diese Worte gege n ihn richteten, checkte aber, dass das auf Deutsch war, was er nicht ve rstand. Also rief er zu mir rüber

      „What are you saying?“

Ich wieder

      „Du A*schloch, Ka*kstelze, Pof*cker, du Spas*i, du Mis*ge burt!“

Wattie kratzte sich am Kopf. Jetzt schrie ich

      „You wanker, fu*king b*s tard, ar*ehole, you c*nt, motherfu*ker, kiss my a*se, p*sshead, bloody b*stard, son of a bit*h!”

Jetzt verstand Wattie mich, und er wirkte arg irritiert. Er sagte noch zö gerlich

      „No, I’m not!“

Da schrie mein Kumpel

      ”Don’t mind what his saying. He’s got Tourett e's Syndrome!”

      “That’s good!”

rief Wattie.

Die Band sammelte sich wieder und weiter ging es mit “Fuck the USA!“ Der Laden tobte. Wir brachten den Abend noch heil über die Runden und waren ziemlich geschafft, als wir gegen 1 Uhr nachts den Schuppen verließen.

Auf dem Heimweg wieder das gleiche Spielchen. Erst musste ich ko*z en. Mein Magen beruhigte sich. Wieder beleidigte ich reihenweise Fah rgäste im U-Bahnhof und in der U-Bahn. Mein Kumpel war froh, als e r mich sicher zu Hause abgegeben hatte. Ich verabschiedete ihn mit ei nem gedrungenen

      „Du A*schloch, W*chser, P*sser, Ka*ker, kleiner Sc he*ßer!“

und legte mich ins Bett.

Es war trotzdem ein unvergesslicher Abend. Wir nahmen uns vor, dem nächst mal eine richtige Exploited Party zu feiern, auf der wirklich nic hts anderes als Exploited gespielt wird. Vor allem die seltenen Stücke v on den Singles A- und B-Seiten sollten aufgelegt werden. Die Party kön nte entweder in einer Wohnung oder WG stattfinden, in der auch laute Musik gehört werden darf, ohne dass die Nachbarn gleich ausflippen und die f*cking Cops rufen, oder bei irgendwem im Garten, wo die Na chbarn tolerant sind. Party im Park oder am Strand wäre auch nice. Al lerdings sollten nur Leute eingeladen werden, bei denen klar ist, dass s ie wissen, dass ich das Tourette Syndrom habe, die damit auch umgehen können. Es soll gewährleistet sein, dass es deshalb keinen Streit gibt . Rocker, die Exploited mögen, welcome.

 

 

 

 

 

 

AUSGEKUGELTES KNIEGELENK IN DER GRUFT-DISCO

 

Geh Tanzen in der Tanzt-Euch-Tot-Disco !

 

Viele Kieler verwechselten die Weißenburgstraße und Weißenhofstraße. Noch mehr Kieler verwechselten das Kneipenrestaurant Pupille mit der Bazille. Der alte Kellner der Pupille erzählte, dass die Pumpe der am stärksten von den Cops observierte Veranstaltungsort Kiels sei. Das lag in erster Linie daran, dass sich dort in den Räumlichkeiten das regionale Umfeld der RAF traf. Angeblich.

Neuerdings fanden einmal pro Monat Gothic-Tanzveranstaltungen in der Pumpe statt. Dazu wurde eigens oben im Saal das Areal links neb en der Bühne mit Wandverkleidungen abgegrenzt, um eine überschau bare und intime Disco-Atmosphäre zu suggerieren. Es wurden viele Goth- und Wave-Stücke gespielt, die wir aus Discos wie Pfefferminz, DNA, Prisma, Error und Subway kannten. Mindestens ebenso viele wichti ge Songs wurden vergessen oder unterschlagen. Der Tanzsalon war gut besucht. Es wirkte als solle ein neues Disco-Format etabliert werden, dass doch längst uralt war. An den Wänden des Tanzsalons waren Stühle aufgereiht, was eher den Charme einer Schuldisco vermittelte.

Zu der Uhrzeit an diesem Abend war die Tanzfläche nur spärlich frequentiert. Jeder Song forderte ein anderes Tanzklientel. Jetzt tanzte eine Frau allein auf dem Metallparkett. Sie trug schwarze Militärboots mit silberfarbenen Metallbeschlägen. Sie tanzte, als wären die Stiefel bleischwer, stampfte eher, als dass sie tanzte. Teils war ein Scheppern zu hör en, wenn die Metallbeschläge auf die Metalplatten des Dancefloors klac kerten. Es schien der Gruftfrau richtig Spaß zu bringen. Die Nachtschwärmer glotzten sie an, als sei sie eine Alleinunterhalterin, die ihre Boots eintanzen und damit posen wollte. Plötzlich stürzte die junge Frau, sch rie wie am Spieß und kauerte auf der Tanzfläche. Alle blickten erschrocken auf die Frau in Schwarz, niemand unterhielt sich mehr, niemand trank das Getränk weiter. Der DJ blickte mit weit aufgerissenen Augen zu der schreienden und krampfenden Frau. Das Geschrei übertönte die Musik. Da blendete der DJ die Musik aus. Jetzt waren nur noch die m arkerschütternden Schreie zu hören. Da die Ohren der Teilnehmer zu vor mit hoher Dezibelzahl und Stereo beschallt wurden, schmerzten di e Schreie der Frau aus dem Zentrum der Tanzfläche umso mehr. Meh rere Personen eilten zu der Frau, die immer noch auf dem Boden lag und sich vor Schmerzen wälzte. Es stellte sich heraus, dass sie mit ihren Boots an den metallenen Parkettplatten des Dancefloors hängen geblie ben war, deshalb stürzte und sich das Kniegelenk auskugelte. Eine and ere Gruft-Frau streichelte ihre Schulter, um ihr Trost zu spenden, denn sie hatte fürchterliche Schmerzen. Es wirkte, als würde sie sterben. Zwei Typen standen besorgt daneben, wussten jedoch nicht so recht, wie sie helfen sollten. Der Tanzsaal war bis auf die Schreie still. Alle blickten stumm und besorgt zu der Frau. Einige Gothics bekamen ihrerseits Schmerzen von den erschütternden Schreien. Inzwischen war das Licht angeschaltet und blendete. Die ersten gingen raus vor das Gebäude, um frische Luft zu schnappen und die Nerven zu schonen. Die Frau schrie weiter. Vor dem Gebäude waren die Schreie kaum zu hören. Wenige Minuten später hielt ein Krankenwagen. Drei Notfallsanitäter kamen ins Gebäude. Ihnen wurde der Weg gezeigt. Die Sanis betraten den Discosaal, hörten und sahen das Elend und gingen auf die Tanzfläche. Sie eilten zielstrebig zu der schreienden Frau. Einer der Sanis kniete sich n eben sie, legte seine Hand auf ihre Stirn, um sie zu beruhigen. Er stellt e Fragen. Die anderen zwei Sanis breiteten die Trage aus und legten di e Frau darauf. Die Gruft-Frau wurde mit zwei Riemen festgeschnallt und rausgetragen. Eine der Sanis ging neben der Bahre. Er wirkte unerfahren. Die Frau hatte sich etwas beruhigt, jaulte jedoch immer noch markerschütternd. Es war einfach nur schrecklich. Beim Raustragen herrschte eine gespenstische Atmosphäre. Ihr Gesicht war hochrot, schmerz verzerrt und tränenüberströmt. Eine halbe Minute später wurde die M usik langsam wieder hochgefahren und die große Saalbeleuchtung aus geschaltet. Die Gäste brauchten eine Weile um den Vorfall zu verdauen . Es wurde verhalten getanzt. Die Stimmung blieb mies. Die Leute schi enen beim Tanzen auf ihre Steps zu achten, als hätten sie Angst zu stür zen. Die Metallplatten wurden mit misstrauen betrachtet. Einigen Besuchern war kalt. Der DJ spielte besonders düstere Musik. Viele tranken sinnlos viel Alkohol. Es kam keine Stimmung mehr auf.

 

 

 

 

 

 

¿EXPLOITED FAND IN KIEL NICHT STATT?

 

Liebe Punx, ich möchte mich an dieser Stelle als Exploited-Fan outen. Eine Band, die über Jahre eine solch solide Leistung bringt, muss öf fentlich gelobt werden. Die Troops of Tomorrow ist besser als jede LP von AC/DC. In den 80ern wurde in fast allen Discos AC/DC gespielt. Sogar Hecker war genervt. Wir hätten gern stattdessen Exploited gehört . Doch das war unmöglich, denn es ging in den Discos nicht demokrati sch ab. Es hätte eher in der Disco Freibier gegeben, als dass sie Exploit ed auflegten. The Exploited war in Kiel verboten, und wer beim DJ nach Exploited fragte, und es nicht bei einem Nein beließ, bekam Hausver bot oder zumindest den Vogel gezeigt.

      „Exploited? Bist du wahnsinnig?“

oder
      „Exploited? So‘n Scheiß leg ich nicht auf. Verpiss dich.“

The Exploited war eine der wenigen Maßnahmen, mit denen wir uns

gegen die Rocker behaupten konnten. Endlich konnten wir dem ganzen Hardrock-Müll eine entscheidende Waffe entgegensetzen: Exploited . Mit der Troops of Tomorrow war das Ende von AC/DC eingeläutet.

Trotzdem traute sich in Kiel niemand, sich Exploited auf die Leder-Ja cke zu malen oder zu sprühen. Da fehlte das nötige Selbstvertrauen. Ps eudos waren Exploited nun wirklich nicht, auch wenn viele The Exploited vehement ablehnten. Wer jesoch Exploited auf der Jacke trug, war bei allen unten durch und wurde belacht, auch von den Hardcore-Punks.

Ich hatte zwar noch keinen eigenen Plattenspieler, hatte aber schon die „Punks Not Dead“ von Exploited. Ich hatte mir die Scheibe bei Membran einverleibt. Leider konnte ich sie nur hören, wenn meine Eltern nicht zu Hause waren. Mein Vater hatte einen massiven Plattenspieler auf dem Wohnzimmerschrank auf Kopfhöhe stehen. Hier konnte ich he imlich Exploited hören und manchmal so richtig aufdrehen, dass die Fetzen flogen und der Nachbar irritiert war. Die Scheibe war sehr gut p roduziert mit tollem Stereo-Effekt und Schlagzeug Surround Sound, Tribal Drums mit Raumklang, wie du sie in natura nirgends wahrnehm

en konntest, bloß auf LP, als hätten Exploited ein weltklasse Tonstudio für die Aufnahmen verwendet, das sonst nur Bands wie Rolling Stones zuteil wurde. Dazu kam die Creme de la Creme der Toningenieure. Für Exploited nur das Beste.

Jedenfalls kam irgendwann das Gerücht auf, The Exploited hätten in Kiel gespielt, irgendwo in der Bergstraße. Das glaube ich bis auf den he utigen Tag nicht, auch wenn es mir bereits mehrere Leute unabhängig voneinander erzählt haben, zumeist aus der Alt-Hippie Generation. Ab er was soll’s. Mir erzählte sogar ein obdachloser kieler Alt-Hippie, dass er mal mit Jimmy Hendrix in einem Zimmer übernachtet hat.

 

 

 

 

 

 

FREMDALKOHOL

 

Fremdalkohol in Dosen vs. Fremdalkohol in Flaschen

 

„Stell dir vor, auf einem Konzert werden nur Becher herausgegeben, und du bekommst eine Bierdose an den Kopf, oder schlimmer noch, eine Bierflasche. Da fragst du dich sicher, was läuft hier verkehrt?“

 

Ein durchschhnittliches Wochenende in f*cking Kiel. Ich fahre mit d er Linie 64 in die Bergstraße, habe Halbe Holsten dabei. In der letzten Reihe links vom Gelenk aus gesehen sitzt der Hippie aus f*cking Stran de mit Ziel Hinterhof. Er trägt wie gewohnt ein weißes Hemd, was insg esamt untypisch für das Hippie Pack ist. Er scheint ein Hippie-Führer z u sein. Die Haare hängen offen über die Schultern wie bei einen Beauty Queen. Ich reiße mir einen Halben auf, was deutlich zu hören ist. Es zi scht und spritzt. Die Rückseite des Vordersitzes ist mit Bierspritzern be netzt. Einige Fahrgäste drehen sich um oder blicken zumindest über di e Schultern. Der f*cking Hippie grinst. Ich trinke nicht sofort, warte ab, bis das Zischgeräusch vergessen ist. Jetzt trinke ich vorsichtig das schäu mende Bier, denn bei Bodenwellen und adhoc-Bremsungen kann es ü berschwappen. Bevor ich aussteige, quetsche ich die leere Bierdose zw ischen den Sitz und Businnenverkleidung. Danach gehen ich zielstrebig zur Bergstraße und lass mich nicht von anderen Besuffskies dumm a nlabern. Die Türsteher kassieren und verteilen gierig Stempel. Wer de n Handrücken hinhält, wird an den Handgelenken gepackt. Die Handf läche wird nach oben gedreht, der Stempel auf die Pulsadern gedrückt . Ich weigere mich, sage, ich habe Neurodermitis, bekäme Ausschlag, je doch nicht auf dem Handrücken. Akzeptiert. Niemand wird nach Frem dalkohol kontrolliert. Ich habe einen Halben in der Innentasche der ha lboffenen Lederjacke, unter der mein schwarzes Meteors T-Shirt mit dem Cover der Wreckin‘ Crew zu sehen ist. Ich stelle mich nach hinten i n die zweite Reihe hinter der Tanzfläche, trinke heimlich das Bier. Der Minz-DJ spielt “Big Man Restless“. Ich zerknülle die Dose, bücke mich und lege sie an die Wand neben dem versperrten Notausgang.

Es heißt, Fremdalkohol sei ein großes Problem für die Gastronomie. Ein größeres Problem ist der Umgang mit Punks, die Fremdalkohol hi neinschleusen. In Küstenstädten kursiert der Begriff „Korkgeld“. Die Gerüchteküche um die Auslegung des Korkgelds kannte keine Grenzen. Korkgeld kann bedeuten, dass Punks, die Fremdalkohol mitbringen, di esen theoretisch weiter trinken dürften, sofern sie eine Strafgebühr za hlen. Das wirkt zwar gewöhnungsbedürftig, kann aber eine gute Lösun g sein, sofern das Korkgeld nicht ausufert. Das entpuppte sich als Utopie. Es gibt eher die Fälle, in den der Konsum von Fremdalkohol mit Körperverletzung und HV bestraft wird. Besonders Punks werden allzug ern überhart angepackt. Es gibt theoretisch die Fälle, dass der Fremdal kohol konfisziert und trotzdem Korkgeld kassiert und obendrein ein H V ausgesprochen wird.

Stell dir einen Konzertabend vor, bei dem zwei tolle Bands spielen. Be i den Besuchern herrscht gute Stimmung. Eine lokale Punkband als Vorband, sowie eine US-Band als Hauptact, ein Polit-Folk-Punk-Band, die s ich klar gegen harte Drogen und die US-Drogenpolitik ausspricht. Das g eht sogar unter die Haut. Die Sängerin erzählte, sie sei seit nunmehr 10 J ahren ohne Alkohol und habe zuvor ein großes Problem mit Alk gehabt.

Ich hatte eine alkoholfreie Phase, lebte Straight Edge. Deshalb habe ick den ganzen Abend nur Wasser getrunken. Nach dem Konzert saß ich am Tresen, trank weiter ausschließlich Wasser. Irgendein F*cking Ba stard hatte eine leere Bierdose rechts neben mich gestellt, was ich nicht sah. Plötzlich blarrte mich der Tresenmann an, ich hätte Fremdalkoh ol getrunken und hielt mir die Dose drohend vors Gesicht. Es drohte s chon das nächste HV, also Hausverbot. Zuvor hatte er mir mehrmals d as bestellte Wasser hingestellt. Ihm muss klar gewesen sein, dass ich nur Wasser trank. Die Sau stellte mich weiter zur Rede, was das soll. Der Einlauf ging weiter, dass sie an mitgebrachten Getränken kein Geld verdienen. Ich reagierte

      „Das ist mir als Kunde egal. Ich bin hier kein Mitarbeiter, der darauf achtet, dass kein Fremdalkohol reingebracht wird.“

Da hatte der Tresenmann immer noch nicht gerafft, dass der Halbe nicht von mir war. Ich sagte ihm

      „Ich trinke schon eine ganze Zeit keinen Alkohol mehr trinke.“

Da gingen die Anfeindungen weiter. Er schien mir nicht zu glauben. Da sagte ich

      „Du kannst gern Fingerabdrücke nehmen lassen, hier schräg gegenüber in der Blumstraße ist die Polizeizentrale Blume. Du kannst die Dose da gleich abgeben und analysieren lassen. Meine Fingerabdrücke si nd da nicht drauf.“

Als ich plausibel machte, dass ich den ganzen Abend nur Wasser get runken habe, sollte ich dazu Stellung nehmen, weshalb es mir egal sei, wenn Leute ihre eigenen Getränke mit reinnehmen. Das Absurde ist, zuvor hatte mir derselbe Tresenmann eine halbvolle Flasche Wasser vor meiner Nase weggenommen, sodass ich schrie

      „Hej, da ist noch was drin.“

Er gab mir die Flasche zurück, sagte

      „Sorry, das habe ich gar nicht bemerkt.“

Inzwischen war ich einer der Letzten im Laden, unterhielt mich mit einer geschassten Ex-Kellnerin aus der Bambule. Der restliche Tresen war verwaist.

Wenig später kam ein anderer Kellner aus dem Backstage- und Küchenbereich. Zuvor betrat der den Tresenbereich nur, um sich selbst zu verköstigen. Jetzt schrie er uns aggressiv und laut in die Ohren, dass es schmerzte.

      „So, jetzt reicht es aber. Ihr seid die letzten hier. Sofort raus mit Euch ... .“

Wir kamen dem Rauswurf nach und mussten vor die Tür in den Regen. Es war da circa 1 Uhr. Da weiß ich echt nicht, was ich davon halten soll. Lief das auf ein weiteres HV in der Gastronomie hinaus, ja oder nein?

So gereizt kann die Belegschaft beim Verdacht auf Fremdalkohol sein. Schon der Verdacht kann zu einem HV führen, sofern Du auf den Fr emdalkoholvorwurf falsch reagierst. Also “Don’t panic!“

Noch ganz anders ist es auf Punk- und Rockfestivals. Hier lässt sich d er Konsum von Fremdalkohol kaum unterbinden. Der Campingbereich ist sowieso vom Festivalgelände abgegrenzt und weitestgehend unko ntrolliert. Es gibt jedoch die Veranstalter, die Fremdalkohol grundsätzl ich gutheißen und nicht unterbinden, vor allem um Stress zu vermeide n. Nicht nur, dass das zu viel Arbeit bedeutet. Es könnte den Ruf der Ve ranstalter gefährden, wenn Fremdalkoholtrinkende bestraft würden. Das trifft besonders zu auf subversive Partys in der linkskreativen Szene oder auf halbprivate Partys mit Ausschank für die, die es brauchen un d es sich leisten können. Allerdings können Dosen und Flaschen schnell mal als Wurfgeschosse verwendet werden. Und es gibt nichts Schlimmeres, als dass ein Bandmitglied oder ein Linienrichter eine Bierflasche an den Kopf geworfen bekommt. Dabei sind Dosen das deutlich geri ngere Übel, es sei denn, sie sind halbvoll.

 

 

 

 

 

 

MIT YOGA GEGEN FLASHBACKS UND HALLUS

 

Während des Zivildienstes fing ich mit Yoga an. Töle hatte mir das „D as 28-Tage-Programm“ von Richard Hittleman empfohlen. Richard Hittleman war ein New Yorker Yoga Guru, der Millionen von Büchern ver kaufte und dazu einen Slot im US-Fernsehen bekam. Ich arbeitete das Buch tatsächlich konsequent durch. Das interessante an dem Buch ist, das s nicht nur für jeden Tag des Programms Yoga-Übungen vorgegeben waren, sondern obendrein ein Leitthema im Umfang einer Buchseite, das Empfehlungen für ein gesundes, yogamäßiges Leben gab. Mal ging es um den gesunden Schlaf, mal um yogamäßige Ernährung, mal ums Rauchen, um Alkohol, das Hormonsystem, mal um Meditation – 28 Themen. Ich fand das Buch interessant und entschied mich dazu, das Program m durchzuarbeiten, zumal meine Gesundheit eine Großbaustelle war.

Ursprünglich hatte eine Psychologin aus Kiel das Buch Töles Mutter empfohlen, als diese eine Krebsdiagnose bekam. Töle gab den Tipp an mich weiter, da auch ich durch meinen Zivildienst arg angeschlagen w irkte. Ich war längst ausgeknockt mit Helfersyndrom und Suchtproblematik. Wahrscheinlich hatte Töle Angst, dass ich noch weiter abstürze, denn mein Zivildienst war schon eine krasse Sache.

Ich hatte schon ein paar Mal meditiert, zusammen mit meiner damaligen Freundin. Das geschah, als wir in ihrem Zimmer in Flintbek saß en. Das war eine neue Erfahrung. Ein Fußballkollege nannte das Meditieren Kontemplation. Das war mir neu. Auch autogenes Training versuchte ich mir autodidaktisch beizubringen, lieh dafür ein Buch aus der Bücherei.

Insgesamt arbeitete ich das 28-Tage-Programm bestimmt 4- oder 5- mal durch. Es war irgendwann wie Gedächtnistraining. Bald liebte ich das Fotomodell aus dem Buch, ihre wachen Augen und den glückliche n Gesichtsausdruck.

Mehrere Leute im Freundeskreis hatten inzwischen das Yogaprogramm durchgearbeitet – auch Töle und Heimerich. Einmal hatten wir eine Party am Westring, als wir alle im Suff versuchten, den Kopfstand zu machen. Das war ein Mordsspaß.

Von Yoga erhoffte ich mir als Kifferjunge Linderung für meine ange schlagene Kifferlunge. Mir war klar, dass ich regelmäßig Yoga machen müsste, um den lauernden Krebs im Keim zu ersticken.

Fakt ist, dass ich meine erste Line erst zog, nachdem ich das Yoga-Programm zwei- oder dreimal durchgezogen hatte. Da hatte ich immer noch keinen richtigen Yogakurs besucht.

Es dauert viele Jahre, bis ich meinen ersten richtige Yogakurs besuch te. Es war Hatha-Yoga Ich fühlte mich während des Kurses wie in einer Fangopackung. Mein Yogalehrer warf mich irgendwann raus, weil ich die Kursgebühr zum Stichtag noch nicht gezahlt hatte. Da war er sehr radikal. Wenn es bei Yoga ums Geld geht, wird hart durchgegriffen. Da können Yoga-Lehrer ungeahnte Aggressionen freisetzen, auch die Frauen, wenn du um die Stundengebühr feilschen wolltest.

Nachdem ich das Programm zum vierten Mal durchgearbeitet hatte , hatte ich keine Lust mehr auf Zigaretten. Ich hörte von heute auf morgen mit dem Rauchen auf, und es interessierte mich nicht mehr. Nac h wenigen Wochen stellte ich fest, dass ich eine ganze Menge Geld da durch sparte. Auch die Alkoholausgaben fielen weg. Dennoch waren die Folgeschäden meines Punk-Party-Lebens noch nicht ganz eingedäm mt. Obwohl auch hier nicht geklärt war, ob diese Schäden erst durch Yoga zum Vorschein kamen.

Mir war nicht bewusst, dass es mal so etwas wie Punkrockyoga geben könnte, denn darauf wäre ich gleich umgeschwenkt. Yoga zu Punkmusik – Kundalini-Yoga, genau genommen – war schon geil, ein echter Spaßfaktor.

Ich nahm an insgesamt 6 Punkrockyogasitzungen teil – in Konzerthallen und auf Festivals.

Später machte ich auch zu Hause Punkrockyoga. Hörte dazu Deutschpunk-Sampler, Dead Kennedys und Chron Gen.

 

 

 

 

 

 

BACK IN ‘81 - DER SPATEN AUS BROKDORF

 

Das AKW-Gegner-Museum hat ein neues Objekt und damit einen neuen Publikumsmagneten: den Spaten aus Brokdorf. Bei diesem Objekt handelt es sich um den original Spaten, mit dem ein Demonstrant versuchte, einen Polizeibeamten zu liquidieren. (tosender Applaus)

Freundlicherweise hat ein AKW-Gegner und Brokdorf-Teilnehmer den Spaten unserem Museum zur Verfügung gestellt. Wie Sie hier an der scharfen Metallkante sehen, klebt an dem Spaten sowohl Blut als auch weiße Farbe vom Polizeihelm des geschädigten Polizisten. Ob das Blut vom geschädigten Beamten stammt, der unten auf dem Pressefoto zu sehen ist, konnte nicht geklärt werden.

 

(Anmerk. d. Autors: Ich hab damit nichts zu tun, lasst mich endlich in Ruhe.)