Mittwoch, 29. Dezember 2021

 

 

Das Bad Brains Konzert im Metropol

(Mein letzter Berlin-Trip vor der Maueröffnung)

In den Wochen vor der Maueröffnung war ich zum vierten und letzten Mal im alten Ost-Berlin. Wir fuhren mit der Mitfahrzentrale, die sich zu der Zeit noch im Königsweg in der Nähe der Kampfsportschule Tangun befand. Wir konnten da noch nicht ahnen, dass sich drei Wochen später die Welt verändern und die Mauer öffnen würde.


Wir quartierten uns für ein paar Tage bei Zosch ein, der inzwischen in der Utrechterstrada im Wedding wohnte.
Zosch, Steff und ich hatten uns schon wochenlang auf das Bad Brains Konzert gefreut. Zosch hatte bereits Tickets für uns mit bestellt. Sie lagen jetzt in seiner kleinen Wohnung im Wedding für uns bereit.
Wir wollten unbedingt an einem Nachmittag nach Ostberlin rüber um Bücher und Platten zu kaufen. Das war genau an dem Tag als Erich Honnecker zurücktrat. Wir hatten noch am frühen Nachmittag bei der Landesbank B. „illegal“ Geld getauscht. Scheißegal. Der Kurs war an diesem Tag 1 zu 14. Für zehn Westmark gab es 140 Ostmark. Als wir die Landesbankfiliale betraten, sagte Zosch 
      „"Es ist ja nicht mehr erlaubt, in Berlin mit einem Motorradhelm Bankfilialen zu betreten. Da wird neuerdings sofort Alarm ausgelöst.“
      „"Einige nehmen den Helm ja erst während des Gehens ab.“
    Zu dritt nahmen wir den Grenzübergang Bornholmer Straße, wo wir den Zwangsumtausch von 25 DM pro Person bar zahlen mussten im Tausch gegen 25-Ostmark. Dass wir das schwarz getauschte Geld importierten, war eine Straftat. Es hätte deshalb Probleme geben können.
     Wir erlebten hier einen wirklich tollen Nachmittag. Zum Abend hin wurde es feucht-fröhlich.
Als wir durch Ostberlin liefen, hielt plötzlich ein Fahrradfahrer und sprach uns an:
      „"Vielleicht können wir ja bald auch mal zu euch rüber kommen und euch im Westen besuchen?“
Er hatte währenddessen das Fahrrad zwischen seine Beinen geklemmt und wirkte kurz angebunden. Der Mann wurde unruhig, stieg gleich wieder auf um weiter zu fahren, als hätte er plötzlich Verfolgungswahn.
      Wir waren schon ziemlich besoffen als wir uns entschlossen, mit unseren Einkaufstüten den Weg zurück zum Grenzübergang Bornholmer Straße zu bestreiten. Wir hatten uns jede Menge Bücher und Schallplatten in Ostberlin gekauft. Die Schallplatten kaufen wir an einem Plattenladen indirekter Nähe zum Alexanderplatz. Ich kaufte mir unter anderem eine Platte mit sibirische Volksmusik, eine Doppel LP mit Beiträgen für das Festival des politischen Liedes, sowie eine LP mit Vogelstimmen. An Büchern kaufte ich von Marx die „Kritik der politischen Ökonomie“, von Engels „Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen“, ein Buch über die Krakauer Avandgarde mit dem Titel „Der Mensch in den Dingen“ und eine Sammlung mit Stücken von John Paul Satre, erschienen bei Reclam Leipzig. Das restliche Geld brachten wir in einer Kneipe durch.
      Als wir nun stark betrunken am Grenzübergang Bornholmer Straße eintrafen, mussten wir noch über den Mauerstreifen und durch die Grenzkontrolle. Es war längst dunkel zu der Uhrzeit, nach 21 Uhr. Die Scheinwerfer an den Grenzanlagen wirkten wirklich bedrohlich. Das künstliche Licht blendete wie ein Blick ins Flutlicht auf dem heimischen Grandplatz. Von der Farbe Grau-Schwarz passte es auch. Überall hingen Unmengen an nagelneuem Stacheldraht.
      Unter freiem Himmel mit viel Flutlicht mussten wir erst den Fußweg über den Grenzstreifen nehmen. Rechts neben uns stand einer dieser typischen Wachtürme. Plötzlich kam ein uniformierter Grenzsoldat ans Geländer des Wachturms gestürzt, anscheinend ein Offizier in seiner grauen Uniform der Grenzarmee mit einer grauen schachtelartigen Militärmütze. Allein das war schon traumatisch. Jetzt fing dieser wichtige und übergewichtige fleischige Typ mit seinem hochroten Kopf auch noch an uns von oben herab auszuschimpfen:
     „"Wie lauft ihr denn überhaupt herum. Könnt ihr euch keine anständige Kleidung leisten? Und so betretet ihr die Deutsche Demokratische Republik?“
Besoffen wie ich war, gab ich ihm gleich Kontra.
„      "Was beleidigen sie uns denn so? Meinen Sie mit ihrer alten Uniform sehen viel besser aus?“,
schrie ich mutig die zehn Meter zu dem aufgedunsenen Uniformträger hoch. Da packte Zosch mich gleich am Ärmel und zog mich weg vom Ort des Wortgefechts, zog mich weiter in Richtung der anstehenden Grenzkontrolle. Der Wachsoldat auf seinem Betonwachtturm rief uns noch irgendwas hinterher, wahrscheinlich irgendeinen Fluch. Schweigsam und in fast panische Angst gelangten wir zur Grenzkontrolle, die in einem kleinen Pavillon stattfand. Wir hatten panische Angst da wir pro Person Waren im Wert von über 100 DDR-Mark bei uns trugen. Steff sagte noch
     „"Oh Gott, das checken die, dass das mehr als der Zwangsumtausch ist.“
      Wir drei überlegten kurz, die Einkaufstüten einfach irgendwo auf dem Todesstreifen abzustellen. Doch beim Grenzsoldaten mussten wir lediglich unsere Reisepässe vorzeigen. Der junge Uniformierte schien sogar ein wenig erheitert, als hätte er den Terz gerade eben mit seinem Dienstkameraden mitbekommen. Er sah oder roch sicherlich, dass wir betrunken waren, denn wir hatten eine ziemliche Alkoholfahne. Ohne weitere Umstände durften wir passieren, eierten aus dem Kontrollpavillon und befanden uns mit dem nächsten Schritt in Westberlin, im Bezirk Wedding.
      Als wir jetzt durch den Wedding liefen, auch durch die die Müllerstraße, sahen wir in den Schaufenstern der TV-Händler auf den unzähligen Bildschirmen überall das Konterfei von Erich Honecker.
      „"Guck mal, auf allen Bildschirmen ist Honecker zu sehen. Da muss irgendetwas passiert sein.“
      „"Oh, ist Honecker Tod?“
Später checkten wir, dass Honecker an diesem Tag zurückgetreten war.
     Auch in der Folgezeit sammelten wir weitere beklemmende Eindrücke aus der geteilten Stadt. Mit das schrecklichste in Berlin waren die Geisterbahnhöfe, die einige U-Bahnen während der Fahrt immer wieder passierten. Das waren U-Bahnhöfe, die aufgrund der Teilung der Stadt nicht angefahren werden durften. Hier zischte die U-Bahn einfach durch. Diese verlassene Bahnhöfe wirken grau und verstaubt und irgendwie ausgestorben. Sogar die alten Schilder waren abmontiert oder schimmerten durch Dreck. Es brannte aber immer noch so viel Licht, dass du den Bahnhof überblicken konntest.
      Groß waren immer die Momente, wenn vorbestellte Konzert-Tickets aus dem Umschlag geholt wurden und an die anderen verteilt wurden. So war es auch mit unseren Bad Brains -Tickets.
      Das Konzert sollte im Metropol am Nöllendorfplatz stattfinden. Das Konzert fand genau einen Tag nach dem Honnecker-Rücktritt statt, der von seinem Nachfolge Kreuz als DDR-Staatschef abgelöst wurdet. Die Vorband Jingo De Lunch aus Berlin galt zu der Zeit als beste deutsche Punkband. Die Sängerin sang Englisch. Der Saal bebte. Wir kannten die erste LP bereits. Jetzt sahen wir sie live und es haute uns um.
Als plötzlich der Massen-Pogo beim Bad Brains-Konzert losbrach, hatten alle im Pogo-Pulk einen freien Oberkörper. Und das im Oktober. Es ging so krass ab wie wir es von Aufnahmen von den derbsten Hardcore Veranstaltungen aus den USA kannten mit Stagediving, Crowdsurfing und krassen Pogo-Mob. Wir waren halt in Berlin und nicht in Kiel.
Als schließlich der Song “Sailing on“ lief, brachen alle Dämme und der Massen-Pogo eskalierte. Da stürzte auch ich in den Massenpogo und trug dabei noch meine enge Lederjacke. Als ich mich rücksichtslos in den Pogo-Mob stürzte, poste ich wie ein Irrer, wurde mit der Pogo-Meute getrieben, bis ich ein paar Songs später wieder bei meinen zwei Kumpels landete, die auf der linken Seite am Rande des Pulks standen. Das reichte mir auch an Pogo für den Abend. Ich war erschöpft genug und eh nur ein Pseudo. Und ich fühlte mich wie nach einem 500-Meter-Sprint unter Doping-Einfluss. Das Konzert war atemberaubend. Später behauptete ein Berliner Punk mir gegenüber, dass der standardmäßige Sänger der Bad Brains HR an diesem Tag krank war und ein Ersatzsänger einspringen musste. Die Behauptungen konnten wir bis auf den heutigen Tag nicht eindeutig klären.
      Als wir am nächsten Morgen bei Zosch frühstücken, der Rote hatte extra eine große Tüte voll Brötchen besorgt, schalteten wir einen lokalen Fernsehsender ein, sowas wie TV-Berlin oder was auch immer. Plötzlich lief ein Bericht über das Jingo de Lunch und Bad Brains Konzert vom Vorabend. Wir waren schier außer uns, als wir einen Kameraschwenk von schräg oben durch das gesamte Metropol sahen, bis die Kamera  plötzlich das Zentrum des Pogos fokussierte. Genau in diesem Moment sahen wir wie eine Person mit einem kurzen, breiten Iro und einer Lederjacke in den Pogo-Mob stürmte, bei dem alle einen freien Oberkörper trugen. Der Punk in der Lederjacke bockte auf seinen Vordermann auf. Da war uns klar, dass der vereinzelte Lederjackenträger im Pulk nur ich gewesen sein konnte. Ich war mächtig stolz und fühlte mich für ein paar Augenblicke nicht mehr als Pseudo. 
      „"Das in der Lederjacke da ist Shelter. Siehst du ihn?“
      „"Ja, das bin ich. Supergeil.“
Wir freuten uns mal wieder wie die Schneekönige, dass unser Konzertbesuch obendrein im westberliner Regionalfernsehen dokumentiert war, und dass wir mich dort im Pogo-Mob identifizierten.
      Wir soffen bei Zosch die Tage wie die Wahnsinnigen, hatten wie gewohnt Wodka und Bier am Start. Zosch trank auch Cidre. Als wir abends noch los wollten, stellte ich die leere Wodkaflasche auf ein Regal oberhalb seiner Matratze die auf dem Boden lag. Ich stellte die Wodkaflasche so auf den Rand des Regals, dass fast 50% der Standfläche über die Kante des Regals hinausragten, sodass sie sicher bald herunter gepurzelt wäre, wenn wir weiterhin laute Musik gehört hätten. Ich hatte halt zu der Zeit sehr viel Unfug im Kopf. Wir hörten an dem Abend Bands wie Thatcher on Acid und Chumbawamba, aber auch ruhige Sachen wie Nikki Sudden & Rowland S. Howard mit Kiss You Kidnapped Charabanc sowie eine LP der 10,000 Maniacs, auf die Bosch so abfuhr. Er war halt interllecktuell.
      Schließlich wollten wir auf unseren Berlin Trip noch zum Wannsee fahren. Ein Spaziergang im Strandbereich des Sees stand auf dem Plan,  zumal der See im Südwesten Berlins in den 80ern vor allem durch den Kult-Film „Am Wannsee ist der Teufel“ bekannt geworden war. In dem Film spielte sogar ein kleines Grüppchen Punks mit, die in vertrauter Weise punk-style berlinerten. Deshalb wollten wir auch mal zum Wannsee, obwohl wir bereits Oktober hatten.
      Zu der Zeit war das S-Bahn surfen in aller Munde. Es gab wieder und wieder Fernsehberichte über die Waghalsigkeit und Todesfälle durchs S- und U-Bahnsurfen, und es wurde eindringlich davor gewarnt. Es war eine lebensgefährlicher, weltweiter Trend, der in kurzer Zeit unzählige Todesopfer gefordert hatte. Automatisch unterhielten wir uns auf der Fahrt über diesen gefährlichen Trend des S-Bahnsurfens, bis ich plötzlich mal wieder einen Ausraster hatte und zur nächsten Tür des S-Bahnwaggons rannte.
Zosch schrie noch
      „"Hör auf. Bloß nicht!“
Doch da riss ich bereits die Tür auf, während die Bahn mit Hochgeschwindigkeit immer geradeaus fuhr. Ich lehnte mich rückwärts aus dem Wagon und hielt mich an den Außengriffen der zwei Schiebetüren fest. Selbst das hätte schon schlimm enden können, denn ich konnte die Kräfte nicht einschätzen, die dort wirkten. Meine Surfaktion war natürlich nicht so spektakulär und waghalsig, wie man jetzt denken könnte. Ich kletterte natürlich nicht am Außengehäuse der S-Bahn entlang, wie die Hardcore-S-Bahnsurfer es taten, die sich im Extremfall iin gehockter Position am Rahmen eines aufgeklappten Seitenfensters festhielten und so seitlich am Wagon über längere Strecken mitfuhren und im Extremfall auch aufs Dach der S-Bahn kletterten. Sie schlossen auch die Schiebetüren von außen, sodass die beiden Schiebegriffe direkt nebeneinander lagen. Da brauchte nur eine Brücke oder ein Tunnel zu kommen oder eine entgegenkommende Bahn, um das Surfen mit dem Exitus zu beenden. Es wurde immer wieder in kurzen Zeitungsberichten über die vielen Todesfälle berichtet. Es war ein gefährliches Metier, dass den jungen Leuten Spaß brachte. Die Leute kamen teils aus der Hardcore-Szene, teils aus dem Hip-Hop und Grafitti-Bereich. Viele verloren einfach den Halt, überschätzten sich oder rutschten ab. Oder die greifenden Hände hielten die Kräfte nicht aus. Diese Gefahr spürte auch ich, als ich mich die paar Sekunden rückwärts aus der geöffneten Tür des S-Bahnwagon lehnte. Ich stand mit der Sohle der Boots halb auf dem Eingangstrittbrett wie auf einem Kantstein. Doch es gab unkalkulierbare Kräfte, und es bestand die Gefahr, dass sich die Tür während der Fahrt bei einem Ruckeln oder bei plötzlichen Geschwindigkeitsveränderung schloss, während ich draußen baumelte, oder dass ich mit den Boots abrutschte. Außerdem wirkte meine enge Lederjacke für solche Wagnisse ungeeignet, ebenso wie meine schwarzen Doc Martens 8-Loch mit relativ glatter Sohle. Turnschuhe wären einfach das bessere Schuhwerk fürs S-Bahnsurfen.  Das erkannte ich sofort. Aber ich lehnte mich ja lediglich aus der geöffneten Tür und genoss den Fahrtwind und den Kick. Ich bekam eine Sturmfrisur.
Meine zwei Kumpels flippten fast aus und schrien laut
      „"Bist du wahnsinnig? Komm von der Tür weg.“
      „"Komm wieder rein!“
Das beherzigte ich sogleich und hiefte mich wieder in den Wagon, was gar nicht so einfach war. Ich zog die Schiebetür hinter mir zu, was sonst erst nach Verlassen der nächsten Haltestelle automatisch geschehen wäre. Meine zwei Kumpels redeten pädagogisch auf mich ein.
      „"Das machst du aber nie wieder. Das ist einfach zu gefährlich.“
Ich sah ein, dass das vollkommen idiotisch von mir war. Der Vorfall ereignete sich auf der langen Strecke der S-Bahn zwischen Grunewald und Nikolassee, wo die S-Bahn kilometerweit geradeaus durch begrünte Bereiche fuhr. Meine Kumpels waren beunruhigt. Sie sahen sich bestätigt, dass es in mir nicht richtig tickte. Das war auch zu krass von mir. Das muss ich ehrlich zugeben. Ich wusste wieder mal nicht, was mich da geritten hatte. Deshalb an dieser Stelle mein dringlicher Appell an meine Leser*innen, diesen Wahnsinn nicht nachzuahmen.
      Hier im Wedding aß ich zum ersten Mal in meinem Leben eine Falafel, in einem arabischen Imbiss in der Utrechterstrada. Ansonsten tanzten wir die Nächte im Trash in Kreuzberg, wir tanzten im Rocket in Neukölln. Überall wurde der neue Song von Abwärts „Alkohol“ gespielt, ebenso Songs von der zweiten Bad Brains, Sachen von Fugazi, meistens “Waiting Room“ und Bad Religion. Wir tranken Kaffee im Tax Moon und im Schwarzen Café. Wir flipperten irgendwo und spielten Billard. Wir hatten ein paar geile Tage.
Am letzten Abend, bevor Steff und ich wieder mit der Mitfahrzentrale nach Kiel fuhren, nahm ich mit Zoschs Radiorekorder eine Sendung der John Peel Show auf, die in ganz Berlin ohne Rauschen zu empfangen war. Ich weiß bis auf den heutigen Tag nicht, ob die Sendung im Westen ausgestrahlt wurde, also vom BFBS, oder im Osten von Radio DT-64. Ich habe die Aufnahme noch in einem großen Karton voll mit John-Peel Radio-Mitschnitten. Wir kamen komplikationslos durch die Grenzkontrollen und über die Transitstrecke.